Bevor das bevorstehende Gipfeltreffen vom 22. bis 24. August 2023 in Johannesburg neue Erwartungen auf die Herausbildung eines weltpolitischen Gegengewichts weckte – und dadurch vielen westlichen Diplomat*innen schlaflose Nächte bereitete –, befand sich der aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehende Staatenbund BRICS zuletzt in einem mäßigen, von Zwistigkeiten geprägten Zustand. Verantwortlich dafür waren die Covid-19-Pandemie, die Regentschaft Jair Bolsonaros, der Konflikt zwischen China und Indien, der russische Überfall auf die Ukraine und politische Turbulenzen in einigen Mitgliedstaaten. Im Laufe des letzten Jahres hat sich das Bild jedoch gewandelt; Gespräche über die Erweiterung um neue Partnerstaaten («BRICS+») sowie Pläne zur ‹Entdollarisierung› verleihen dem Staatenbund derzeit eine nie dagewesene Bedeutung.
Patrick Bond ist Professor und Direktor des Centre for Social Change an der University of Johannesburg, Südafrika.
Diesem Aufschwung war jedoch eine Phase vorangegangen, in der das Bündnis an seinen inneren Widersprüchen zu zerbrechen drohte, weshalb es sinnvoll ist, sich zunächst einmal die bereits erwähnten Problemfelder zu vergegenwärtigen.
- Erstens hinderte die Covid-19-Pandemie die BRICS-Regierungschefs drei Jahre lang daran, ihre Zusammenkünfte in Präsenz abzuhalten. Davon betroffen waren auch Hunderte Fachkräftetreffen in den Bereichen Wirtschaft, Hochschulen, Verwaltung und Zivilgesellschaft, die zuvor ein fester Bestandteil der Bündnisarbeit gewesen waren.
- Zweitens torpedierte die brasilianische Regierung unter Führung von Jair Bolsonaro in den Jahren 2019 bis 2022 eine weitere Konsolidierung des Blocks durch ihre rechtsextreme und prowestliche Ausrichtung, an der sie selbst bei der für den globalen Süden entscheidenden Frage der Patentaussetzung von Impfstoffen und Medikamenten zur Behandlung von Covid-19 festhielt. Ein entsprechender, von der Welthandelsorganisation (WTO) eingebrachter Reformvorschlag wurde zwischen 2021 und 2022 vor allem von deutschen und britischen Politiker*innen ausgebremst, die als Sachwalter*innen ihrer jeweiligen nationalen Pharmaindustrien handelten. Angela Merkel und Boris Johnson konnten dabei auf Bolsonaro zählen. Gemeinsam ließen sie die hartnäckigen Appelle des indischen Regierungsoberhauptes, Narendra Modi, und seines südafrikanischen Amtskollegen, Cyril Ramaphosa, abblitzen, die im Namen von über 100 Ländern forderten, lebensnotwendige medizinische Erzeugnisse als «globale öffentliche Güter» einzustufen.
- Drittens gingen die chinesisch-indischen Gebietsstreitigkeiten im Himalaya 2020 erneut in eine heiße Phase über, als der seit den frühen 1960er Jahren schwelende Konflikt um den ungeklärten Grenzverlauf zu bewaffneten Zusammenstößen und dem Tod zahlreicher Soldaten führte. Derzeit ist kein Ende des militärischen Gerangels um das gebirgige Territorium in Sicht, das auch Quellgebiete südwärts strömender Flüsse umfasst, die von maßlosen chinesischen Staudammprojekten betroffen sind. Ein weiterer Konfliktherd erstreckt sich von Kaschmir westwärts bis zur pakistanischen Grenze, wo Ortsansässige sich sowohl gegen den Zugriff und die antimuslimische Repression der Zentralregierung in Neu-Delhi, als auch gegen Pekings Bestreben wehren, die kaschmirische Bevölkerung in China zu kontrollieren. Noch weiter im Westen beteiligt sich China mit 65 Milliarden US-Dollar an einem Infrastrukturkorridor, der die pakistanische Hafenstadt Gwadar mit Westchina verbinden soll. Peking misst diesem Projekt wachsende Bedeutung bei, da es auf diesem Wege die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Straße von Malakka reduzieren und – im Rahmen der Initiative Neue Seidenstraße – den Import von Erdöl aus der Golfregion beschleunigen will. Den Behörden in Neu-Delhi ist Chinas intensive ökonomische Zusammenarbeit mit Indiens Erzfeind Pakistan ein Dorn im Auge, zumal sie sich auch auf territorial umstrittenem Gebiet abspielt. Im Gegenzug wurden wiederholt Anlagen chinesischer Unternehmen in Indien stillgelegt und heftige nationalistische Tiraden gegen das Land losgelassen.
