Nachricht | Brasilien / Paraguay - Gesellschaftstheorie Brasiliens evangelikale Kirchen und ihr Einfluss auf die Politik

Einst eine Randgruppe, hat sich die Pfingstbewegung zu einer entscheidenden Kraft im Lande entwickelt

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Autorin

Delana Corazza,

Millionen von evangelikalen Christen demonstrieren am 8. Juni 2023 beim ersten Marsch für Jesus in São Paulo, Brasilien.
Millionen von evangelikalen Christen demonstrieren am 8. Juni 2023 beim ersten «Marsch für Jesus» in São Paulo, Brasilien. Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Derzeit gelingt es in Brasilien kaum einer gesellschaftlichen Strömung so viele Menschen auf die Straße zu bringen wie den Evangelikalen. Auch in diesem Jahr versammelten sich in den meisten Großstädten des Landes Tausende Frei- und Pfingstkirchler*innen zum «Marsch für Jesus» (Marcha para Jesus). Dieser größte evangelikale Umzug Brasiliens steht sinnbildlich für den gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs von Pfingst- und Freikirchen in den letzten drei Jahrzehnten. Dabei wächst auch ihr Einfluss weit über die Kirchen hinaus, was tiefgreifende politische und kulturelle Folgen mit sich bringt.

Delana Corazza forscht über die Pfingstbewegung am Tricontinental Institute for Social Research in Brasilien.

Übersetzung: Mario Schenk

Der «Marsch für Jesus»

Seit 30 Jahren findet alljährlich der evangelikale Umzug statt, nachdem der Kopf der Pfingstkirche «Renascer em Cristo» (Wiedergeburt in Christus), Estevam Hernandes, 1993 zum ersten «Marsch für Jesus» aufgerufen hatte. Bereits im Jahr 2009 nahm der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003 – 2011) von der Arbeiter*innenpartei (PT) den «Marsch» in die Liste der offiziellen Festtage des Landes auf. Hauptsächlich von christlichen Freikirchler*innen und Pfingstler*innen besucht, waren die traditionellen christlichen Moralvorstellungen auch das Haupthema. Dazu zählen die Verteidigung der Kleinfamilie gegen alternative Lebensmodelle sowie der Kampf gegen die Legalisierung von Abtreibungen. Zwar ist die offizielle Zahl der Teilnehmer*innen beim vergangenen «Marsch für Jesus» im Juni 2023 im Zentrum der Millionenmetropole São Paulo umstritten – die Veranstalter*innen sprechen von zwei Millionen Personen, die Polizei geht von 300.000 aus. Doch unabhängig davon lässt sich die wachsende Bedeutung der Evangelikalen von keiner politischen Seite mehr ignorieren.

Evangelikale werden 2030 die Hälfte der Bevölkerung ausmachen

Bemerkenswert ist vor allem der rasche Mitgliedergewinn dieser Glaubensgruppen. Noch im Jahr 1990 besuchten laut dem nationalen Statistischen Bundesamt (IBGE) gerade einmal neun Prozent der Bevölkerung Pfingstkirchen, wohingegen ihre Zahl im Jahr 2000 auf 15,4 Prozent und in 2010 auf 22,2 stieg. Die Regierung von Jair Bolsonaro setzte den Zensus von 2020 zwar aus, doch laut Daten des Forschungsinstituts Datafolha gehörten 31 Prozent der Bevölkerung evangelikalen Kirchen an. Eine weitere Erkenntnis von Datafolha war die Zusammensetzung der Gläubigen, die vor allem weiblich, Schwarz und einkommensschwach sind.

