Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Partizipation / Bürgerrechte - Globalisierung - Europa - Sozialökologischer Umbau - Europa2024 Die EU auf dem industriepolitischen Holzweg

Der Europäische Grüne Deal: Sparmaßnahmen in grünem Gewand statt nachhaltigem Wohlstand

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EU-Kommissarin Ursula von der Leyen spricht auf einer Pressekonferenz zum Europäischen Industrieplan für den Green Deal am 2. Februar 2023. Foto: IMAGO / Le Pictorium

Als die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, im Dezember 2020 erstmals den Europäischen Grünen Deal (EUGD) vorstellte, sahen sich Kommentator*innen mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, zu einem sehr umfangreichen Maßnahmenpaket Stellung zu nehmen. Einige konnten in dem Vorhaben keine grüne Industriepolitik erkennen, vor allem, weil die im EUGD enthaltenen Klimaziele an keinerlei tiefgreifende Maßnahmen auf sektoraler oder volkswirtschaftlicher Ebene geknüpft waren.

Damals schien die Europäische Kommission nicht gewillt zu sein, das Thema ernsthaft anzugehen, da sie sich vor der politischen Kehrtwende scheute, die für eine gemeinsame Industriepolitik erforderlich wäre, und sich seit jeher gegen solche Konzepte ausgesprochen hat. Doch drei Jahre später, nach einer Reihe von destabilisierenden globalen Ereignissen, haben die Reaktionen der Staaten, der internationalen Finanzinstitutionen und der globalen Märkte die politische Landschaft in Europa und der ganzen Welt drastisch verändert.

Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager im Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit den Schwerpunkten sozialökologische Transformation, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit sowie deren Überschneidungen mit linker Politik.

Die Corona-Pandemie und die anschließenden Strategien des globalen Nordens zur Ankurbelung der Wirtschaft, der dramatische Anstieg der Staatsverschuldung in den Entwicklungsländern (als Folge des «business as usual»-Kurs der globalen Institutionen), der Ukraine-Krieg, der die Energiekrise verschärft hat, und die Unterbrechung der globalen Wertschöpfungsketten haben das, was viele heute als «Polykrise» bezeichnen, ausgeweitet und vertieft. Europa selbst kämpft mit dem drastischen Anstieg der Inflation und der daraus resultierenden Lebenshaltungskostenkrise, die größtenteils durch gezielte Preissteigerungen seitens großer, marktbeherrschender Unternehmen angeheizt wird. Diese um sich greifende soziale Krise hat deutlich gemacht, dass Europa den Umbau seiner konzerngetriebenen, von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaft beschleunigen muss. Gleichzeitig gaben die Entwicklungen kritischen Stimmen Recht, die schon zuvor auf den ungerechten und unzureichenden Charakter der Initiative hingewiesen hatten.

Der jüngst angekündigte US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) wurde weithin als Bestätigung eines möglichen politischen Paradigmenwechsels interpretiert, der sich bereits während der Pandemie abgezeichnet hatte. Diese in hohem Maße protektionistischen Maßnahmen sollen die USA im Wettlauf um digitale und grüne Technologien in eine Spitzenposition versetzen. Der IRA ist ein deutliches Signal dafür, dass die vom Washington-Konsens geprägte neoliberale Ära in ihrer bisherigen Form an ihr Ende kommen könnte.

Die aktuellen politischen Entscheidungen der EU offenbaren jedoch die Widersprüche und Ungereimtheiten ihres grünen Transformationsprojekts. Obgleich er vorgeblich den Weg zu einem neuen sozial-ökologischen Modell bereiten soll, weigert sich die EU, ihre Beziehungen zu privatwirtschaftlichen Kapitalinteressen neu zu gestalten. Folglich droht das Projekt auf Kosten von Klima und sozialer Gerechtigkeit in Europa und der ganzen Welt zu scheitern.

