An einem warmen Morgen im Juni dieses Jahres zieht eine kleine Gruppe von Menschen durch die Straßen von Tatabánya, einer mittelgroßen postindustriellen Stadt eine Stunde nordwestlich von Budapest. Sie haben es eilig, denn die Räumung ist für elf Uhr angesetzt. Als sie die Wohnung erreichen – zwei schäbige Zimmer im zweiten Stock –, bleibt ihnen genügend Zeit, um noch einmal alles mit der Mieterin Erzsébet zu besprechen, ihre Rucksäcke in eine Ecke zu stellen, ein handgeschriebenes Plakat mit der Aufschrift «Ein Zuhause für alle!» an der Tür anzubringen und sich vor dem Eingang aufzustellen. Dann warten sie, bis die Polizei auftauchen und sie aller Voraussicht nach abführen, die Tür versiegeln und Erzsébet auf die Straße setzen wird. Die Frau mittleren Alters, die derzeit als Reinigungskraft arbeitet, lebt seit den 90er Jahren in der Wohnung und ist in den letzten Jahren in Zahlungsrückstand geraten. «Es sieht nicht gut aus; es gibt eine Chance von höchstens fünf Prozent, dass wir die Räumung verhindern», sagt der Aktivist, der die Protestaktion leitet. Die Stadtverwaltung wolle einfach nicht einlenken, trotz der Versuche von Interessengruppen, Politiker*innen und Wohlfahrtsverbänden, eine Lösung zu finden.
Áron Rossman-Kiss lebt in Budapest. Er ist Forscher, Aktivist, Künstler und Mitglied von Szikra.
Die Gruppe steht in zwei Reihen vor dem Eingang. Kurz nach elf Uhr kommen ein Mann und sein Helfer mit einer Bohrmaschine die Treppe hinauf. Gerichtsvollzieher? Die Aktivist*innen pfeifen sie aus und machen Fotos. Polizist*innen kommen ein paar Mal fast bis nach oben und warten schließlich unten. Dort schreiben sie einen Strafzettel wegen Falschparkens. Eine Frau mit einem Dokument in der Hand bleibt im Flur stehen. Ein Mitglied der Gruppe überträgt die Szene per Livestream. Weitere Anrufe. Stunden vergehen.
Und dann kommt die Nachricht, erst inoffiziell, unter Vorbehalt und etwas zögerlich, doch dann ist es offiziell: Die Menschenkette hat funktioniert. Die Räumung ist aufgeschoben.
Eine Momentaufnahme Ungarns
Zur Gruppe, die an diesem Tag die Räumung verhinderte, gehörten Mitglieder der Budapester Bürgerinitiative «AVM» (Die Stadt gehört allen), Aktivist*innen der grünen Partei Párbeszéd (Dialog) und der links-grünen Bewegung Szikra (Funke). Der Aktivist, der die Aktion per Livestream übertrug, ist der Abgeordnete András Jámbor, der im April 2022 entgegen allen Erwartungen für Szikra ins Parlament gewählt worden war.
Die erfolgreiche Verhinderung einer Räumung ist nach wie vor ein seltener Erfolg, vor allem außerhalb Budapests. Doch abgesehen von diesem Erfolg zeichnen die Umstände an diesem Morgen ein klares Bild vom heutigen Ungarn.
Wie in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde auch in Ungarn der vormals staatliche Gebäudebestand nach dem Regimewechsel von 1989 fast vollständig privatisiert. In Ermangelung einer politischen Strategie oder eines politischen Willens – in Ungarn gab es in den letzten 30 Jahren weder ein Wohnungsbauministerium noch eine zentrale Wohnungsbehörde – wirkt sich jede Krise unmittelbar auf die ohnehin schon prekären Wohnverhältnisse aus. Dies gilt insbesondere für Orte wie Tatabánya. Obwohl der starke Abschwung der 90er Jahre andere Regionen härter traf, verschlechterte der Niedergang der Schwerindustrie und des Bergbaus die Einkommensmöglichkeiten der Bevölkerung erheblich.