- Viertens fügte Wladimir Putins Invasion der Ukraine im Februar 2022 nicht nur der Region, sondern auch den globalen Energie- und Nahrungsmittelmärkten katastrophalen Schaden zu. Dies stellte Gesellschaften auf der ganzen Welt vor eine politische Zerreißprobe. In Südafrika verursachte die Aussicht auf eine persönlichen Teilnahme Putins am diesjährigen Gipfeltreffen in Johannesburg beinahe eine Verfassungskrise, zwänge sie Präsident Cyril Ramaphosa doch, den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Putin zu vollstrecken, den das Gericht wegen Putins Verantwortung für die Entführung Zehntausender ukrainischer Kinder erlassen hat. Als im Juni 2023 eine Friedensmission mehrerer afrikanischer Regierungsoberhäupter unter südafrikanischer Führung vergeblich versuchte, Kiew und Moskau an den Verhandlungstisch zu bringen, bekniete Ramaphosa den russischen Staatschef, dem Treffen in Johannesburg nur digital beizuwohnen. Er forderte Putin auch öffentlich dazu auf, die Seeblockade gegen ukrainisches Getreide aufzulösen, das normalerweise knapp zehn Prozent des globalen Angebots ausmacht. Putin ignorierte seinen Aufruf jedoch und stellte stattdessen im Juli auf dem Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg den anwesenden Vertreter*innen verschiedener von Armut betroffener afrikanischer Staaten kostenlose Getreidelieferungen in Aussicht.
- Fünftens offenbarte die politische Führungsebene dreier BRICS-Staaten tiefe Brüche. Nach dem Lula da Silva bei der brasilianischen Präsidentschaftswahl einen knappen Wahlsieg über Bolsonaro erringen konnte, zettelten dessen Anhänger*innen im Januar 2023 einen gescheiterten Aufstand an; im Juni folgte die Meuterei von Putins einstigem engen Verbündeten Jewgeni Prigoschin und seiner Wagner-Söldnertruppe; im Juli verschwand der chinesische Außenmister Qin Gang auf mysteriöse Weise, und es wurde spekuliert, ob die Affäre mit einer britischen Spionin oder schlichtes Amtsversagen dahintersteckte. Während Chinas Regierungsoberhaupt Xi Jinping, Modi und Putin ihre persönliche Macht allem Anschein nach gefestigt haben, herrscht in den beiden schwächeren BRICS-Staaten Instabilität: Lula hat mit einem Kongress zu kämpfen, der von Bolsonaros Gefolgschaft dominiert wird, und muss sich zudem mit seinem wirtschaftsliberalen Vizepräsidenten arrangieren, während Ramaphosas Korruptionsverfahren, die Unzuverlässigkeit seines Stellvertreters und die im Land grassierenden Stromausfälle voraussichtlich dazu führen werden, dass seine Partei in den 2024 anstehenden Wahlen ihre absolute Mehrheit verlieren und sich nach Koalitionspartner*innen umsehen müssen wird.
Doch trotz der chaotischen Entwicklungen stehen die drei rohstoffexportierenden Volkswirtschaften des Blocks – Brasilien, Russland und Südafrika – seit Mitte 2020 ökonomisch besser da als erwartet. Nachdem die Preise für Erdöl und Bodenschätze durch den ersten Schock der Lockdowns zunächst abgestürzt waren, erreichten sie bald darauf Rekordniveau und zogen nach Putins Invasion im März 2022 zumindest für einige Monate abermals an. Das erlaubte es Russland, sich überraschend schnell von den umfassenden westlichen Finanzsanktionen und der Beschlagnahmung von staatlichen und privaten Vermögenswerten in Höhe von über 600 Milliarden US-Dollar zu erholen. Insbesondere den ehemals prowestlichen Diktatoren im Nahen Osten führten diese Maßnahmen unmissverständlich vor Augen, dass auch ihre im Westen geparkten Vermögenswerte sich nicht in Sicherheit befinden.