Europas verpasste Chance auf ein alternatives Modell

Die Europäische Kommission stellt ihren Grünen Deal als Maßnahmenpaket dar, das die Europäische Union in das 21. Jahrhundert führen wird. Ein Blick auf die Struktur der Initiative verrät uns viel darüber, wie die EU ihren Übergang bislang gestaltet hat: mit einem hohen Grad an Finanzialisierung, marktorientiert und ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen.

Das Europäische Klimagesetz schreibt die übergreifenden Ziele der EU zur Reduzierung der Treibhausgase fest, insbesondere die Reduzierung der Emissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 und das Erreichen von Klimaneutralität bis 2050. Es ist jedoch wichtig, über diese Zahlen hinauszugehen und die tieferliegenden sozioökonomischen Strukturen zu analysieren, auf deren Grundlage diese politischen Ziele erreicht werden sollen.

Ein genauerer Blick auf das Kernstück des Grünen Deals, das sogenannte «Fit for 55»-Paket, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Seine wichtigsten Elemente sind wie folgt:

  • Ausweitung und Vertiefung der EU-Kohlenstoffmärkte durch die Schaffung eines zweiten Emissionshandelssystems (ETS 2), das auch den Verkehrs- und Gebäudesektor einbezieht   
  • Ambitioniertere Ziele im Bereich erneuerbare Energien
  • Schaffung eines europäischen Mechanismus zum Ausgleich der Kohlenstoffgrenzwerte (Carbon Border Adjustment Mechanism - CBAM)

Neben dem Fit-for-55-Paket haben die Mitgliedstaaten auch die EU-Taxonomie für eine nachhaltige Finanzwirtschaft verabschiedet, mit der Anreize für Investitionen in bestimmte Wirtschaftszweige einhergehen. Die Aufnahme von Gas und Atomkraft in die «Liste nachhaltiger Geldanlagen» (ein Schritt, auf den Deutschland in Bezug auf Gas und Frankreich für Kernenergie gedrängt haben) widerspricht jeglicher Klimaschutzlogik und offenbart, dass den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen der Energiewirtschaft Vorrang gegenüber den Dekarbonisierungszielen eingeräumt wurde. Die Ausgestaltung der Taxonomie selbst, die statt konkrete Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen auf Preissignale setzt, um Investitionen in kohlenstoffarme Aktivitäten umzulenken, ist ein gutes Beispiel für den konzertierten Vorstoß zur Finanzialisierung der Energiewende.

Auch linke Parteien und Gewerkschaften in ganz Europa haben ETS 2 wegen seiner rückschrittlichen Aspekte heftig kritisiert. Die Einführung eines Mindestpreises für Kohlenstoffemissionen im Gebäude- und Verkehrssektor wird die Ausgaben normaler Haushalte für Wohnraum und Individualverkehr voraussichtlich ansteigen lassen. Diese Kohlenstoffsteuer wird die ärmsten Haushalte potenziell am stärksten betreffen.

Der CO2-Grenzausgleichmechnismus CBAM ist das jüngste marktbasierte Instrument der Europäischen Kommission. Dieser neue Marktmechanismus folgt mit seiner Bepreisung von Emissionen dem allgemeinen Prinzip der Kohlenstoffmärkte und zielt auf die ausländische Industrieproduktion ab. Die Entwicklung des CBAM ist eine Begleiterscheinung des EU-internen Emissionshandels (ETS 1 und 2) und soll die geplante sukzessive Verringerung kostenfreier Emissionsgenehmigungen ausgleichen, die derzeit die Mehrheit der emissionsintensivsten Industriezweige (welche früher für 94 Prozent der EU-Emissionen verantwortlich waren) von den Preisbildungsinstrumenten dieser Märkte abschirmen.

