Die aktuelle migrationspolitische Debatte in der Bunderepublik ist von widersprüchlichen, ja gegensätzlichen Signalen gekennzeichnet. Auf der einen Seite vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von verantwortlicher Stelle aus Politik oder Wirtschaft auf den hohen Fachkräftebedarf der deutschen Wirtschaft verwiesen wird. An allen Ecken und Enden fehlt Personal, fehlen Fachkräfte und Menschen, die in sogenannten systemrelevanten Bereichen arbeiten (vgl. Systemrelevante Berufe - Rosa-Luxemburg-Stiftung). Obwohl die Zahl der Beschäftigten über lange Zeit immer neue Höchststände erreichte, fehlt in kaum einem Schaufenster und an kaum einem Firmentransporter das Schild mit der einladenden Aufforderung: «Wir suchen dich!» Ausländische Fachkräfte, so scheint es, sind das letzte noch mögliche Schmiermittel für den stotternden Wirtschaftsmotor und Politiker*innen begeben sich in ferne Länder, um das dringend benötige Personal für den Gesundheitssektor, das Gastronomie- und Tourismusgewerbe und andere Bereich zu gewinnen.
Gerd Wiegel ist Referatsleiter Demokratie, Migrations- und Antirassismuspolitik beim DGB-Bundesvorstand.
Auf der anderen Seite macht die EU und macht auch Deutschland die Grenzen für Migrant*innen immer dichter. Die nur von der extremen Rechten offensiv geforderte «Festung Europa» wird real längst umgesetzt, wenn auch sprachlich menschenrechtlich ummantelt. Verlagerung von Asylverfahren an die Außengrenzen, Quasi-Inhaftierung von Asylsuchenden und eine Abkehr vom Prinzip der individuellen Prüfung von Fluchtgründen sind aktuelle Entwicklungen der europäischen Asylpolitik. Schon vor mehr als 20 Jahren formulierte der damalige bayerische Innenminister Günter Beckstein: «Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nützen, und weniger, die uns ausnützen.» Auch heute scheint dieses rassistische Motto ein Leitmotiv der Migrationspolitik in Deutschland zu sein.
Der allgegenwärtige Ruf nach Fachkräften
Noch im Januar 2023 sprach die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE von einem «Fachkräfteengpass» und keinem allgemeinen Mangel: «Von einem umfassenden Fachkräftemangel bzw. von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel kann in Deutschland jedoch nicht gesprochen werden», so heißt es hier (BT-Drs. 20/5395, S. 8 f.). Im dritten Quartal 2022 seien laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rund 1,82 Millionen offene Stellen zu besetzen gewesen, denen 2,45 Millionen Arbeitslose und «unter Berücksichtigung von Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in vorübergehender Arbeitsunfähigkeit sowie in absehbar endender Erwerbstätigkeit» insgesamt 4,35 Millionen Arbeitssuchende gegenüberstanden. Selbst wenn sich die Situation im Laufe des Jahres 2023 noch einmal verschärft haben sollte, rechtfertigen die Zahlen nicht die teils hysterischen Rufe nach einer kurzfristigen Fachkräfteoffensive. Die Gründe für die vorhandenen Probleme sind vielfältig und teils hausgemacht, die Forderungen nach der Ausweitung des Arbeitskräftepotenzials haben auch andere, öffentlich meist nicht benannte Ziele.
Denn ganz offensichtlich hat das Verhältnis von Kapital und Arbeit aktuell eine Schlagseite bekommen, die den Interessen von Kapitaleigentümern und Nutzern der Ware Arbeitskraft zuwiderläuft. Die Ausweitung von Beschäftigung, von Teilzeitarbeit und vor allem des Niedriglohnbereichs haben zu einer weitgehenden Absorption des kurzfristig einsetzbaren Arbeitskräftepotenzials geführt. Pandemie und Lockdowns haben darüber hinaus in zahlreichen prekären Arbeitsbereichen für eine zeitweilige Umorientierung des Personals geführt. Verbunden mit den Engpässen bei Fachkräften und auf dem Arbeitsmarkt generell bedeutet das: massiven Schwierigkeiten bei der Besetzung von Stellen. Ein Überangebot an freien Stellen führt zu einer größeren Verhandlungsmacht der Beschäftigten, die sich nicht mehr so einfach in schlecht bezahlte und/oder schwierige Arbeitsbedingungen pressen lassen. Die deutlich gestiegenen tarifpolitischen Auseinandersetzungen, die offensiven Forderungen von Gewerkschaften und die Streikbereitschaft der Belegschaften zeugen vom neuen Selbstbewusstsein der Arbeiter*innenklasse. Die Ausweitung der Angebotsseite bei der Ware Arbeitskraft liegt also im engeren Interesse des Kapitals.