Der Auftritt der «BRICS+»
Die überambitionierten finanzpolitischen Strafaktionen, zu denen US-Finanzministerin Janet Yellen im März 2022 griff, sind ein wesentlicher Grund dafür, dass nun so viele Länder einem zukünftigen entdollarisierten BRICS+-Block beitreten wollen. Sie alle wissen, wie unberechenbar politische Beziehungen zum US-Außenministerium sind, das für seine abrupten Kurswechsel bekannt ist – und das nicht erst, seitdem Donald Trumps «paläokonservative» Ideologie (‹Make America Great Again›) von einer «neokonservativen» Wende der außenpolitischen Doktrin abgelöst wurde, nach der «demokratische» Ideale und eine neoliberale Wirtschaftspolitik notfalls mit Gewalt durchzusetzen sind. Neben der durchaus möglichen Wiederwahl Trumps Anfang 2025 beschäftigt die Diktatoren, dass Washington das Führungspersonal seiner Satellitenstaaten bisweilen stützt, ohne dass dahinter eine Logik erkennbar wäre. Diese Praktiken sind zwar nicht neu, haben nun jedoch durch das machtvolle Instrument der Finanzsanktionen noch an Komplexität gewonnen.
Besonders aufschlussreich war der Fall Saudi-Arabiens. Während des US-Wahlkampfs 2020 machte Präsidentschaftskandidat Joe Biden das Land zu einer der wichtigsten Zielscheiben seiner außenpolitischen Rhetorik, hatte die Führung in Riad doch 2018 die brutale Ermordung des kritischen Journalisten Jamal Khashoggi veranlasst. Mitte 2022 änderte Präsident Biden jedoch seinen Kurs, stattete dem Kronprinzen Mohammed bin Salman (‹MBS›) einen persönlichen Besuch ab und bat ihn vergeblich um eine höhere Erdölproduktion (zu niedrigeren Preisen).
Saudi-Arabien aber schloss darüber hinaus Anfang 2023 nicht nur ein vorläufiges Friedensabkommen mit Iran, bei dem China als Vermittler fungierte, sondern hob auch ein Handelssystem in ‹Petro-Yuan› aus der Taufe, das die Hegemonie des US-Dollars untergraben soll. Washington versuchte acht Monate lang recht ungeschickt, diesen Deal rückgängig zu machen, und unterbreitete ein eigenes Angebot inklusive saudischem Beitritt zum Abraham-Abkommen, das noch unter Trump unterzeichnet worden waren. Die saudisch-israelischen Beziehungen sollten sich auf ähnliche Weise ‹normalisieren› wie 2020 die Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Doch das saudische Regierungsoberhaupt hat diesen Prozess vorerst auf Eis gelegt, um die Ergebnisse des BRICS-Gipfels und die mögliche Erweiterung des Staatenbundes abzuwarten.
Nun, da der neue BRICS+-Bund langsam Kontur annimmt, fallen besonders zwei Eigenschaften der Beitrittskandidaten ins Auge: in ökonomischer Hinsicht das erdrückende Gewicht der fossilen Energiewirtschaft, in politischer Hinsicht ihr diktatorischer Charakter, sinnbildlich verkörpert von MBS. Die im August veröffentlichte vollständige Liste aller Anwärterstaaten umfasst Ägypten, Äthiopien, Algerien, Argentinien, Bangladesch, Bahrain, Belarus, Bolivien, Honduras, Indonesien, Iran, Kasachstan, Kuba, Kuweit, Marokko, Nigeria, den Staat Palästina, Saudi-Arabien, Senegal, Thailand, Venezuela, die VAE und Vietnam.
Es handelt sich hierbei um eine bunte Versammlung, die nicht durch geteilte ideologische Prinzipien, sondern durch tief verankerte antisoziale, antiökologische und selbstsüchtige Profitinteressen gekennzeichnet ist.