Der Abbau dieser Ausnahmeregelungen könnte europäische Industriebranchen und ihre Erzeugnisse benachteiligen, so dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren, wodurch weitere Anreize für die Verlagerung der entsprechenden Produktion geschaffen werden – eine Dynamik, die auch als «Carbon Leakage» bezeichnet wird. Der CBAM, der solche Verlagerungen emissionsintensiver Produktionszweige ins Ausland verhindern soll, könnte direkt zu einer Benachteiligung der Entwicklungsländer sowie der am wenigsten entwickelten Länder führen und damit gegen die im Pariser Abkommen festgelegten Leitprinzipien der Gerechtigkeit und der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung verstoßen.

Eine der wenigen speziell auf soziale Belange ausgerichtete Maßnahmen im Rahmen des Grünen Deals ist der soziale Klimafonds, der jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Dieser neue Finanzierungsmechanismus soll die Auswirkungen des ETS 2 auf EU-Bürger*innen abfedern. Allerdings wurde er für die Laufzeit von 2026 bis 2032 auf 86,7 Milliarden Euro gekürzt. Nur 40 Prozent der Gesamtmittel sollen direkt an Haushalte fließen. Auch das zeigt, dass die politische Entscheidung, vorrangig auf Kohlenstoffmärkte zu setzen, den Kontinent weiter vom Ziel eines gerechten Übergangs abbringt.

Während besonders umweltbelastende Industrien und fossile Energieunternehmen in der EU oft von Steuern und strengen Vorschriften verschont und so von ihrer historischen Verantwortung für die Klimakrise entbunden werden, können die wenigen umgesetzten Sozialmaßnahmen kaum verhindern, dass es am Ende größtenteils die EU-Bürger*innen und insbesondere die am stärksten Benachteiligten sein werden, die den Preis für die Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft zahlen werden.

Dass die europäische Öffentlichkeit gegenüber privaten Kapitalinteressen das Nachsehen hat, erklärt zum Teil auch den alarmierenden Erfolg, mit dem rechte, rechtsextreme und zuweilen sogar liberale Parteien gegen Maßnahmen mobilisiert haben, die Brüssel als deutliche Fortschritte in der Klimapolitik angepriesen hat. Das Auslaufen des Verbrennungsmotors in Europa bis 2035 und die laufenden Diskussionen über das Verbot von Gasboilern in Haushalten bis 2029 sind konkrete Beispiele dafür, wie es rechten Kräften – begünstigt von einer Mischung aus Angst, Konjunktursorgen, Frustration und einem verzerrten Freiheitsverständnis – gelungen ist, bestimmte Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen, indem sie das Konzept des grünen Übergangs von Grund auf ablehnen.

Die falschen Versprechen des grünen Industrieplans

Die EU hat mit dem Industrieplan zum Grünen Deal (Green Deal Industrial Plan, GDIP) kürzlich eine umfassende industriepolitische Strategie vorgestellt, die die eklatante Lücke schließen soll, die der Grüne Deal im Bereich der industriellen Planung hinterlassen hat. Aber auch hier scheint es, als sollten die fortschrittlich und ehrgeizig klingenden Etiketten der Europäischen Kommission ihr Unvermögen verschleiern, über den politischen und wirtschaftlichen Status quo hinauszugehen.

Tatsächlich konzentriert sich der Net-Zero Industry Act (NZIA, der wichtigste Gesetzesvorschlag) weitgehend auf die Allokation von privatem Kapital für einige wenige Sektoren wie Wasserstoff, Energiespeicherung und Batterien. Deren Weiterentwicklung sieht die EU als entscheidend, um der Region Wettbewerbsvorteile in einer globalen grünen Wirtschaft zu verschaffen. Das offensichtliche Fehlen eines neuen öffentlichen Investitionsprogramms bei einer gleichzeitig wachsenden Anzahl von Instrumenten zur Sicherung der Kapitalrendite und Deregulierung bei der Erteilung von Genehmigungen verfestigt ein makroökonomisches Modell in Europa, das die Ökonomin Daniela Gabor kürzlich als «(europäischen) De-Risking-Staat» bezeichnete, der, «nach und nach aus den politischen Entscheidungen der Spitzenbeamt*innen erwächst, um die Kapitalakkumulation zu fördern und den Finanzkapitalismus zu rationalisieren».