Hinzu kommt, dass über jahrelang vernachlässigte Ausbildung bzw. die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen das Personal auch bei fachlich anspruchsvollen Tätigkeiten knapp wird. Das im Sommer 2023 verabschiedete Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung ist eine politische Reaktion auf diese Entwicklung und soll verstärkt ausländische Fachkräfte nach Deutschland holen. Die parallel von der Regierung vorangetriebene Qualifizierungsoffensive trägt den auch von Gewerkschaften immer wieder vorgebrachten Hinweisen auf das vorhandene inländische Potenzial Rechnung, das mit entsprechender Qualifizierung in gute Arbeit gebracht werden könnte (vgl. DGB: Stellungnahme zum Referentenentwurf Weiterbildungsgesetz).
Migrationspolitisch ein richtiger Schritt
Generell geht die Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung in die richtige Richtung, erkennt sie doch die Realitäten eines Einwanderungslandes an. Natürlich stehen die Bedarfe Deutschlands und des deutschen Kapitals an erster Stelle bei einer solchen Fachkräfteeinwanderung, aber auch Menschen, die in Deutschland bessere Arbeits- und Lebensbedingungen suchen, können von ihr profitieren.
Die angekündigte verbesserte Qualifikationsanerkennung für Menschen mit ausländischen Abschlüssen und der «Spurwechsel», mit dem Menschen aus dem Asylverfahren in die Arbeitskräftezuwanderung wechseln können, sind richtige und wichtige Schritte.
Gleiche Entlohnung am gleichen Ort für die gleiche Tätigkeit ist eine Leitlinie der gewerkschaftlichen Beurteilung dieser Form der Einwanderung (vgl. DGB: Stellungnahme zur Fachkraefteeinwanderung aus Drittstaaten). Das Unterlaufen von guten Arbeitsbedingungen und Tarifverträgen darf durch Arbeitsmigration nicht befördert werden, auch das ist eine gewerkschaftliche Forderung. In der Realität und ermöglicht auch durch die gesetzlichen Veränderungen passiert aber genau das. Einwanderung in prekäre Beschäftigung wird mit der aktuellen Überarbeitung des Gesetzes nicht verhindert, wenngleich die Bedingung der Tarifbindung der anwerbenden Unternehmen gestärkt wurde. Die Saisonarbeit wird ausgeweitet und damit ein Bereich, in dem besonders häufig ausbeuterische Arbeitsbedingungen herrschen. Die verstärkte Einwanderung in die Leiharbeit konnte zwar verhindert werden, allerdings wurde mit der Ausweitung der Westbalkanregelung, mit der Menschen ohne formale Qualifikationsanforderungen einreisen können, ein Bereich ausgeweitet, der häufig wenig Schutz für die Menschen bietet und durch stark ausbeuterische Arbeitsbedingungen gekennzeichnet ist (vgl. DGB: Westbalkanregelung und Einwanderung in befristete Beschäftigung).
Gefahr der Ausbeutung
Gewerkschaftliche Kritik an diesen Elementen der Fachkräfteeinwanderung soll und darf jedoch nicht vor allem auf dem Rücken der Einwanderungswilligen ausgetragen werden. Vielmehr sind sie an Staat und Wirtschaft zu richten, die die Bedingungen der Fachkräftezuwanderung so gestalten müssen, dass es nicht zu Ausbeutung und Billigkonkurrenz kommt, mit denen gesellschaftliche Spaltungslinien bei den Beschäftigten verschärft werden könnten. Die besten gesetzlichen Vorgaben nützen wenig, wenn ihre Einhaltung nicht streng und regelmäßig kontrolliert wird.
Vom Deutschen Gewerkschaftsbund betriebene Beratungsnetzwerke wie Faire Mobilität oder Faire Integration zur Beratung von Beschäftigten aus Mittel- und Osteuropa bzw. aus Nicht-EU-Staaten dokumentieren immer wieder Fälle ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse, die die Alltagsrealität migrantischer Arbeit in Deutschland jenseits der plakativen Willkommenskultur aufzeigen. In der Praxis zeigt sich, wie weit die verkündeten Win-Win-Situationen für Beschäftigte und Wirtschaft tatsächlich den Realitäten entsprechen.
