Die Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA) ist eine der weniger bekannten Erfolgsgeschichten der europäischen Linken. Auch wenn ihre Spitzenpolitiker*innen nicht so berühmt sind wie Pablo Iglesias, Alexis Tsipras oder Jeremy Corbyn, ist der konsequente Aufstieg der PTB zu einer Volkspartei mit nationalem Einfluss in nur 15 Jahren wohl eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in der Geschichte der linken Parteien des Kontinents.
Marc Botenga ist Mitglied der Partei der Arbeit Belgiens. Seit 2019 sitzt er im Europäischen Parlament als Mitglied der Fraktion DIE LINKE im Europäischen Parliament – GUE/NGL.
Gegründet wurde die Partei Ende der 1960er Jahre von studentischen Aktivist*innen, die von der Politik des Maoismus beeinflusst waren. Im Jahr 2008 schlug sie einen Weg der «Erneuerung» ein, brach mit dem, was sie als «sektiererische Vergangenheit» bezeichnete, und öffnete die Mitgliedschaft für breitere Schichten von Aktivist*innen und Sympathisant*innen. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Partei hat ihre Mitgliederzahl fast verdreißigfacht und kletterte bei nationalen Wahlen in nur einem Jahrzehnt von 0,8 auf 8,6 Prozent. Jüngsten Umfragen zufolge hat die PTB gute Chancen, im nächsten Jahr bei den Wahlen in Brüssel den ersten Platz zu belegen und sich auch im Rest des Landes als eine der wichtigsten Parteien zu etablieren.
Obwohl die PTB kein Mitglied der Partei der Europäischen Linken ist, unterhält sie freundschaftliche Beziehungen zu sozialistischen Parteien auf dem ganzen Kontinent und hat mit Marc Botenga seit 2019 einen Abgeordneten in der Fraktion der Linken im Europäischen Parlament. Loren Balhorn von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit ihm über den Erfolg seiner Partei, die Frage, wie er marxistische Politik mit der eingeschränkten Demokratie der EU vereinbart, und wo er Potenzial für den Aufbau des Klassenkampfes innerhalb und außerhalb der Europäischen Union sieht.
Nachdem Sie einige Jahre als politischer Berater für die Europäische Linke im EU-Parlament tätig waren, sind Sie seit der Wahl 2019 der erste Europaabgeordnete der PTB. Was machen Sie eigentlich als Vertreter einer marxistischen Arbeiterpartei in einem bürgerlichen Parlament mit sehr begrenztem demokratischen Spielraum?
Das ist eine sehr gute Frage, und das sage ich nicht, um Zeit zu gewinnen, wie es Politiker*innen gerne tun. Es ist eine gute Frage, weil ich nicht nur der erste PTB-Abgeordnete, sondern auch der erste belgische Abgeordnete einer radikalen linken Partei überhaupt im Europäischen Parlament bin, was wiederum bedeutet, dass die Linke in Belgien zum allerersten Mal mit dieser Frage konfrontiert ist.
Grundsätzlich glauben wir, dass Veränderungen nicht im Parlament erreicht werden, sondern auf der Straße. Im Parlament sind viele Dinge zu finden, aber Macht gehört im Allgemeinen nicht dazu. Das wirkliche Gleichgewicht der Kräfte wird woanders bestimmt. Das zeigt sich in der gesamten belgischen Geschichte. Man denke nur daran, wie die Sozialversicherung durchgesetzt wurde oder wie Parteien, die nicht an das Wahlrecht glaubten, sich dennoch zu seiner Einführung gezwungen sahen, um aus ihrer Sicht Schlimmeres zu verhindern.
Wir tragen konkrete Anliegen der Arbeiter*innen ins Parlament, aber damit ist es nicht getan. Anschließend gehen wir zurück auf die Straße und versuchen, die Bewegung zu stärken, um die Kräfteverhältnisse außerhalb des Parlaments zu beeinflussen. Wir nennen diesen Ansatz «Straße – Rat – Straße».
Und wie lässt sich das in eine politische Strategie für Europa umsetzen?
