Einige Mitglieder aus dem Gesprächskreis Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben ein Papier zur Kritik an der NATO geschrieben – getarnt als Beitrag zur Debatte um den Russland-Ukraine-Krieg. So richtig die vorgetragene Kritik an der NATO in vielen Punkten auch sein mag, besticht das Papier vor allem durch zwei ganz große Leerstellen.
Leerstelle Nr. 1: Russland als Akteur
Zum einen kommt Russland als eigenständiger Akteur im Text gar nicht vor. Russland handelt hier immer nur reaktiv. «Russland folgt dem nun…»; Russland sichere sich vor einer «endgültigen Umzingelung»; Russland habe «Ängste» und Putin «Befürchtungen». Das Papier gipfelt in dem Satz: «In allen Reden, Stellungnahmen und militärischen Aktionen ist jedoch nur ein Kriegsziel zu erkennen: die Sicherung Russlands vor der endgültigen Umzingelung mit NATO-Stützpunkten.»
Jan van Aken, promovierter Biologe, arbeitete als Gentechnikexperte für Greenpeace und von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Zwischen 2009 und 2017 war er Abgeordneter der Linksfraktion im Bundestag. Heute arbeitet er als Referent für internationale Krisen und Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die geneigte Leserin reibt sich verwundert die Augen: Haben die Autor*innen weggehört, als der Kreml von «Entnazifizierung» als Kriegsziel gesprochen hat? Was ist mit den Papieren und Reden Putins vom Großrussischen Reich? Die Autor*innen weisen den Begriff des «russischen Imperialismus» mehrfach zurück – ohne auch nur ein Wort der Begründung, was denn an den militärischen Aggressionen Russlands in Tschetschenien, Georgien oder der Ukraine nicht imperialistisch sein sollte.
Wer aber einen Angriffskrieg in eine reine Selbstverteidigung umdefiniert, redet allen internationalen Militär-Aggressionen das Wort. Mit genau der gleichen Logik hatte übrigens die US-Regierung 2003 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak begründet, als Schutz vor angeblichen irakischen Biowaffen. Und Deutschland den Militäreinsatz in Afghanistan mit der Behauptung, die deutsche Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt. Damals haben wir diese Begründungen als vorgeschoben und verlogen zurückgewiesen – und das zu Recht. Denn eine Aggression bleibt eine Aggression, ein Überfall bleibt ein Überfall, auch wenn der Angreifer den Angriff Selbstverteidigung nennt. Was ist das bloß für ein Gesprächskreis, der das Wort «Frieden» im Namen trägt, aber nur deutsche und US-amerikanische Aggressionen erkennt, nicht aber eine russische?
Leerstelle Nr. 2: Die Menschen in der Ukraine
Die zweite große Leerstelle sind die Menschen in der Ukraine. Sie werden derzeit überfallen, vertrieben, vergewaltigt und getötet. Sie verlieren gerade alles, was sie haben. Als Linker stehe ich immer an der Seite der Ausgebeuteten, Unterdrückten und Überfallenen. Im Moment heißt das auch: an der Seite der Menschen in der Ukraine. Wer diesen Kompass verliert, wer nur noch in Weltpolitik denkt und nur noch die NATO sieht, dabei aber die Menschen vergisst, der hat jegliche politische Orientierung verloren. Das aber ist dem Papier in jeder einzelnen Zeile anzumerken. Die Autor*innen nennen es «kühlen Kopf». Ich nenne es kaltherzig.
Gleich im zweiten Absatz wird ein Text zitiert, in dem es allen Ernstes heißt: «Es war der Westen, der unmittelbar nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation Krieg wieder zu einem ‹normalen Mittel› der internationalen Politik gemacht hat. Russland folgt dem nun, mit über zwanzigjährigem Abstand.» Russland folgt, mit 20 Jahren Abstand? War denn Tschetschenien etwa kein Krieg? Da wird Geschichte komplett ausgeblendet, weil sie nicht ins Weltbild passt. Die Erzählung lautet, dass Russland eigentlich friedlich sei, die NATO aber so aggressiv, dass Russland folgen müsse. Da ist kein Platz für gemordete Tschetschen*innen. Linke Friedenspolitik sollte aber solidarisch mit allen Opfern sein – Menschenrechte sind unteilbar oder sie sind gar nicht.