Der Demographieforscher und Studienleiter am IBGE, José Eustáquio Diniz, hat prognostiziert, dass die Evangelikalen im Jahr 2030 die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ausmachen werden. Ihr Wachstum lasse sich darauf zurückführen, dass die meisten Gläubigen nicht Mitglied einer großen Kirche oder Gemeinde sind. Vielmehr besuchen sie kleine Kirchen inmitten der peripheren und armen Stadtviertel. Die meisten dieser Kirchen werden buchstäblich von einem Tag auf den anderen in den Garagen oder Hinterhöfen einfacher Kirchenmitglieder eröffnet. Schätzungsweise 17 evangelikale Kirchen pro Tag wurden im Jahr 2019 in Brasilien laut einer Studie des Zentrums für Metropolenstudien der Universität von São Paulo (USP) eröffnet. Dies ist unter anderem auf eine gewisse Flexibilisierung in der Ausbildung ihrer Pastor*innen zurückzuführen. Während die evangelisch-lutherische Kirche und andere traditionellere Konfessionsgruppen verlangen, dass ihre Prediger*innen jahrelang Theologie studieren, hindert einen unzufriedenen Pfingstgläubigen nichts daran, in der Garage seines Hauses selbst eine Kirche zu eröffnen.

Vom «Arbeiter» zum «Glaubensbruder»

Die Ursachen für diese Bewegung sind vielschichtig, aber eine davon kann auf den Aufschwung des Neoliberalismus in den 1990er Jahren zurückgeführt werden, dessen verheerende Auswirkungen besonders die verarmte Arbeiter*innenklasse zu spüren bekam. Die Umstrukturierung der Arbeitswelt führte zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu sozialer Unsicherheit mit weitreichenden Folgen: Armut und Gewalt greifen um sich und machen das Leben für viele Menschen am Rande der Gesellschaft zur täglichen Herausforderung. Ohne eine geregelte Arbeit und ausreichend psychosoziale Unterstützung finden sie in den Freikirchen allgemeine als auch individuelle Antworten auf ihre Sorgen und Ängste. Hierbei vollzieht sich ein bemerkenswerter Wandel. Bedroht von existenziellen Nöten wie Hunger, Obdach- und Arbeitslosigkeit weicht die bisherige Identität der «Arbeiter*in» einer Klasse allmählich der Identität eines «Bruders» oder einer «Schwester» im Glauben. Diese Transformation geschieht nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern verändert ganze Viertel. Nicht selten berichten diese «Glaubensbrüder und -schwestern», wie sie sich innerhalb der Kirche und auf Basis strenger Sittsamkeit neu erfanden und damit ihrem Leben eine neue Richtung und Bedeutung gegeben haben. In den Armenvierteln und Vororten entsteht sogar eine neue Ästhetik: Psalme und Bibelzitate zieren die Wände von Wohnhäusern und Geschäften, kleine Kirchen entwickeln sich zu Gemeindezentren, d.h. zu einem sicheren Ort des Austauschs und der Zugehörigkeit in einer Umgebung, die von Verlusten geprägt ist.

Die Glaubensgemeinschaften spielen zudem eine entscheidende Rolle bei der Arbeitsvermittlung und beruflichen Weiterbildung. Gläubige kommen durch Empfehlungen ihrer «Kirchenbrüder» wieder zu Arbeit. Diese in Brasilien ohnehin gängige Praxis der «Empfehlung» wird in gläubigen Kreisen durch die Annahme unterstützt, dass der oder die Gläubige ruhiger und gehorsamer ist, nicht trinkt und keinem Laster anhängt. Ferner finden viele Analphabet*innen den Ansporn, Lesen zu lernen, um ihre Bibelkenntnisse zu vertiefen. Jugendliche, die trotz Schulabschluss keine Beschäftigung finden, organisieren sich in den Gemeinden, um ein Musikinstrument zu lernen und präsentieren die neu erworbene Fähigkeit in den Gottesdiensten. Frauen, die in Reichenvierteln als Hausangestellte arbeiten, werden in ihren Kirchen zu Pastorinnen oder Sängerinnen. In einem Land, das vom strukturellen Erbe der Sklaverei geprägt ist, hilft dieser transformative Prozess die Würde zu bewahren.