Diesen Ansatz verfolgen wir auch im Europäischen Parlament. Nehmen wir den laufenden Arbeitskampf bei der Supermarktkette Delhaize: Wir hatten im Parlament eine Debatte über die Zukunft der EU-Wirtschaft, und ein Redner nach dem anderen sagte, Europa befinde sich auf dem Weg zu einer besseren, wettbewerbsfähigeren Wirtschaft. Ich kam direkt von einer Streikpostenkette bei Delhaize und fragte das Plenum: «Ist das eure neue europäische Wirtschaft? Die Zerstörung von Arbeitnehmerrechten, höhere Preise für die Kund*innen, nahezu keine vernünftigen Verträge und kaum gewerkschaftliche Organisierung? Ist das die Zukunft?» Diese Botschaft der Solidarität erreichte natürlich auch die Leute von Delhaize und stärkte den Kampf.
Europa hat nichts von einem Kalten Krieg, in dem wir in einen US-geführten Block gegen China eingebunden werden oder gegen sonst wen, den die USA nicht mögen.
Aber es gibt noch eine weitere Dimension: Wie lassen sich die sozialen Bewegungen auf europäischer Ebene stärken? Das können wir nicht allein mit nationalen Arbeitskämpfen gewinnen. Natürlich können wir auf nationaler Ebene etwas erreichen, aber auf europäischer Ebene brauchen wir einen europäischen Kampf. Ich behaupte nicht, dass das einfach ist, aber es entwickelt sich in immer mehr Sektoren. Angesichts der Einigkeit des europäischen Kapitals – zumindest bei bestimmten Themen wie der Zerstörung der Arbeitnehmerrechte, der Liberalisierung und der Marktintegration – sehen wir immer mehr Aktionen von Arbeiter*innen auf europäischer Ebene.
Der erste Höhepunkt waren die europäischen Streiks der Hafenarbeiter*innen gegen die Richtlinien zur Liberalisierung in den 2000er Jahren, bei denen sich eine Art Pingpong zwischen nationalen und europäischen Streiks und Mobilisierungen entwickelte. Die Hafenarbeiter*innen streikten nicht einfach überall in Europa – die Gewerkschaften brachten die Arbeiter*innen zusammen, bauten eine europäische Bewegung auf und durchbrachen das Narrativ, demzufolge jeder Hafen mit dem anderen in Konkurrenz stehe. Schließlich konnten sie zwei Richtlinien erfolgreich verhindern und 2015 das Parlament zwingen, der dritten jegliche Tragweite zu nehmen. Nicht schlecht, oder?
Ein weiteres inspirierendes Beispiel ist die Fluggesellschaft Ryanair, bei der in jedem einzelnen Flugzeug Beschäftigte aller möglichen Nationalitäten arbeiten, mit wer weiß wie vielen unterschiedlichen Verträgen, Gehältern usw. Doch trotz dieser Zersplitterung ist es der Belegschaft gelungen, einen Streik in sieben Ländern zu organisieren – das ist unglaublich! Zwar wurden noch nicht alle Forderungen durchgesetzt, aber zumindest musste Ryanair die Existenz von Gewerkschaften anerkennen.
Was ist mit der Politik jenseits der Arbeitswelt, konkret mit den Wahlkampfthemen? Die Europäische Union ist viel stärker zersplittert als die Belegschaft von Ryanair, sie hat 27 Mitgliedstaaten mit jeweils eigener Sprache, Geschichte und Kultur, ganz zu schweigen von der politischen Tradition. Ist so etwas wie ein europäischer Demos möglich, oder überhaupt wünschenswert?
Ich weiß nicht, ob wir einen europäischen Demos brauchen, aber wir müssen die Kämpfe in den einzelnen Sektoren mit europäischen und globalen Kämpfen zusammenführen. Nehmen wir das Jahr 2015, als Griechenland und die deutschen Arbeiter*innen gegeneinander ausgespielt wurden, obwohl sich die Austeritätspolitik negativ auf die deutschen Arbeiter*innen auswirkte und die einzigen wirklichen Profiteure der EU-Politik in Griechenland die Vermögenden waren, wie etwa die großen Reeder. Wieder einmal zeigte sich, dass in Europa die Klassenfrage im Vordergrund steht, aber zu diesem Zeitpunkt gab es keine breite deutsche oder europäische Bewegung, die sich mit den griechischen Arbeiter*innen solidarisiert hätte. Es gab einige wichtige Solidaritätsdemonstrationen in Belgien und anderen Ländern, aber in meinen Augen wäre eine stärkere europäische Mobilisierung hilfreich gewesen.