Sie beschreibt den GDIP als eine neue Form der Beziehung zwischen Staat und Finanzkapital, die in die makrofinanzielle Architektur der EU eingeschrieben ist, die ihrerseits einen strukturellen Mangel an gemeinsamer Steuerkapazität aufweist. Gabor zeigt auf, dass die umfangreichen staatlichen Beihilfen für Mitgliedstaaten, die die Netto-Null-Industrie-Verordnung (Net Zero Industry Act - NZIA) vorsieht, an sich zwar ein historisches Novum sind, in Wirklichkeit jedoch nur darauf abzielen, in Form von öffentlichen Garantien zusätzliche Anreize für private Investitionen in saubere Technologien zu schaffen.

Es gibt viele aktuelle Beispiele dafür, dass der Abbau staatlicher und öffentlicher Kapazitäten zugunsten globaler Finanzakteur*innen nicht zu den erwünschten Ergebnissen führt. Hauptursächlich dafür sind unzureichende private Finanzmittel, volatile Kapitalströme, die sich an kurzfristigen Rentabilitätszielen orientieren, und die äußerst ineffiziente Verwendung öffentlicher Mittel.

Die EU im Wettrennen um grünes Wachstum

Die Vorhaben der EU entwickeln sich natürlich nicht im luftleeren Raum, schließlich haben auch andere Weltmächte Pläne entwickelt, um im Wettlauf um eine digitale und grüne Transformation mitzuhalten. So wurde der GDIP als unmittelbare und überstürzte Antwort auf den Inflation Reduction Act der Biden-Regierung beschrieben, der wiederum eine Reaktion auf Chinas 2015 lancierte Strategie «Made in China 2025» zu sein schien.

Die im Rahmen des IRA für die nächsten zehn Jahre vorgesehenen öffentlichen Investitionen in Höhe von 370 Milliarden US-Dollar – einigen Schätzungen zufolge könnten es sogar rund 900 Milliarden US-Dollar sein –, sollen die Treibhausgasemissionen der USA bis 2030 um über 40 Prozent senken. Das Gesetz markiert eine Abkehr von der neoliberalen Orthodoxie, räumt es dem Staat doch beim Übergang zu einer grünen Wirtschaft eine führende Rolle ein. Der IRA umfasst Steuererleichterungen sowie umfangreiche Darlehen und Zuschüsse unter anderem in den Bereichen saubere Energie, Verkehr und Infrastruktur. Dass öffentliche Mittel und Steuerbefreiungen nur bei Einhaltung von Arbeits- und Lohnstandards gewährt werden, steht im deutlichen Gegensatz zum GDIP, der keinerlei konkrete Regelungen für einen gerechten Übergang enthält.

Der IRA kopiert auch Chinas Vorhaben, große Teile der Produktionskapazitäten durch Steueranreize ins Inland zu holen (Onshoring). Dank seiner gut aufeinander abgestimmten Maßnahmen wird China seine führende Position in der weltweiten Produktion sauberer Energie sicherlich stärken. Die US-amerikanische Industrie steht in dieser Hinsicht an zweiter Stelle, was die Aussichten der EU trübt, inländische Wertschöpfungsketten aufzubauen und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen.

Keine Transformation unter Sparzwang

Als wären Europas Bemühungen um eine grüne Industrie nicht ohnehin schon inkohärent und von widersprüchlichen Interessen gehemmt, sehen sich Mitgliedstaaten und EU-Bürger*innen nun gezwungen, in die Zeiten der Schuldenbremse und restriktiver Haushaltsvorschriften zurückzukehren – mit anderen Worten, in die Ära der Austerität.