Nimmt man die Streiks der LKW-Fahrer auf der Raststätte im hessischen Gräfenhausen im Frühjahr und Sommer 2023 zum Maßstab, dann wird deutlich, dass vorhandene Regelungen über EU-Bande häufig ausgehebelt werden. Fahrer aus Drittstaaten (vor allem Georgien und Usbekistan) wurden hier von einem polnischen Unternehmen, das Aufträge auch von deutschen Firmen ausführte, um Teile ihres Lohns betrogen. Es zeigt sich, dass vorhandene Regelungen von einzelnen Unternehmen immer wieder umgangen werden und dass vor allem Arbeitskräfte, die über die Entsenderichtlinie nach Deutschland kommen, starken Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind.
Fachkräfteanwerbung allein reicht nicht aus
Fachleute bezweifeln, ob die aktuellen gesetzlichen Veränderungen bei der Fachkräfteeinwanderung das Problem wirklich lösen werden, denn im internationalen Wettbewerb um gute Arbeitskräfte ist Deutschland nicht gut aufgestellt. Lässt man einmal die ewige Nörgelei der Kapitalseite über Bürokratie, Steuern und Abgaben beiseite, zeigen sich aus Sicht der Beschäftigten zahlreiche Felder, auf denen es massiven Verbesserungsbedarf gibt. Gute Löhne, Tarifbindung und gute Arbeitsbedingungen stehen hier ganz oben, aber auch ein gesellschaftspolitisches Klima, dass eine Willkommenskultur für ausländische Arbeitskräfte nicht nur behauptet, sondern real möglich macht.
Die Hans Böckler-Stiftung hat 2022 in einer Studie dokumentiert, dass 300.000 zusätzliche Pflegekräfte durch Wiedereinstieg in den Beruf oder Aufstockung gewonnen werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern würden. Auch in zahlreichen anderen Bereichen sind es schlechte Bezahlung, prekäre Arbeitsbedingungen und/oder Arbeitsverdichtung durch Personalknappheit, die hauptverantwortlich für die Probleme bei der Stellenbesetzung sind. Aus diesem Grund hat der DGB eine große Kampagne zur Tarifbindung gestartet.
Seit 2015 und dann noch einmal im Zuge des Ukrainekriegs sind Hunderttausende Menschen nach Deutschland gekommen, die hier leben und arbeiten wollen. Während zahlreiche Unternehmen immer wieder Einzelfälle thematisieren, bei denen gut integrierte und qualifizierte Beschäftigte vor Ausweisung und Abschiebung geschützt werden sollen, läuft die politische Debatte gegenwärtig in eine ganz andere Richtung: Abschiebung, Rückführung, Abschottung sind Stichworte, die gesellschaftspolitisch zu einem Klima beitragen, in dem das Wort Willkommenskultur schnell zu einer Phrase wird.
Der Aufschwung der AfD in den Umfragen, die Versuche von Seiten der Union und auch der Innenministerin, mit einer harten Haltung in der Migrationsfrage der AfD das Wasser abzugraben, tragen ebenfalls nicht zur Attraktivitätssteigerung des Landes im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte bei.
Immerhin sollen im Herbst 2023 das Staatsangehörigkeitsrecht modernisiert und die Hürden zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit gesenkt werden. Politische und gesellschaftliche Teilhabe sind zentrale Voraussetzungen für eine gelingende Einwanderung und die Staatsangehörigkeit ist in vielen Fällen der Schlüssel zum Zugang zu (Schutz-)Rechten und Einflussnahme.
Gewerkschaften und Beschäftigte haben ein großes Interesse an einer Arbeitskräftezuwanderung, die nicht allein den Wettbewerbs- und Marktmechanismen unterliegt. Klassenspaltungen führen über kurz oder lang zu Verschlechterungen für alle Beschäftigten. Die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte ist dabei häufig der Einstieg in eine Absenkung von Standards für alle. Deshalb ist Arbeitsmigration ein zentrales Thema gewerkschaftlicher Arbeit und die gewerkschaftliche Organisierung und Unterstützung in diesem Bereich eine lohnende Aufgabe.