Das klingt in der Theorie gut, aber meiner Erfahrung nach lassen sich Menschen nur schwer dazu bewegen, sich mit europäischer Politik zu beschäftigen. Was in Brüssel passiert, ist für die meisten Menschen abstrakt und weit weg. Vielleicht gilt das weniger für Menschen aus der Mittelschicht, insbesondere wenn sie für ihren Job in der EU herumreisen müssen, aber für die meisten Arbeiter*innen in Europa ist die EU nicht besonders greifbar.
Ja und nein. Ich denke, viele Arbeiter*innen haben eine Vorstellung von Europa, aber nicht unbedingt von den EU-Institutionen, die ziemlich langweilig sind. Versuchen Sie einmal, eine Debatte im Europäischen Parlament zu verfolgen – Sie werden sich wahrscheinlich nach fünf Minuten einen Kaffee holen und nach sieben Minuten mit dem Handy spielen, weil die Sitzungen unglaublich öde sind.
Sie meinen die Europaabgeordneten selbst? Die hören sich nicht einmal gegenseitig zu?
Ja, ich spreche von den Europaabgeordneten. Wenn man die so reden hört, fragt man sich, ob sie sich überhaupt selbst verstehen. Ich denke, es steckt eine gewisse Strategie dahinter, die Institutionen so sprechen zu lassen, denn das verprellt die Menschen vollständig. Dann kommen diese Krokodilstränen von europäischen Bürokrat*innen, die sagen: «Oh, niemand interessiert sich für europäische Politik». Nun, was erwarten sie denn? Sie interessieren sich ja auch nicht für die Menschen.
Die Gehälter sind ein weiteres Problem. Man kann sich nicht für die Europäische Union begeistern, wenn man sieht, dass jemand wie Ursula von der Leyen über 30.000 Euro im Monat verdient. Ich glaube, die Menschen interessieren sich tatsächlich für viele europäische Themen. Aber sie wollen sich nicht mit Institutionen befassen, die sie für abgehoben halten.
Die Vorstellung, die EU sei ein langsamer bürokratischer Apparat, ist Schwachsinn –wenn sie bestimmten Interessen dienen muss, kann sie sehr schnell arbeiten. Wie lange hat es gedauert, alle Regeln für staatliche Beihilfen auszusetzen, um die Banken zu retten – 24 oder 48 Stunden? Im Fall von COVID waren etwa ein oder zwei Wochen nötig, um den bis dahin heiligen Stabilitäts- und Wachstumspakt auszusetzen. Aber was haben wir während der Energiekrise erlebt? Es dauerte ein ganzes Jahr bis eine Entscheidung über die Preisobergrenzen für Strom und Gas getroffen wurde, die darauf ausgelegt waren, nie zum Einsatz zu kommen.
Das führt zu Frustration und Wut. Dann stellt sich die Frage, wohin diese Wut geht. Es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass sie automatisch in die richtige Richtung geht. Aber es ist nicht so, dass es den Menschen egal wäre.
Braucht die Linke in Europa Ihrer Meinung nach eine konkrete Vision oder einen Plan für die Umgestaltung der EU? Kann sie grundsätzlich umgestaltet werden, oder müssen wir ganz von vorn anfangen?
Es ist eine Tatsache, dass diese Europäische Union und alle ihre Institutionen vom und für das europäische Kapital geschaffen wurden. In der EU wird alles getan, um den Markt nicht nur zu erweitern, sondern auch zu vertiefen, und das bedeutet Privatisierung – im Moment ist es das Gesundheitswesen, dann wird es das Wasser sein, und so weiter.
Wir dürfen uns nicht von europäischen Verträgen und Gesetzen lähmen lassen oder fatalistisch sein. Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse.
Wir müssen also zunächst einmal feststellen, dass diese europäischen Institutionen mit einer arbeitnehmerfreundlichen Politik unvereinbar sind. Aber andererseits können wir sie nicht einfach verlassen, denn das würde uns nur wieder auf einen nationalen Markt zurückwerfen. Wir befinden uns in einem Marktsystem, das, wie Marx es erklärt, die Arbeiter*innen in Konkurrenz zueinander setzt, aber auch die Möglichkeit eines gemeinsamen, vereinten Kampfes bietet und die Arbeiter*innenklasse zusammenbringt. Wie kommen wir also von einem Europa der multinationalen Unternehmen zu einem Europa der Arbeiter*innen?