Obgleich einige Kernpunkte des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts während der Corona-Krise ausgesetzt wurden und als Reaktion auf die Folgen des Ukraine-Krieges vorerst ausgesetzt bleiben, wird dieser Ausnahmezustand bald enden. Die Kommission hat jüngst einen Vorschlag für ein neues Regelwerk zur wirtschaftspolitischen Steuerung vorgelegt, das weder über das Prinzip der Schuldenkontrolle hinausgeht noch den notwendigen geldpolitischen Rahmen für einen Kurswechsel im Bereich der öffentlichen Ausgaben bietet.

Wie Gabor in ihrem Beitrag hervorhebt, birgt das Festhalten an diesen volkswirtschaftlichen Grundsätzen sowie die Verhinderung solidarischer Ansätze in der Finanz- und Haushaltspolitik vor dem Hintergrund auslaufender staatlicher Beihilfen die Gefahr, die Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten zu vertiefen. Gegenwärtig vergrößert sich die Kluft zwischen solchen Mitgliedstaaten, die zumindest bis zu einem gewissen Grad in der Lage sind, sich Mittel auf den globalen Finanzmärkten zu beschaffen (Deutschland und Frankreich), und denjenigen ohne ausreichenden Zugang zu nachhaltigen Finanzierungsmöglichkeiten (insbesondere die osteuropäischen Länder).

Zugespitzt wird die Situation durch die Pläne der deutschen Regierung, die – im Einklang mit Berlins Festhalten an dem neoliberalen Dogma – auf eine weitere Verschärfung der haushaltspolitischen Leitlinien der EU drängt. Diese Forderungen nach einer Rückkehr zu einer EU-weiten Sparpolitik erscheinen besonders verlogen angesichts der Tatsache, dass Deutschland im Alleingang ein riesiges Programm zur Förderung der heimischen Industrie und der Rettung privater Energieunternehmen aufgelegt hat, die noch vor weniger als zwei Jahren vor dem Bankrott standen.

Entwurf einer linken Alternative

Entgegen Ursula von der Leyens ehrgeiziger Rhetorik setzt die Europäische Union bislang darauf, die Energiewende im Rahmen einer neoliberalen Politik zu meistern. Unter dem Deckmantel des Grünen Deals und des grünen Industrieplans fügt sich Europas Übergang zu einer grünen Wirtschaft den Interessen der großen emissionsintensiven Branchen und der fossilen Energiewirtschaft und geht mit einer beschleunigten und verstärkten Finanzialisierung der Wirtschaft einher – auf Kosten der globalen ökologischen und sozialen Gerechtigkeit.

Ganz im Sinne des Grünen Deals legt der Net-Zero Industry Act einen klaren Schwerpunkt auf den strategischen Zugang zu Mineralien, die für grüne Technologien benötigt werden. Diese globale Vision, die die Kommission im Europäischen Gesetz zu kritischen Rohstoffen (Critical Raw Material Act) formuliert hat, basiert auf der Anbahnung strategischer Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern und der Vorgabe, dass 40 Prozent der Mineralien auf EU-Gebiet veredelt werden müssen. Dieser Ansatz garantiert die Ausweitung eines räuberischen Extraktivismus, der durch unfaire Freihandelsabkommen und eine zunehmende Zerstörung von Communitys und ihren natürlichen Lebensbedingungen im globalen Süden ermöglicht wird. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen, politischen und materiellen Bedingungen einer ungleichen Entwicklung aufrechterhalten.

Kurzfristig sollten fortschrittliche Akteur*innen und linke Kräfte jedoch die offensichtlichen Brüche mit der neoliberalen Orthodoxie aufgreifen und sie als Ansatzpunkte für die Entwicklung eines radikal anderen Wirtschaftsmodells nutzen. Das gilt vor allem für die Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe, die etwa in den erneut gelockerten Vorschriften für staatliche Beihilfen offenbar wurde. Marktanteile oder Wirtschaftswachstum können nicht die zentralen Erfolgskriterien einer linken Industriepolitik sein.