- Für China und Russland wären Beitritte Saudi-Arabiens und Irans die Hauptgewinne, die den Weg zu einer weiteren Expansion öffnen. Würden alle 23 Anwärterstaaten zugelassen, wüchse der BRICS+-Bund auf insgesamt 28 Staaten an. Auf der einen Seite stehen dabei diejenigen, die in der UN-Generalversammlung Unterstützung für Putin signalisiert haben, indem sie gegen die UN-Resolution zum russischen Truppenabzug aus der Ukraine stimmten oder sich, wie Südafrika, durch Enthaltung auf eine neutrale Position zurückzogen; auf der anderen Seite befinden sich jene, die für die Ukraine Partei ergriffen haben. In diesem Lager befinden sich neben Brasilien auch 14 neue Beitrittskandidaten: Ägypten, Argentinien, Bahrain, Bangladesch, Honduras, Indonesien, Kuweit, Marokko, Nigeria, der Staat Palästina, Saudi-Arabien, Senegal, Thailand und die VAE. Bei den 13 BRICS- oder potenziellen BRICS+-Staaten, deren Regierungen im März 2022 gegen die UN-Resolution stimmten oder sich enthielten, handelt es sich um Äthiopien, Algerien, Belarus, Bolivien, China, Indien, Iran, Kasachstan, Kuba, Russland, Südafrika, Venezuela und Vietnam.
- Unter den Beitrittskandidaten können lediglich Argentinien, Bolivien und Honduras ohne Einschränkung als demokratisch bezeichnet werden; sie könnten sich somit zu den demokratischen Gründungsmitgliedern Brasilien und Südafrika gesellen. Aus gutem Grund konnten sich die BRICS+-Anwärter Bolivien, Kuba, Palästina und Venezuela zumindest im 21. Jahrhundert stets der Solidarität der Linken sicher sein, auch wenn die progressiven Werte im Fall Venezuelas im Jahrzehnt nach Hugo Chavez’ Tod nach und nach verblassten. Und natürlich hegt die Linke noch immer nostalgische Gefühle für die antikolonialen Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre in Algerien und Vietnam.
- Besorgniserregend an dieser Aufzählung ist auch die große Zahl an reaktionären Regimes, die sich in der westlichen Einflusssphäre lange Zeit pudelwohl fühlten: Indonesien, Kuweit, Marokko, Saudi-Arabien, Thailand und die VAE. Dass diese Staaten nun der BRICS-Allianz ihre Loyalität bekunden, ist keinesfalls in Stein gemeißelt und wird von kurzer Dauer sein, sollten sich die geopolitische Lage ändern.
Das Ende multilateraler Reformen und der «subimperiale Auftrag» der BRICS
Angesichts der wackligen Bündnisse und des zusammengewürfelten Charakters der Anwärterstaaten gehen weder von den BRICS noch von einem etwaigen BRICS+-Block Impulse für eine gerechtere Welt aus, egal wie oft die beteiligten Staaten sich verbal zu diesem Ziel bekennen. Auf früheren BRICS-Gipfeln wurden häufig ehrgeizige multilaterale Reformbestrebungen artikuliert und Visionen einer vom Westen unabhängigen, institutionellen, medizinischen und finanziellen Zusammenarbeit entworfen. Die Ergebnisse sind jedoch unbefriedigend.
Ein prominentes Beispiel ist die Entwicklung einer Covid-19-Schutzimpfung. Sie war lebensnotwendig, als die Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 zwischen sieben und 25 Millionen Menschen dahinraffte, je nachdem, ob die Schätzungen zur ‹Übersterblichkeit› berücksichtigt werden, die in Indien, Brasilien und Südafrika mindestens dreimal so hoch ausfielen wie die offiziellen Todeszahlen. Auf dem Gipfeltreffen in Johannesburg wurde 2018 die Eröffnung eines großen BRICS-Zentrums am selben Ort angekündigt, doch passiert ist faktisch nichts. Auch in Bezug auf die Wirksamkeit russischer und chinesischer Impfstoffe im Vergleich zur westlichen mRNA-Technologie blieben viele Fragen offen (Südafrika hat den russischen Impfstoff Sputnik aufgrund von Gesundheitsbedenken für HIV-Infizierte nicht einmal zugelassen).