Wir müssen den prinzipiell antidemokratischen Charakter bestimmter Institutionen entlarven. Ein gutes Beispiel dafür war die Debatte über die Aufhebung der Patente für COVID-Impfstoffe im Europäischen Parlament. Zunächst hatten wir nur sehr wenig Unterstützung, aber dank einer europäischen Bürgerinitiative und der breit angelegten Kampagne «People's Vaccine Alliance» stimmte schließlich eine Mehrheit der Abgeordneten, darunter viele Liberale, dafür. Die Europäische Kommission ignorierte den Vorschlag jedoch und versicherte den Vertreter*innen der Welthandelsorganisation, dass die EU die Aufhebung von Patenten nicht unterstützen würde.
Solche Momente sind wichtig, um das Bewusstsein für den Mangel an Demokratie in der EU zu schärfen, denn warum ignoriert die Kommission einen Mehrheitsbeschluss? Weil sie die Interessen der großen Pharmaunternehmen vertritt. Auf diese Art schaffen wir wiederum mehr Demokratie und stärken unsere Gegenmacht.
Der Patentverzicht wurde schließlich auch von den Grünen und den Sozialdemokraten unterstützt. Kann die linke Mitte Partner im Kampf für ein anderes Europa sein?
Es kommt auf das Thema an und darauf, von welchen Grünen und welchen Sozialdemokraten wir sprechen. Derzeit will keiner von ihnen wirklich einen grundlegenden Bruch mit der Marktlogik der EU-Verträge. Auf europäischer Ebene, und ich denke, Deutschland war dabei die führende Kraft, haben wir eine klare Neuorientierung der Grünen in Richtung der Liberalen erlebt. Die Sozialdemokraten haben natürlich in vielen Ländern eine starke historische Verbindung zu den Gewerkschaften, und man wird bei bestimmten Themen Verbündete finden, aber letztlich wird das Ergebnis vom Druck von außen abhängen. In Belgien gibt es den Witz, dass es zwei sozialdemokratische Parteien gibt: eine vor der Wahl und eine danach. Sie machen sich einen linken Diskurs zu eigen, doch nach der Wahl sieht es ganz anders aus.
Ein Thema, bei dem sich die Grünen und die Sozialdemokraten weiter von der Linken entfernen, ist die Frage der sogenannten «strategischen Autonomie» Europas. Vor allem die Grünen scheinen kein Problem damit zu haben, dass Europa zu einem verlängerten Arm des US-Imperiums wird, sodass Liberale wie Emmanuel Macron im Vergleich dazu fast links wirken. Welchen Ansatz sollte die europäische Linke Ihrer Meinung nach in der Geopolitik verfolgen?
Es gab schon immer zwei Tendenzen: eine sogenannte gaullistische Tendenz, die für mehr europäische Autonomie von den USA eintritt, und eine atlantische Position, die besagt, dass wir die USA als Verbündete brauchen. Ich würde den Begriff strategische Autonomie nicht verwenden, weil ich mir nicht sicher bin, was er bedeutet. Heute ist in der Debatte ausschließlich von der strategischen Autonomie gegenüber China die Rede.
Macron kam aus China zurück und hielt eine Rede darüber, dass Europa nicht völlig von den USA abhängig sein dürfe, und das stimmt natürlich. Aber wenn man sich die politischen Maßnahmen auf europäischer Ebene anschaut, dann richten sie sich hauptsächlich gegen die chinesischen Interessen. Alle Analysen zu strategischen Schwachstellen oder Abhängigkeiten konzentrieren sich auf China und ein paar wenige auf Russland.
Aus linker Sicht sollte man zunächst einmal anerkennen, dass das Land mit dem größten Einfluss auf die europäische Politik, das Land, von dem wir am abhängigsten sind, die USA sind. Das zeigt sich sowohl im technologischen als auch im militärischen Bereich, wo die NATO zusätzliche militärische Kapazitäten und EU-Mittel für Waffen fordert.
Und es zeigt sich jetzt auch bei der Energie, denn Europa hat einen großen Teil des russischen Gases durch LNG aus den USA ersetzt. US-Gas macht jetzt über 40 Prozent des gesamten in die EU eingeführten Flüssigerdgases aus. Deutschland baut neue Terminals, um dieses Gas zu importieren. Aber die Schiffe, auf denen das Gas transportiert wird, können von den USA jederzeit umgeleitet werden, wenn sie ihr Gas woanders verkaufen wollen. Damit haben die USA noch größeren Einfluss auf die EU-Politik. Wir müssen diese Tatsache zur Kenntnis nehmen und uns für mehr Unabhängigkeit von den USA einsetzen.
