Interview | Geschlechterverhältnisse - Queer-Trans Neue Theorien für trans* Kämpfe

Interview mit Pauline Clochec über trans* materialistische Theorien und trans* Aktivismus in Frankreich

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Pauline Clochec
«Unsere Idee war, neue Theorien für unsere trans* Kämpfe zu entwickeln» Pauline Clochec Foto: privat

Pauline Clochec ist Assistenzprofessorin an der Universität von Amiens und lesbische und anarchistische Aktivistin. Mit ihr sprachen Eric Llaveria Caselles und Chris Neuffer über das von Noémie Grunenwald und ihr herausgegebene Buch «Matérialismes trans», trans*materialistische Konzepte und Strategien für trans* Befreiung.

Dein Buch «Matérialismes trans» (trans* Materialismen) stellt marxistische und feministische materialistische Traditionen in den Mittelpunkt der Betrachtung von trans* Leben. Was den französischen Kontext betrifft: Ist Marxismus sonst in trans* Politik abwesend?

Pauline Clochec: Die politische und Organisierungs-Landschaft von trans* Personen in Frankreich ist nicht vollständig entlang von Marxismus, Liberalismus usw. aufgeteilt. Stattdessen kursieren marxistische und liberale, queere und materialistisch-feministische Ideen, die teilweise verschiedene aktivistische Praktiken prägen, ohne dass Organisationen und Kollektive notwendigerweise den Anspruch erheben, diesen Doktrinen vollständig zu folgen.

Marxistischste Elemente finden sich in trotzkistischen Organisationen, in denen es in den letzten Jahren eine wachsende Präsenz von trans* Personen gab, und in trans*kommunistischen Organisationen, die sich auf die Gewerkschaftsbewegung konzentrieren. Sie vertreten einen klassenkämpferischen Feminismus und konzentrieren sich auf trans* Personen aus der Arbeiter*innenklasse – gleichzeitig mangelt es ihnen an Interesse, trans* Sexarbeiter*innen oder sie haben sogar eine feindselige Haltung gegenüber ihren Organisationen. Insbesondere ermutigen sie trans* Personen, den großen Gewerkschaftsorganisationen, so genannten Massengewerkschaften beizutreten.

Eric Llaveria Caselles lehrt und forscht am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin. Er befasst sich mit Trans- und Geschlechtertheorien aus intersektionaler und materialistischer Perspektive. 2022 initiierte er das Projekt «Trans Dialogues on Life, Work and Resistance ».

Chris Neuffer interessiert sich für kritische trans* Politiken, queere Vergnügungsräume und linke Bündnisse in Zeiten der erstarkenden Globalen Rechten. They studiert Kulturwissenschaften, VWL und trans studies in Lüneburg, London und Berlin.

Die materialistische feministische Orientierung, die wir in unserem Buch vertreten, überschneidet sich nicht vollständig mit dieser marxistischen Orientierung, trotz Berührungspunkten wie dem Wunsch nach einer sozialen und feministischen Revolution. Unsere Ideen zirkulieren auf diffusere Weise in einem Netz von Kollektiven - zum Beispiel bei Anarchist*innen, Kommunist*innen, Syndikalist*innen oder bei bestimmten linksradikalen Feminist*innen und Aktivist*innen in der sozialen Familienberatung, von denen immer mehr auch Angebote für trans* Menschen anbieten.

Der Sammelband ist das Ergebnis eines Treffens in Lyon im Jahr 2019. Kannst du etwas über den Kontext dieses Treffens sagen?

Seit den 2010er Jahren gab es in Frankreich bereits materialistische Theorien über trans* sein, aber sie waren ziemlich verstreut und oft in Medien wie Blogs, Fanzines, Threads in sozialen Netzwerken festgehalten. Ich habe diese Konferenz ins Leben gerufen, damit die Menschen, die diese Theorien entwickeln, zusammenarbeiten und Texte erstellen können, die leichter und dauerhaft verfügbar sind.

Die Konferenz war ein unerwarteter Erfolg. Etwa hundert Personen aus mehreren trans* Generationen nahmen teil. Viele von ihnen hatten die queer wave[1] in Frankreich in den 2000er Jahren miterlebt, und wir hatten das Gefühl, dass wir eine theoretische und politische Erneuerung brauchten.

Unsere Idee war es also, neue Theorien für unsere trans* Kämpfe zu entwickeln, mit einem materialistischen Ansatz, der sich mehr auf die sozialen Bedingungen von trans* Personen konzentriert als auf Identitätsfragen, wie es der queere Diskurs zuvor getan hatte.

In deinem Kapitel betonst du die Bedeutung von Transitionen als sozialer Prozess und nicht als eine Frage der Sprache. Kannst du erklären, was du unter «Transition» verstehst? Warum ist das wichtig?

Transitionen haben drei Dimensionen: eine soziale, eine rechtliche und eine körperliche (die nicht in allen Fällen gegeben sind).