Die Liturgie der Körper

In den meisten Pfingstkirchen wird die Liturgie zu einem Ausdruck des Körpers. Die liturgische Erfahrung dieser Gläubigen geht über die traditionellen Praktiken hinaus. Ohne Vorgaben, aber mit viel Musik und eigenen Worten praktizieren die Gläubigen lebendige Zeremonien außerhalb des institutionellen kirchlichen Rahmens. Besonders die Pfingstevangelikalen haben verstanden, wie sie die Gläubigkeit der Menschen für sich gewinnen. Sie organisieren religiöse Feste und kathartische Momente, die für jene Menschen von großer Bedeutung sind, die in ihrem Leben mit Gewalt und Ausgrenzung konfrontiert sind. Neben Bibelstunden und bedarfsspezifischen Treffen (z.B. für Jugendliche, Senioren*innen oder Suchtgefährdete) finden fast täglich Gottesdienste statt. Die Geschichten und Glaubenserfahrungen, die die Mitglieder hierbei teilen, schaffen affektive und wirksame Beziehungen und ersetzen mitunter familiäre Bindungen, die in einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft immer lockerer werden. In einigen Kirchen gibt es «Zellen», «in denen sich die Gläubigen zu Hause treffen, um sowohl neue Mitglieder für die Kirche zu gewinnen als auch junge Führungskräfte zu fördern. In der Praxis agieren diese ‹Zellen› als eine Art kleine häusliche Kirche, aus denen wiederum neue ‹Zellen› entstehen sollen.»

Theologie des Wohlstands

Im prekären Alltag der Arbeiter*innenklasse der Peripherie der Städte finden die Kirchen ihren Nährboden und bieten den Gläubigen eine besondere Hoffnung: das Versprechen, Wohlstand noch in diesem Leben zu finden. Während viele christliche Gemeinschaften den Glauben als Weg zur Erlösung im Jenseits betrachten, versprechen die evangelikalen Kirchen Glück und Erfolg bereits auf Erden. Dieser Glaubenssatz spricht vor allem Menschen an, die in Armut leben und keine Aussicht auf ein besseres Leben haben. Dieser Glaubenssatz, bekannt als Wohlstandstheologie oder auch Wohlstandsevangelium, lässt sich als bewusste Entscheidung der Gläubigen verstehen, bereits im Diesseits individuelle Erfolge zu erfahren. Dies hat Folgen für das alltägliche Handeln: Je mehr Glaube, je mehr Opfer und Disziplin, desto mehr Segnungen wird die oder der Einzelne in Gesundheit, Arbeit oder materiellen Gütern erleben. Wohlstand wird damit nicht nur zu einer Möglichkeit, sondern zu einer logischen Folge des persönlichen Einsatzes für eine göttliche Aufgabe. Die Prediger*innen der Pfingstkirchen haben dies gut kalkuliert.

Evangelikale in der Politik

Die Konsequenzen des evangelikalen Bedeutungszuwachses erstreckten sich auch auf den institutionell-politischen Bereich. Spätestens ab den 1980er Jahren veränderte sich die Haltung der evangelikalen Gemeinschaft in Brasilien gegenüber der Politik. Die bis dahin gültige Überzeugung «Evangelikale mischen sich nicht in die Politik ein» machte keinen Sinn mehr. Bereits in den 1970er Jahren war eine Annäherung der konservativen Evangelikalen an die zivil-militärische Diktatur (1964 – 1985) zu beobachten. Zeitungen, die den Baptistenkirchen und den «Assembleias de Deus» (etwa Versammlungen Gottes), einer Gruppe pfingstlerischer Konfessionen, nahestanden, begannen, in politischen Fragen öffentlich Stellung zu beziehen, wenn auch gegen einigen Widerstand ihrer Mitglieder. Die Themen reichten von den hedonistischen Ausschweifungen des brasilianischen Karnevals über die Debatte zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika bis hin zur Auseinandersetzung mit der Ökumene oder dem religiösen Liberalismus». Sogar geopolitische Fragen, wie die Beziehungen der USA zur Sowjetunion, Kuba und China, griffen Evangelikale nun auf.