Zur Frage der Friedensverhandlungen im Russland-Ukraine-Krieg (oder, wie die Autor*innen aus dem Gesprächskreis wahrscheinlich sagen würden: der NATO-Russland-Krieg): Die Autor*innen stellen fest, dass die Ukraine derzeit keine Verhandlungen möchte. Das ist insofern richtig, als es auch die Ukraine ist, die nicht verhandeln möchte. Russland fehlt hier als eigenständiger Akteur, wie durchgängig in dem Papier. Aber ja, es stimmt, dass die Ukraine beständig Vorbedingungen für Friedensverhandlungen formuliert. Und wer Vorbedingungen formuliert, der möchte keine Verhandlungen – das gilt nicht nur hier, sondern für alle Kriege und Konflikte. Der Abzug aller russischen Truppen aus dem Territorium der Ukraine kann (und sollte) ein Ergebnis von Verhandlungen sein. So richtig die Forderung ist und so sehr ich sie unterstütze: Auch Kiew weiß, dass es nicht zu Verhandlungen kommen wird, solange dies als Vorbedingung genannt wird.
Diese Tatsache lässt sich feststellen, ohne dann gleich noch eine Unwahrheit draufzusatteln. Das Papier aus dem Gesprächskreis behauptet, dass Präsident Wolodymyr Selenskyi im Oktober 2022 ein Dekret erlassen habe, «mit dem alle Verhandlungen in der Ukraine mit dem russischen Präsidenten Putin verboten wurden.» Das wird zwar häufiger in Deutschland behauptet, ist aber nachweislich falsch. Der genaue Wortlaut des angesprochenen Dekrets lautet auf Ukrainisch:
«Констатувати неможливість проведення переговорів з Президентом Російської Федерації В.Путіним.» (Quelle: Website des Präsidenten der Ukraine)
Ins Deutsche übersetzt wird damit festgestellt, dass Gespräche mit Putin unmöglich sind. Von einem Verbot ist hier nicht die Rede. Insofern gibt es in der Ukraine, anders als gern behauptet, keinerlei rechtliche Hürden für Verhandlungen.
Diffamierung statt Diskussionskultur
Das Hauptziel des Papiers scheint es zu sein, jeglichen differenzierten Blick auf den Russland-Ukraine-Krieg als Kriegstreiberei zu diffamieren. Immer wieder werden Pappkameraden aufgebaut, um sich dann an ihnen abzuarbeiten. Mit der Realität hat das mitunter wenig zu tun, Belege gibt es auch nicht. So wird mal so eben behauptet, auch Linke würden «aus der ehemals als Kriegsallianz charakterisierten NATO ein progressives Bündnis zur Verteidigung des Völkerrechts» machen.
Wie bitte? Ich kenne keinen einzigen Linken, die oder der die NATO «progressiv» oder «Verteidigerin des Völkerrechts» nennen würde. Die NATO ist und bleibt abzulehnen, sie ist keine Wertegemeinschaft, sondern ein Bündnis zur Durchsetzung eigener Machtansprüche, zur Not auch mit militärischen Mitteln und gegen jedes Völkerrecht. Das dröhnende Schweigen der NATO zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des NATO-Mitglieds Türkei in Nordsyrien sagt alles.
Und ja, es gibt auch in der Linken die Position, jetzt nochmal neu über die NATO nachzudenken. Es gibt bei einigen Verständnis für die Zustimmung der finnischen Linken zum NATO-Beitritt des Landes. Aber jetzt so zu tun, als ob auch nur eine einzige Linke die NATO als progressiv abfeiern würde, ist infam und hat mit solidarischer Diskussionskultur nichts mehr zu tun.
Genauso infam ist die Behauptung, dass «von links kommende Waffenlieferungs- und NATO-Befürworter*innen» Sicherheit nur noch in «Konzepten der Abschreckung» denken würden. Wer, bitte sehr, tut das? Ich selbst bin aus guten Gründen gegen Waffenlieferungen – aber einfach ist diese Frage keineswegs. Und ich kenne sehr viele Linke, die mit ihrer Position hadern – ob nun für oder gegen Waffenlieferungen oder irgendwie dazwischen. Es ist ein absoluter Tiefpunkt linker Debattenkultur, diese Menschen als Abschreckungsbefürworter*innen zu diffamieren, die «Frieden als Politikziel nicht mehr zu kennen» scheinen.
Liebe Autor*innen aus dem Gesprächskreis: Ich teile eure Kritik an der NATO. Eure Analyse der US-amerikanischen Hegemoniebestrebungen trifft in vielen Teilen zu. Auch bin ich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Und ja, es braucht langfristig wieder Ideen für kooperative Sicherheit in Europa.
Aber wer die Menschen in der Ukraine vollkommen aus dem Auge verliert, wer keinen eigenen konstruktiven Vorschlag für Friedensverhandlungen jenseits völliger Selbstaufgabe der Ukraine macht, wer Russland nur als Opfer in Selbstverteidigung sieht und wer jede Position jenseits der eigenen als Kriegstreiberei diffamiert, dem ist politisch nicht mehr zu helfen.