Grundsätzlich glaube ich, dass die Hauptposition der Linken sein muss: Europa hat nichts von einem Kalten Krieg, in dem wir in einen US-geführten Block gegen China eingebunden werden oder gegen sonst wen, den die USA nicht mögen. Denn es sind wirklich nur die USA, die einen Block aufbauen. Wir sollten für ein blockfreies Europa eintreten, was bedeutet, dass wir vielfältige Handelsbeziehungen pflegen und gleichzeitig prüfen, welche Güter wir in Europa selbst produzieren sollten.
Lassen Sie uns über die wirtschaftlichen Implikationen dieser Position sprechen, da Sie auch Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europäischen Parlaments sind. Wie würde eine linke Industriepolitik für Europa aussehen?
Der vorherrschende Ansatz von Industriepolitik in Europa besteht darin, unsere «Champions» zu stärken. Dieser Begriff wird inzwischen nicht mehr verwendet, aber der Grundgedanke ist, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen steigern müssen, um die Welt zu dominieren. Deshalb wollte man auch die Impfstoffpatente nicht aufheben – um sicherzustellen, dass «unsere» Pharmaunternehmen den Weltmarkt beherrschen.
Die Linke braucht Siege, und diese Siege können wir durch Mobilisierung erringen.
Wenn wir eine blockfreie Politik wollen, brauchen wir natürlich öffentliche Investitionen und müssen bestimmte strategische Sektoren vor privaten Übernahmen bewahren, um sie zu schützen. Dabei geht es nicht nur um bestimmte ausländische oder chinesische Investitionen. Ich habe kein großes Vertrauen in chinesische multinationale Unternehmen, doch amerikanische multinationale Unternehmen sind sicherlich auch nicht besser. Schauen Sie sich die ganze Debatte über TikTok an: Natürlich sammelt TikTok unsere Daten, aber das tun Facebook, Google und YouTube auch. Wenn Sie also TikTok verbieten wollen, wollen Sie dann alle sozialen Medien verbieten?
Die Alternative zu diesem Ansatz wäre es, zu akzeptieren, dass bestimmte strategische Wirtschaftssektoren zu wichtig sind, um sie dem Markt zu überlassen. Diese Wirtschaftszweige sollten demokratisch kontrolliert und unter öffentliche Aufsicht gestellt werden, beginnend mit der Energiewirtschaft, die der öffentlichen Hand anvertraut werden sollte.
Würde das nicht auch gegen europäisches Recht verstoßen?
Wie bereits gesagt, halte ich die EU-Verträge für weitgehend unvereinbar mit linker Politik. Daran besteht kein Zweifel. Zugleich ist deutlich geworden, dass diese Regeln sehr schnell ausgehebelt werden können, wenn der Druck groß genug ist und sich das Kräfteverhältnis verschiebt.
Öffentliche Monopole würden wahrscheinlich gegen die Binnenmarktregeln verstoßen. Aber heißt das, dass es nicht machbar ist? Nein, das heißt es nicht. Wenn die EU ihre gesamte Wirtschaftspolitik für drei Jahre aussetzen kann, dann können wir das auch in anderen Fragen tun. Erzählen Sie mir nicht, wir könnten keinen öffentlichen Energiesektor haben, erzählen Sie mir nicht, wir könnten die Privatisierung des Gesundheitswesens nicht verhindern. Natürlich können wir das.
Ich erinnere mich an die Debatten im Vorfeld der Wahlen 2019, als die Linke sagte, wir müssen den Stabilitäts- und Wachstumspakt abschaffen, und alle anderen Politiker*innen – Sozialist*innen, Konservative, und andere – sagten: Ja, natürlich ist das nicht die Art von Wirtschaftspolitik, die wir haben wollen, aber es ist schwierig, das jetzt zu ändern. Weniger als ein Jahr später wurde die Regelung ausgesetzt. Ich denke also, wir dürfen uns nicht von europäischen Verträgen und Gesetzen lähmen lassen oder fatalistisch sein. Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse.
In weniger als einem Jahr finden die Europawahlen statt, in Belgien parallel zu den nationalen Wahlen. Ihre Partei, die PTB, dürfte recht gut abschneiden – landesweit liegen Sie in den Umfragen bei zehn Prozent, in einigen Gebieten mehr als doppelt so hoch. In anderen europäischen Ländern haben die Linksparteien bei den Wahlen große Rückschläge erlitten. Glauben Sie, dass sich aus Ihren Erfahrungen allgemeine Lehren für den Aufbau und die Konsolidierung einer linken Partei der Arbeiterklasse ziehen lassen?