«Ein Bruder stimmt für den Bruder»

Der Einstieg in die brasilianische Politik fußt auf der Prämisse «ein Bruder stimmt für den Bruder» und ging Hand in Hand mit der Re-Demokratisierung, die das Land in den 1980er Jahren durchlebte. Hierbei beanspruchten evangelikale Kirchen mehr politischen Einfluss und forderten die Macht der katholischen Kirche auf institutioneller Ebene heraus, die diese seit der Kolonialzeit innehatte. Der politische Protestantismus in Brasilien startete demnach mit einer anti-katholischen Ausrichtung. Ferner setzten sich die Evangelikalen zwar vehement für einen säkularen Staat ein, jedoch mehr in dem Sinne, dass sie mit den Katholik*innen um die vom Staat gewährten Privilegien wetteiferten, als dass sie eine religiöse Enthaltung des Staates anstrebten. Gleichwohl sich progressive Protestant*innen an der Politisierung der Gemeinden beteiligten, wurde diese hauptsächlich von konservativen Kräften vorangetrieben. Dies legte den Grundstein einer neuen christlichen Rechten, die sich in den letzten zehn Jahren zu einer großen politischen Kraft in Lateinamerika entwickelt hat, insbesondere in Brasilien.

Befreiungstheologie

Diese Entwicklungen waren keineswegs zufällig. Auf dem Land und in der Peripherie der Großstädte erlebte Brasilien in den 1970er Jahren den Aufstieg der Befreiungstheologie. Diese religiöse Bewegung wurde von Christ*innen unterschiedlicher Milieus getragen und entstand als Antwort auf vor allem ländliche Basisbewegungen in Lateinamerika, die sich in Zeiten der Industrialisierung herausbildeten. In Brasilien trieb diese die bäuerliche Bevölkerung massenhaft in die Proletarisierung und vertiefte die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten noch weiter. Die Befreiungstheologie versuchte die sozio-ökonomische Lage der von Ungleichheit betroffenen Menschen zu verbessern und leitete eine theologische Wende ein. Von dieser übernahmen nun die Pfingstler*innen die Auslegung, dass Glück im hiesigen Leben möglich ist. Sie ignorierten dabei jedoch den Grundsatz, dass dieses Glück auf sozialer Gerechtigkeit und dem Kollektiv gründete. Zugleich führten die US-Regierungen zusammen mit der christlichen Rechten und dem konservativen Katholizismus in der Person von Papst Johannes Paul II. buchstäblich blutige Aktionen gegen die Befreiungstheologie und ihren Vertreter*innen in Lateinamerika durch. Konservative Kirchen, viele davon fundamentalistisch, erhielten finanzielle Unterstützung von US-Gruppen, um sich auf dem Kontinent zu festigen.

Die Santa Fe-Dokumente

In den 1980er Jahren trafen sich CIA-Agenten in der Stadt Santa Fe, im US-Bundesstaat New Mexico, um Strategien zur Aufrechterhaltung ihrer politischen Dominanz auf dem südamerikanischen Kontinent auszuarbeiten. Ihre Schlussfolgerungen sind in den «Santa Fe-Dokumenten» festgehalten und betonen die Notwendigkeit von «Gegenmaßnahmen: «Die Befreiungstheologie […] ist eine politische Doktrin, getarnt als religiöser Glaube, die sich gegen den Papst und die freie Wirtschaft richtet, um die Unabhängigkeit der freien Gesellschaft gegenüber der staatlichen Kontrolle zu schwächen... hinter diesem kulturellen und religiösen Phänomen verbirgt sich die marxistische Doktrin» (Santa Fè Dokument, 1988).

Konservative Narrative in den USA

Es gibt zwar keine Dokumente, die beweisen, dass es ein von der CIA orchestriertes Projekt gegen die Befreiungstheologie auf brasilianischem Territorium gab. Es gilt aber als gesichert, dass die konservativen Narrative der christlichen Rechte in den USA der 1970er und 80er Jahre den Diskurs ihrer Glaubensgeschwister in Brasilien maßgeblich geprägt haben. Wie in den USA, wo die christliche Rechte durch Aktionen gegen den Feminismus, LGBTiQ*-Rechte und für die Verteidigung einer Familie aus Mann und Frau zum Zweck der Fortpflanzung eine Schlüsselrolle bei der Wiederwahl von Ronald Regan einnahm, folgte der Neo-Konservatismus in Brasilien einem sehr ähnlichen Muster und gipfelte 2018 in der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten (Lacerda, 2019).