Durch die unterschiedlichen, stark verbreiteten Interpretationen von Transitionen im Sinne einer Umdeutung kultureller Zeichen oder sogar einer Krankheit haben der queere und der psychiatrische Diskurs jeweils auf ihre eigene unterschiedliche Weise zu einer Verkennung des Prozesses der Transition beigetragen, so als ob es sich nur um einen psychischen Prozess handeln würde.

Transitionen sind sehr reale, soziale und oft auch körperliche Übergänge von einem Geschlecht zu einem anderen (oder zu einem Dazwischen), und von einer «Geschlechtsklasse» zu einer anderen. Es handelt sich tatsächlich um einen Wechsel des Geschlechts, eine Transformation der sozialen und körperlichen Erfahrung und damit der Position im hierarchisierten Raum der Geschlechterverhältnisse- daher ziehe ich den Begriff «Transsexuation» dem der «Transidentität» vor.    

Die Transition in die symbolische Sphäre zu verweisen, bedeutet, das körperliche Geschlecht unantastbar unter dem Gender zu belassen, als ob es eine unveränderliche Natur wäre. Diese Vorstellung liegt paradoxerweise auch dem Cissexismus[2], der von der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit und dem Übereinstimmen von zugewiesenem und verkörpertem Geschlecht ausgeht, zugrunde. Das trägt zur Naturalisierung des Patriarchats bei [indem Geschlechter und ihre Positionen in der Gesellschaft als unveränderlich festgeschrieben werden, Anm. der Redaktion]. Stattdessen untersuchen wir Transitionen als Prozesse sozialer Mobilität – einer Mobilität, die sich im hierarchischen Raum der sozialen Beziehungen vollzieht.

In liberalen Diskursen zu trans* ist auch oft von mehrfacher Marginalisierung innerhalb der trans* community die Rede (z.B. Klassismus, Rassismus). Wie unterscheidet sich eure trans*materialistische Perspektive davon? 

Wir denken Marginalisierung nicht in moralischen und liberalen Begriffen – Individuen, die Privilegien haben oder nicht –, sondern in Begriffen von sozialen Beziehungen. Denn unsere Gesellschaften sind hauptsächlich durch drei miteinander verflochtene Beziehungen strukturiert: Klasse, Rassifizierung und Geschlecht. Sie führen zu sozialen Kollektiven, die sich jeweils antagonistisch gegenüberstehen. Unsere trans*materialistische Herangehensweise stellt also zugleich eine andere Perspektive auf Geschlechterverhältnisse und Klasse her – sowie auf trans*.  Diese Beziehungen spalten die trans* Bevölkerung und führen zu Ungleichheiten, auch beim Zugang zur Transition.

Ich denke, wir haben in dem Buch bestimmte Phänomene hervorgehoben, die mit dieser sozialen Spaltung in der trans* Bevölkerung zusammenhängen und die der liberale Ansatz ausblendet. Ich denke dabei insbesondere an die Marginalisierung von trans* Frauen, die im Durchschnitt ärmer sind, in queeren gemeinschaftlichen Räumen – dadurch wird in LGBTI-communities die kapitalistische und sexistische Sozialstruktur reproduziert. Oder an die Tendenz weißer Queers, trans* Personen of Color und vorkoloniale, nicht-westliche Geschlechter zu fetischisieren. Wir verstehen diese Ungleichheiten und Dominanzen nicht als individuelle oder vor allem durch trans* Sein verursachte, sondern als kapitalistische, heteropatriarchale und rassistisch-koloniale soziale Beziehungen, die trans* Beziehungen auf spezifische Weise prägen.  

Du und andere Autor*innen arbeitet mit einer Vorstellung von trans* Befreiung als kollektive Wiederaneignung von Körpern. Was bedeutet das und wie hängt es mit Kolonialismus und Rassismus zusammen?

Der Körper ist nicht etwas Gegebenes, das unmittelbar dem Individuum gehört. Es gibt eine soziale Vermittlung zwischen dem Individuum und seinem Körper, darin gibt es unterschiedliche Grade von Autonomie.

Dieser dynamische Aspekt von Körperlichkeit wird im Fall von trans* Personen besonders deutlich. Ihr Zugang zu ihrem Körper wird durch soziale Beziehungen erschwert. Weibliche Körper werden männlich angeeignet, das führt zu einem medizinischen Gatekeeping[3].

Transitionen erfordern daher horizontalere, autonome Sorgepraktiken in der trans* Gemeinschaft, wie die gemeinsame Nutzung von selbst hergestellten Hormonen und eine kollektive Beratung dazu.

Da das Patriarchat mit Rassismus verflochten ist, sehen sich rassifizierte trans* Personen mit besonderen Hindernissen konfrontiert. So werden sie etwa von Ärzt*innen weniger ernst genommen und ihre Transition dadurch verzögert. Dazu kommen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt und Polizeigewalt. 

Welche Art von politischen Bündnissen und Koalitionen sind für trans* Befreiung notwendig? Wäre das noch trans* Politik?