Während der Ausbau öffentlicher Dienstleistungen und Infrastruktur gefördert werden sollte, können schmutzige und unnötige Branchen (wie die kunststoffverarbeitende Industrie und andere petrochemische Branchen) rückgebaut werden. Gleichzeitig sollte der auf fossile Konzerne und Finanzspekulation zugeschnittene EU-Energiemarkt abgeschafft werden. Bei der Entwicklung einer grünen Industriepolitik in Europa sollte der universelle Zugang zu modernen Gesundheitssystemen und nachhaltige Lösungen für die breite Verfügbarkeit von erschwinglichem Wohnraum im Vordergrund stehen. Die Umstrukturierung und Dekarbonisierung des europäischen Ernährungssystems, das für 31 Prozent der Gesamtemissionen auf dem Kontinent verantwortlich ist, sollte nicht nur als klima- und umweltpolitische Priorität betrachtet werden, sondern auch als seltene Gelegenheit zur Schaffung neuer Wertschöpfungsketten und gut bezahlter Arbeitsplätze.

Darüber hinaus sollte eine neue EU-Industriepolitik darauf abzielen, regionale Ungleichgewichte innerhalb der Union zu verringern und gleichzeitig eine Verlagerung hin zur öffentlichen Verwaltung ressourcenintensiver Sektoren (Chemie- und Zementindustrie, Verkehr und Energieerzeugung) einzuleiten. Zudem sollte sie die ökologisch notwendige Verkleinerung einiger dieser Sektoren erleichtern, indem sie den Druck der Profitlogik und der Finanzmärkte auf sie abschwächt.

Anstatt lediglich Anreize dafür zu schaffen, dass private Kapitalanleger*innen in einige wenige Wirtschaftssektoren investieren, sollte eine sozialistische Industriepolitik der Stärkung der öffentlichen Gestaltungsmacht Vorrang einräumen. Nur so können wir rechtzeitig eine Dekarbonisierung der Wirtschaft erreichen und gleichzeitig die Lebensbedingungen der Mehrheit verbessern.

Die institutionelle Vereinnahmung von Begriff und Praxis des «grünen Übergangs» durch Europas neoliberale politische Eliten, verschärft aktuell zwei sich gegenseitig verstärkende globale Bedrohungen. Dabei handelt es sich erstens um die Zuspitzung der Klima- und Umweltkrise und die fortschreitende Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, während die globale Ungleichheit zwischen und innerhalb der Gesellschaften des Nordens und des Südens wächst. Die zweite Bedrohung betrifft die Zukunft der Demokratie in Europa. Der Aufstieg rechtsextremer Parteien, die sich die Folgen der Klimakrise und des profitorientierten grünen Wandels zunutze machen, ist schon jetzt ein zutiefst alarmierendes Phänomen. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte sich die Unterstützung der Bevölkerung für den Ökofaschismus und andere rechtsextreme Weltanschauungen als äußerst hartnäckig erweisen.

Vor diesem Hintergrund muss sich die Linke in Europa weiterhin gegen die Prinzipien und Logiken stellen, die der aktuellen Industriepolitik der EU zugrunde liegen. Gleichzeitig muss sie auf der Grundlage politischer Richtlinien konkrete Ansätze für eine von der Öffentlichkeit gesteuerte industrielle Transformation entwickeln, bei der die Allokation von Ressourcen und Gütern Teil eines demokratischen Prozesses ist, der Menschen und Gesellschaften überall auf dem Planeten eine würdige und gerechte Zukunft ermöglicht. Einzig und allein dieser Weg kann unsere Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten davor bewahren, zwischen Klimaschutz und sozialem Wohlstand wählen zu müssen.

Übersetzung von Cornelia Gritzner und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.