Konservative Erzählungen und die Wahl Bolsonaros

Bolsonaro gewann die Wahl mit einem zumindest fragwürdigen Lebenslauf: seine 27-jährige Karriere als Abgeordneter beschränkte sich auf zwei von ihm initiierte Gesetzesvorhaben. Sein Wahlkampf war geprägt von rassistischen, sexistischen und homophoben Äußerungen. Diese überzeugten jedoch 55 Prozent der brasilianischen Wähler*innenschaft in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen. Trotz Aussagen, die im krassen Widerspruch zum Vorbild Jesus‘ stehen – Bolsonaro befürwortete die Folter gegen Andersdenkende und relativierte Vergewaltigungen von Frauen – gingen im Herbst 2018 70 Prozent der evangelikalen Stimmen an Bolsonaro. Dabei hatten während seiner politischen Karriere Fragen der Moral, der Familie oder christliche Werte lange Zeit keine Rolle gespielt. Die Agenda der christlichen Rechten übernahm er erst während der ersten Amtszeit der linken Präsidentin Dilma Rousseffs (2011-2014), als sich der Machtkampf zwischen Linken und Rechten im Land zuspitzte und ein Sieg der politischen Rechten absehbar wurde. Obwohl er sich stets als Katholik bezeichnet hatte, ließ er sich zu diesem Zeitpunkt symbolträchtig im Fluss Jordan in Israel von einem evangelikalen Pfarrer taufen. Seitdem hat Bolsonaro Fragen christlicher Moral zu einem tragenden Pfeiler in seinem Diskurs gemacht. Er rief zur Verteidigung der heterosexuellen Kleinfamilie und zum Widerstand gegen jegliche Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen und Sexualität auf und wetterte gegen Abtreibung. Den Sexualkunde-Unterricht an den Schulen geißelte er als linkes Projekt, das Kinder in Homosexuelle verwandeln würde. Seine Taktik zielte darauf ab, die Bindungen zur evangelikalen Basis zu stärken. Auch wenn sich diese nicht mit den vielen Hassreden identifizieren konnte, teilte sie sein Bild von der Linken als antichristlicher Gruppe und fürchtete die Zerstörung dessen, was sie unter Mühen in den Kirchen (wieder-)erobert hatte: ihre Familie.

Vor allem die Calvinist*innen in Bolsonaros Kabinett prägten die Regierungsarbeit entscheidend mit ihren fundamentalistischen Positionen bezüglich Geschlechterfragen, Sexualität und religiöser Intoleranz. Ihnen unterstanden das Justizministerium (Pastor André Mendonça) und das Bildungsministerium (Pastor Milton Ribeiro). Die baptistische Pastorin Damares Alves, unter Bolsonaro Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, war beliebt unter seinen Anhänger*innen, da sie oft ihre eigene Geschichte von Unterdrückung und geschlechtsspezifischer Gewalt bemühte, sich aber strikt gegen die Geschlechtergleichstellung, gegen sexuelle Aufklärung und gegen sexuelle Freiheiten stellte.

Anti-staatliche Agenda

Anders als die fundamentalistischen Vertreter*innen in Bolsonaros Regierung verhalten sich die evangelikalen Abgeordneten seit Jahren eher opportunistisch. Ihr Abstimmungsverhalten zeigt, dass sie eine linke Regierung unterstützen, um an der Macht beteiligt zu bleiben. Im Jahr 2014 kam es zu einer Annäherung der Evangelikalen an die PT-Regierung, die aber vom Unbehagen bezüglich der Geschlechtergleichheit belegleitet wurde. Insofern ist es für sie bequemer, eine rechte, konservative Regierung zu unterstützen. Darüber hinaus vertreten die Evangelikalen im brasilianischen Kongress eine dezidiert anti-staatliche Agenda. Hier zeigt sich abermals der Einfluss der christlichen Rechten aus den USA, die jede Diskussion über staatliche Maßnahmen als kommunistische Agenda geißeln.