Da der Internationale Währungsfonds (IWF) die Souveränität von Armut betroffener Staaten regelmäßig verletzt und ihnen neoliberale Dogmen, Austeritätspolitik und Privatisierungsmaßnahmen aufzwingt, weckte die Gründung der BRICS die trügerische Hoffnung auf eine echte, multilaterale Alternative auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das 2014 vereinbarte Contingent Reserve Arrangement (CRA) projektierte einen 100 Milliarden US-Dollar schweren Reservefonds zur Absicherung der Mitgliedstaaten. Durch seine Ausgestaltung stärkte dieses Instrument jedoch faktisch den IWF, denn es verpflichtete BRICS-Kreditnehmer*innen, die über 30 Prozent ihres Kreditrahmens ausreizen wollten, dazu, sich zunächst zu einem Strukturanpassungsprogramm des IWF zu verpflichten und half damit Washington, seine Finanzmacht auszuweiten. Als die Finanzminister*innen der BRICS-Staaten während der Pandemie 2020 ihre schwärzesten Stunden erlebten und der südafrikanische Amtsinhaber, Tito Mboweni, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch nur durch einen Kredit im Umfang von 4,3 Milliarden US-Dollar glaubte verhindern zu können, wandte er sich an den IWF und nicht an den BRICS-Reservefonds – diese ‹Alternative› war somit nicht nur Verpackungsschwindel, sondern existierte lediglich auf dem Papier.
Auch die Angewohnheit der BRICS-Gemeinschaft, «links zu blinken, um rechts abzubiegen», zeugt von ihrer Mittelmäßigkeit: Die Beteiligten klagen über den westlichen Imperialismus, ohne etwas gegen das Regelwerk der neoliberalen Weltordnung zu unternehmen. Obwohl es den BRICS-Staaten gelang, in den Gremien des IWF und der Weltbank ihr Stimmgewicht zu stärken, wodurch ihre Mitglieder bis Ende der 2010er Jahre knapp 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten – zulasten ärmerer Länder wie Nigeria und Venezuela, deren Stimmenanteile jeweils um mehr als 40 Prozent schrumpften –, werden die Führungsspitzen beider Institutionen nach wie vor von den europäischen Regierungen bzw. der US-Regierung ernannt. Die als Washington-Konsens bekannte wirtschaftspolitische Doktrin bleibt ebenso unangefochten wie die räuberische Kreditvergabepraxis der Bretton-Woods-Institutionen. Und auch wenn die Direktor*innen jener Institutionen ebenso wie die Vertreter*innen der BRICS-Staaten gelegentlich darüber lamentieren, haben letztere es seit 2012 sogar versäumt, eigene Kandidat*innen für die Spitzenämter des IWF oder der Weltbank ins Rennen zu schicken.
So stand das Statement der ehemaligen brasilianischen Ministerpräsidentin Dilma Rousseff vom 26. Juli 2023, nachdem sie Putin in ihrer neuen Funktion als Präsidentin der New Development Bank der BRICS getroffen hatte, ganz im Zeichen der Zeit: «Die NDB betonte erneut, dass sie keine neuen Projekte in Russland plant und in Übereinstimmung mit den geltenden Einschränkungen auf den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten agiert. Jegliche anderslautenden Spekulationen diesbezüglich sind gegenstandslos.» Und obwohl die Nachteile von Krediten in harten Währungen bekannt sind, gab Rousseff als Ziel für das Jahr 2030 lediglich einen 30-prozentigen Kreditbestand in lokalen Währungen aus.
Der enorme Hype um die Entdollarisierung platzte bereits im unmittelbaren Nachgang eines Treffens der BRICS-Außenminister*innen im Juni d.J. mit einer Äußerung des südafrikanischen Spitzendiplomaten Anil Sooklal: «Wir haben nie über Entdollarisierung gesprochen. Was wir getan haben, und daran ist nichts Neues, ist: Wir haben vor einigen Jahren ein Abkommen unterzeichnet, ein Interbankenabkommen, das den Weg für den Handel in unseren lokalen Währungen freimacht.» Doch der kommt kaum in die Gänge aufgrund des großen Handelsungleichgewichts zwischen den BRICS-Staaten sowie der strengen chinesischen und indischen Devisenkontrollen, die die Rückführung von Exporterlösen erschweren.
Der gewöhnlich optimistische brasilianische Journalist Pepe Escobar prophezeite daher Anfang August: «Die BRICS werden in Südafrika keine neue Währung ankündigen, vor allem, weil sie sich noch nicht einmal mit den Details beschäftigt haben. Wie soll das gehen? Außerdem kann man nicht einfach so eine neue Währung einführen. So etwas kann gut und gerne zehn Jahre dauern. Woran sie gerade arbeiten und was sie in den nächsten Jahren weiter verbessern werden, sind Handelsabkommen auf Grundlage der Mitgliederwährungen, die dann auch auf die BRICS+ ausgeweitet werden.»