Wir brauchen zwei Dinge. Zum einen brauchen wir autonomen, nicht gemischten trans* community Aktivismus, weil man nicht alles mit cis Personen teilen kann. Zum anderen brauchen wir vielleicht weniger «Allianzen» als die Beteiligung von trans* Menschen an Bewegungen, die die breiteren gesellschaftlichen Verhältnisse angreifen, deren Opfer auch trans* Menschen sind – also feministische, lesbische, antirassistische, antifaschistische und antikapitalistische Bewegungen.

Es geht darum, in diesen Bewegungen zu arbeiten und gleichzeitig die Forderungen von trans* Menschen voranzutreiben, gegen trans*feindliche Machtverhältnisse in diesen Bewegungen vorzugehen.

Aber es ist wichtig, dass wir uns in diesen Räumen nicht nur für die Belange von trans* Menschen einsetzen, denn das ist die Rolle, die uns oft zugewiesen wird, ohne dass man uns je bei anderen Themen zuhört.

Was wünschst du dir für die Zukunft des trans*materialistischen Denkens und Politik? Welche Weiterentwicklung würdest du gerne sehen?

Unsere Transitionen führen nicht dazu, dass unsere geschlechtlichen Identitäten auf einmal auf magische Weise aus der patriarchalen und heterosexuellen Unterdrückung, die vor allem durch Arbeit und Sexualität strukturiert wird, herausfallen. Aus diesem Grund stellen wir diese Herrschaftsverhältnisse in den Mittelpunkt unserer Analyse des Cissexismus.

Wichtig ist daher z.B. materialistische Forschung über trans* und Arbeit. In Frankreich haben Mathis Thomas und Lou Cuenot diesbezüglich großartige erste Schritte unternommen. Diese Arbeiten können sich auf Daten stützen, die aus Erhebungen wie denen von Trans PULSE und der Human Rights Campaign Foundation[4] stammen, und zeigen u.a. Gehaltseinbußen von trans* Frauen.

Es gibt keine «materialistische Politik» als solche, aber es gibt Aktivist*innen, die sich in ihrem Handeln von materialistischen Theorien leiten lassen. Zwei Entwicklungen scheinen mir dabei wichtig: Zum einen die Abkehr von der Fokussierung auf Identitäten und die Konzentration auf die praktische Frage des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, wie es zum Beispiel der Verein RITA[5] tut. Zum anderen geht es nicht nur um gemischtgeschlechtlichen trans*Aktivismus, sondern auch um die Entwicklung von Solidaritätsräumen speziell für trans* Frauen. Dies wird zum Beispiel vom FLIRT-Kollektiv [6]entwickelt. 


[1] In den 2000er Jahren wurden zunehmend queere Texte aus den USA ins Französische übersetzt. Sie wurden von einem Teil der LGBTI-Gemeinschaft aufgegriffen, um eine non-konformistische und revolutionäre politische Praxis zu entwickeln. Diese war jedoch oft auf die Entfaltung von unterschiedlichen Identitäten fokussiert und ließen die «Frauen*frage» außer Acht. Am aktivsten war die französische queere Bewegung in den 2000er Jahren, als sie organisierte Kollektive bildete und Häuser besetzte.

[2] Cissexismus beschreibt eine Privilegierung von cis* Menschen gegenüber trans* Menschen sowie von als cis* konstruierten Eigenschaften und Verhaltensweisen gegenüber als trans* konstruierten Eigenschaften und Verhaltensweisen. Diese Privilegierung mündet oft in Gewalt, Abwertung und Diskriminierung von mit trans* assoziierten Eigenschaften, Körpern und Verhaltensweisen und trans* Menschen. Als Begriff betont Cissexismus die strukturelle Verankerung des Zweigeschlechtersystems und betont dabei die besondere Ablehnung von trans* Personen (anders als es der Begriff Sexismus kann). Anm. der Redaktion

[3] Mit Gatekeeping sind hier alle Handlungen gemeint, die einen Zugang einschränken und kontrollieren und auch in einem Raum alle darin geltenden Regeln setzen und kontrollieren. Anm. der Redaktion

[4] Beide Organisationen sind Umfrageinstitute aus Kanada bzw. den USA, die regelmäßig Erhebungen über den sozialen Status von trans* Menschen durchführen.

[5] RITA ist ein feministischer Verein für community Gesundheit in der inter* und trans* community. Der Verein sitzt in Grenoble und bietet von trans* und/oder inter* Menschen diverses Angebot für alle trans* und/oder inter* und/oder questioning Menschen an. Anm. der Redaktion

[6] FLIRT (front de libération trans fem: transfemme* Befreiungsfront) ist ein Selbsthilfekollektiv von und für trans*feminine Menschen mit Behinderung, die Sexarbeit machen, Migrant*innen sind und unter prekären Verhältnissen leben. Unter anderem veröffentlicht FLIRT Broschüren und Anleitungen für selbstorganisierte Hormonbehandlung und organisiert Veranstaltungen, um Spenden für trans*feminine Personen in Not zu sammeln. Anm. der Redaktion