Dabei wird der anti-staatliche Diskurs allenthalben von der kirchlichen Elite überzeugt vertreten. Die Mehrheit der Gläubigen reproduziert diese Position, weil sie in ihren Gemeinden mit diesen Positionen dauerhaft konfrontiert wird und der Vorwurf des korrupten Staates in der brasilianischen Gesellschaft auf ein positives Echo stößt. Ein Minimalstaat, der sich aus den meisten öffentlichen Fragen heraushält, kann wiederum nicht im Interesse der gläubigen Arbeiter*innenklasse sein. Die evangelikale Basis, die Schwarz und verarmt ist, benötigt den Staat, auch wenn sie Misstrauen gegenüber dem öffentlichen Apparat hegt.

Bündnis mit Bolsonaro

Das Bündnis zwischen Bolsonaro und den Evangelikalen war entscheidend für seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Bereits im Wahljahr 2018 hatte sich der «Marsch für Jesus» inmitten einer äußerst polarisierten Stimmung weiter politisiert und dabei einen konservativeren Ton angenommen – nationale statt christliche Symbole prägten den Umzug. Auch bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2022 stimmte die Mehrheit der Evangelikalen für Bolsonaro und gegen den linken Kandidaten, Luiz Inácio Lula da Silva (PT), auch wenn letzterer knapp gewann.Während seiner Amtszeit nahm Bolsonaro als erster Präsident am «Marsch für Jesus» teil und schuf damit als Staatsoberhaupt einen Präzedenzfall, auf den die aktuelle PT-geführte Regierung reagieren musste. Lula, der seine Nicht-Teilnahme während seiner früheren Amtszeiten (2003-2010) nie gerechtfertigt hatte, sah sich dieses Jahr gezwungen, einen offiziellen Brief an den Ausrichter, Estevam Hernandes, zu schicken. Darin erklärte er: «Ich habe den ‚Marsch für Jesus‘ immer bewundert und respektiert und halte ihn für einen außergewöhnlichen Ausdruck des Glaubens unseres Volkes». Lula ließ sich von der Abgeordneten Benedita da Silva und dem Generalbundesanwalt, Jorge Messias, vertreten, der in seiner Rede bei der Erwähnung des Präsidenten von den Gläubigen ausgebuht wurde.

Nach der verlorenen Wahl 2022 hat auch Bolsonaro keine evangelikalen Veranstaltungen mehr besucht.

Viele und Verschiedene

Das Ausmaß des jüngsten «Marsches für Jesus» untermauert die neue Selbstwahrnehmung der Evangelikalen: Wir sind viele und wir wollen gehört werden. Tatsächlich sind es Millionen und sie sind sehr verschieden. Sie sind keineswegs ein geschlossener fundamentalistischer oder konservativer Block. Obwohl sie das institutionelle Feld aus konservativer Sicht besetzen, gehören ihnen auch Progressive an, schließlich machen sie einen großen Teil der Arbeiter*innenklasse aus. Sie sind Viele, konfrontiert mit dem täglichen Widerspruch zwischen soziökonomischer Lage, politischen Anschauungen und ihrem Glauben. Da der Religion große Teile der brasilianischen Bevölkerung offen gegenüberstehen, sollte sie als mobilisierende Identität verstanden werden. Die Bereitschaft zur Teilnahme am größten Event der evangelikalen Kirchen in Brasilien sendet daher eine wichtige Botschaft. Lulas Entscheidung, nicht beim «Marsch für Jesus» teilzunehmen, deutet auf eine gewisse Unbesorgtheit in Bezug auf die Evangelikalen hin. Schließlich könnte dies der Moment eines Dialogversuches zwischen Evangelikalen und Linken sein. Denn die meisten Pfingstler*innen stehen progressiven Themen nach wie vor ablehnend gegenüber und teilen eine anti-linke Rhetorik. Jedes politische Lager, das heute die Kraft der Evangelikalen ignoriert, verpasst die Gelegenheit, einen organisierten Sektor der Gesellschaft zu erreichen, der zunehmend an Einfluss auf die Arbeiter*innenklasse und im institutionellen politischen Feld gewinnt.