Es ist schwierig, daraus allgemeine Lehren zu ziehen, da nationale Wahlen natürlich von den Kontexten des jeweiligen Landes bestimmt werden. Was in Griechenland mit Syriza passiert ist, lässt sich zum Beispiel nur schwer mit der Geschichte von Unidas Podemos in Spanien vergleichen. Die Situation ist eine andere. Aber wir wissen natürlich, dass Belgien keine Insel ist, und wir unsere Kämpfe nicht allein führen können. Wir brauchen starke linke Parteien und starke Bewegungen in ganz Europa. Derzeit sind die Kräfteverhältnisse nicht unbedingt so, wie wir uns das wünschen, aber es wird auch viel gute Arbeit geleistet. Ich war gerade in Graz in Österreich, einem Land, über das ich sehr wenig weiß. Die Stadt hat eine kommunistische Bürgermeisterin, und es war ermutigend zu sehen, wie sich die Dinge für die Linke entwickeln.
Die spezifische Geschichte der PTB lässt sich nicht einfach kopieren und woanders wiederholen. Was uns geholfen hat, war der Wandel von einer Partei, die zu den Menschen sprach, ohne ihnen zuzuhören, zu einer Partei, die mit den Menschen spricht. Wir haben an der Seite der Arbeiter*innen gekämpft, aber wir haben auch viel zu lange und komplexe marxistische Flugblätter an sie verteilt. Wir haben also unsere Kommunikation verändert und uns in den sozialen Medien besser aufgestellt, aber dies ist nur ein Element der Entwicklung.
Wir sind sehr nah an den Menschen dran. Ein Journalist hat einmal geschrieben, man könne in Belgien nicht zu einem Streikposten gehen, ohne jemanden von der PTB zu treffen. Wir haben jetzt zwölf Abgeordnete, und vier davon sind Arbeiter*innen. Das ist eine bewusste Entscheidung gewesen, denn diese Abgeordneten sprechen nicht nur über die Arbeiterklasse, sie erleben und erfahren sie. Tatsächlich ist es uns gelungen, Wörter wie «Arbeiterklasse» wieder in die Debatte einzubringen. Dadurch verändert sich die Art, wie die Menschen die Realität wahrnehmen, und das wiederum hat Auswirkungen auf die Realität.
Außerdem sind wir eine ausgesprochen kampagnenorientierte Partei. Kampagnen sind nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern dienen auch dazu, Ziele zu erreichen. Als wir eine Kampagne für eine Mindestrente von 1.500 Euro starteten, ging es nicht nur darum, Petitionen zu organisieren. Wir brachten das Thema in die politische Debatte ein, und schließlich wurde das Gesetz verabschiedet. Die Linke braucht Siege, und diese Siege können wir durch Mobilisierung erringen. Denn dann wird es nicht nur unser Sieg, sondern der Sieg des Volkes.
Und schließlich halte ich die Stärkung der Partei für absolut zentral. Wir sind in 15 Jahren von 800 auf 25.000 Mitglieder angewachsen, und das ist vor allem dem Aufbau der Organisation zu verdanken. Wahlen kommen und gehen – man kann gute Wahlergebnisse erzielen, oder sehr gute, und dann kommt wieder eine schlechte Wahl. Aber wenn man ernstnimmt, was ich über das Kräfteverhältnis außerhalb des Parlaments gesagt habe, und wenn man weiß, dass der Gegner sehr gut organisiert ist, dann muss man sich auf den Parteiaufbau konzentrieren. Es reicht nicht aus, Petitionen zu unterschreiben und Menschen zu sensibilisieren, sondern wir müssen unsere Organisationen aufbauen. Das bringt natürlich viele neue Herausforderungen mit sich.
Es ist wie bei einer Gewerkschaft: Die Arbeiter*innen streiken vielleicht spontan, aber danach gründen sie eine Gewerkschaft, um für den nächsten Konflikt besser gerüstet zu sein. Auf der gesellschaftlichen Ebene brauchen wir ebenso eine starke, gut organisierte Partei mit einer Vision für grundlegende Veränderungen.
Übersetzung von Camilla Elle und Cornelia Röser für Gegensatz Translation Collective.