Diese Zurückhaltung bei der Bekämpfung imperialistischer Kernstrukturen ist nicht überraschend. Schon während der 2010er Jahre hat sich immer wieder gezeigt, dass die BRICS-Staaten der so genannten ‹unipolaren›Weltordnung der Achse Washington-Brüssel-London-Tokio zuarbeiteten, anstatt gegen sie zu rebellieren. Deutlich wurde dies erstmalig in Bezug auf die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, als Barack Obama 2009 auf der Kopenhagener UN-Klimakonferenz Lula, Wen Jiabao, Manhoman Singh und Jacob Zuma für ein Geheimtreffen beiseite nahm, um mit ihnen einen am Status quo orientierten Entwurf auszuhandeln, den sie anschließend allen anderen Staaten aufzwangen.
Vom Sub- zum Interimperialismus?
Der bevorstehende G20-Gipfel, den Modi vom 9. bis 10. September 2023 in Delhi ausrichten wird, eignet sich hervorragend als Schauplatz dieser Verschmelzung, die im Sinne des brasilianischen Dependenztheoretikers Ruy Mauro Marini als «antagonistische Kooperation» der subimperialen Mächte mit dem übergeordneten Kontrollregime verstanden werden kann, das die USA, die EU, das Vereinigte Königreich, Japan und ihre Partnerländer ausüben. Seit der Konsolidierung des neoliberalen Projekts in den 1990er Jahren haben die entsprechenden Institutionen stets im Sinne der jeweils größten Konzerne gehandelt. Wie Marini 1972 mit Blick auf Brasilien erläuterte, ist der subimperiale Status «die Form, die abhängige kapitalistische Staaten im Zeitalter des Monopolkapitalismus annehmen.»
In einem 2019 posthum erschienenen Buch äußerte sich der ägyptische Marxist Samir Amin ähnlich vernichtend über Südafrika, das sich «nach seiner Befreiung von der verhassten Apartheid vor eine gewaltige Herausforderung gestellt sah: Wie kann man hinter die Fassade einer multiethnischen Gesellschaft gelangen, um so die Gesellschaft von Grund auf verändern? Die ANC-Regierungen wichen dieser Frage mit ihrer Politik bislang aus, weshalb im Endeffekt alles beim Alten geblieben ist. Südafrika spielt seine subimperialistische Rolle besser denn je, schließlich ist es nach wie vor im Griff angloamerikanischer Bergbaumonopole.»
In seinem bereits 2015 verfassten Essay «Contemporary Imperialism» kleidete Amin den Sachverhalt in eine Metapher: «Die fortwährende Offensive des Kollektivimperialismus der USA, Europas und Japans gegen die Völker des globalen Südens hat zwei Standbeine: das ökonomische – der Neoliberalismus, der der ganzen Welt als einzig mögliche Wirtschaftspolitik aufgezwungen wird; und das politische – andauernde imperialistische Einmischung und Präventivkriege gegen alle, die dagegen etwas einzuwenden haben. Die Länder des globalen Südens, wie die BRICS-Staaten, stützen sich in ihrer Antwort bestenfalls auf ein Standbein: Sie lehnen zwar die imperialistische Geopolitik ab, akzeptieren jedoch den ökonomischen Neoliberalismus.»
In diesem Zusammenhang richtete David Harvey bereits 2003 eine hellsichtige Kritik an die Adresse Chinas als einen von mehreren neuen «Rivalen auf der Weltbühne. Es hat sich etwas herausgebildet, das wir als ‹Subimperialismen› bezeichnen könnten […]. Jedes aufsteigende Zentrum der Kapitalakkumulation hat sich systematisch nach raumzeitlichen Fixes für sein überschüssiges Kapital umgesehen und im Zuge dessen jeweils Anspruch auf eine eigene territoriale Einflusssphäre erhoben.»
Mit Blick auf Chinas Rolle in Lateinamerika haben die linken venezolanischen Oppositionellen Simon Rodriguez Porras und Miguel Sorans kürzlich moniert, dass «die Beziehung des Chavismus zum chinesischen Subimperialismus Züge einer echten Unterwerfung angenommen hat. Chinesische Unternehmen wurden nicht nur an Joint-Ventures beteiligt, vielmehr verschuldete sich Venezuela auch in hohem Maße bei China, um chinesischen Firmen Aufträge für Infrastrukturprojekte erteilen oder chinesische Waren importieren zu können, wobei ein Teil der Kredite durch zukünftige Öllieferungen getilgt werden soll.»
Dennoch ist Vijay Prashad, dem Direktor des Tricontinental Institute for Social Research, zuzustimmen, der anmahnte, es sei «viel mehr historische Übersetzungsarbeit nötig, um richtig zu beurteilen, ob die BRICS-Staaten mit ihren verschiedenen Entwicklungsgeschwindigkeiten subimperialistisch im Sinne Marinis sind. Mit Sicherheit handelt es sich bei ihnen nicht um imperialistische Staaten.»
Noch nicht, um genau zu sein, und zwar vor allem deshalb, weil das Pentagon mit seinen 800 ausländischen Militärbasen und einem jährlichen Budget von 900 Milliarden US-Dollar außer Konkurrenz läuft, woran auch Russlands größeres Atomwaffenarsenal nichts ändert. Sam Moyo und Paris Yeros, zwei andere kritische Wissenschaftler, wiesen 2011 darauf hin, dass die BRICS-Staaten in Wirklichkeit sehr verschieden und voneinander unabhängig agieren: «Die Teilnahme an westlichen Militäreinsätzen fällt von Mal zu Mal sehr unterschiedlich aus, obwohl in alledem eine gewisse ‹Schizophrenie› mitschwingt, die für den ‹Subimperialismus› typisch ist.»
Diese Schizophrenie drückt sich beispielsweise in Lulas Entscheidung aus, 36.000 brasilianische Einheiten nach Haiti zu entsenden, um dort im Auftrag der USA und Frankreichs die Drecksarbeit zu machen und zwischen 2004 und 2017 den Unmut der lokalen Bevölkerung zu unterdrücken; sie zeigte sich auch in Indiens Teilnahme an der Quad-Gruppe, einer von westlichen Mächten dominierten, gegen China gerichteten Militärallianz; oder auch 2021, als Südafrika seine Streitkräfte im Norden Mosambiks einsetzte, um dort die Anlagen von TotalEnergies und ExxonMobil zur Förderung von ‹Blutmethan› vor einem islamistischen Aufstand zu schützen.
Eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung
Könnte die bevorstehende BRICS-Konferenz in Johannesburg angesichts der Pläne zur Erweiterung des Staatenbunds nun zu jenem «riesigen Gamechanger» werden, auf den der brasilianische Journalist Pepe Escobar hofft? Und in welche Richtung wird die Reise gehen?
Der große uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano beschrieb einmal, wie die herrschenden brasilianischen und argentinischen Eliten sich im benachbarten Paraguay «ab 1870 bei der Ausplünderung abwechselten. Gleichzeitig stehen beide unter der Knute der zum gegebenen Zeitpunkt jeweils herrschenden imperialistischen Macht. Paraguay ächzt unter der doppelten Last von Imperialismus und Subimperialismus.»
Und das gilt für uns alle. Die einzig verbleibende Hoffnung liegt in der Ausweitung der mutigen und kraftvollen sozialen Bewegungen, die während der vergangenen Jahre in den BRICS-Staaten entstanden sind. Sie reichen von der brasilianischen Landlosenbewegung über die Antikriegsaktivist*innen in Russland bis hin zu Indiens diversen Massenbewegungen, den zahlreichen Kämpfen chinesischer Arbeiter*innen, den Demokratiebewegungen der Uigur*innen, Tibeter*innen und Hongkonger*innen sowie den südafrikanischen Bewegungen der Student*innen, Gesundheitsaktivist*innen und der Bewohner*innen städtischer Armenviertel. Inspiration kommt auch aus den BRICS+-Staaten, etwa von ägyptischen Menschenrechtsaktivist*innen, progressiven Kräften in Algerien, der argentinischen Anti-Schulden-Bewegung, Boliviens umweltbewussten indigenen Communitys, den emanzipatorischen Kräften in Honduras, den iranischen Frauen, den kasachischen Antiautoritären, der nigerianischen Umweltbewegung, dem palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung und den Reformkräften im Senegal, um nur einige zu nennen. Sie alle eint der Wunsch, in einer Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und ökologische Zerstörung zu leben.
Übersetzung von Maximilian Hauer & Sabine Voß für Gegensatz Translation Collective