Ein Großteil der Mittelschicht, die sich in der Zeit des Aufschwungs in den 2010er Jahren bildete, zog in die nahegelegenen Vorstädte. Staatlich finanzierte Kulturhäuser, die einst im Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens standen, wurden geschlossen und der Zugang zum Bildungswesen erschwert, während die Bevölkerungszahl stetig abnahm. Angesichts stark gekürzter Sozialleistungen rutschten immer mehr Menschen in die Schuldenfalle, vor allem diejenigen, die, wie Erzsébet, auf irreguläre, informelle Jobs angewiesen sind. Das Wohnen in einer der wenigen noch vorhandenen Sozialwohnungen hätte ihr eigentlich Schutz bieten sollen, insbesondere in einer Stadt, die 2019 einen oppositionellen Bürgermeister ins Amt gewählt hatte. Doch wie auch in anderen Städten war seine Amtszeit größtenteils von internen Streitigkeiten innerhalb der lokalen Opposition, dem Fehlen einer gesellschaftlichen Vision sowie der Unfähigkeit und dem Unwillen geprägt, angesichts der unnachgiebigen Feindseligkeit des Orbán-Regimes eine oppositionelle politische Bewegung aufzubauen. Es nimmt also kaum wunder, dass in einem solchen Umfeld ein teilprivatisiertes, auf Profit ausgerichtetes und mit den höchsten Führungsspitzen des Staates verflochtenes Inkassosystem gedeihen konnte.
Viktor Orbáns fünfte Amtszeit ist geprägt von einem Sozialsystem, das sich an den Bedürfnissen der Mittel- und Oberschicht orientiert, von zunehmender Ungleichheit und einer Verflechtung von öffentlichem und privatem Sektor, die Härte und Gier zutage treten lässt, sowie von steigender Verschuldung und Auswanderung. Gleichzeitig ist die Opposition weitgehend orientierungslos und handlungsunfähig. Die Zwangsräumung einer einzigen Frau zu stoppen, mag unter derartigen Umständen kaum ins Gewicht fallen. Aber der Vorgang zeigt, dass bereits eine Handvoll entschlossener Aktivist*innen etwas bewirken kann. Es sind diese kleinen Siege, auf denen die Linke aufbauen kann, um für eine tragfähige Alternative zu mobilisieren.
Das wahre Gesicht des Orbánismus
Erzsébets Situation ist im heutigen Ungarn keine Ausnahmeerscheinung. Zur Halbzeit von Orbáns vierter Amtszeit seit seiner Rückkehr an die Macht – er war bereits zwischen 1998 und 2002 Ministerpräsident – ist die Inflation in Ungarn die mit Abstand höchste in der EU, fast doppelt so hoch wie in den Ländern, die Ungarn auf der Rangliste der Inflationsrate folgen. Die Teuerung bei Lebensmitteln ist auf über 30 Prozent gestiegen. Während viele Unternehmen außergewöhnliche Gewinne einfahren, sind die Reallöhne seit fast einem Jahr rückläufig. Ungarn ist international isoliert, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich zunehmend.
Ministerpräsident Orbán hat deshalb ein umfassendes Sparpaket auf den Weg gebracht, die Steuern erhöht und gleichzeitig den Großteil der ohnehin spärlichen Sozialleistungen und Subventionen gestrichen, die in den letzten zehn Jahren eingeführt worden waren. Allein in den letzten Wochen hat die Regierung die Preisobergrenzen für bestimmte Lebensmittel abgeschafft, zusätzliche Steuern auf pharmazeutische Produkte eingeführt, die Kapazität der öffentlichen Postdienste weiter massiv reduziert und Zugverbindungen stillgelegt. Und auch die seit über einem Jahr anhaltenden Proteste der Lehrer*innen im ganzen Land – ihr Einstiegsgehalt beträgt weniger als 700 Euro – konnten nicht verhindern, dass die Regierungsmehrheit für die Abschaffung des Beamtenstatus von Lehrer*innen stimmte, was den Bildungssektor weiter in die Prekarität treiben wird. Einige Wochen nach der Abstimmung machte der Regierungssprecher die Roma und Romnja für die landesweit schlechten Schulergebnisse verantwortlich.
Zur Wahrheit gehört eben auch die Tatsache, dass Orbáns Amtsübernahme in die Zeit fiel, als ein erweiterter EU-Kohäsionsfonds freigegeben wurde und die Staatengemeinschaft einen langsamen, aber stetigen Aufschwung erfuhr. Mit der Industrie kamen auch die Jobs.
Nach dreizehn Jahren regiert die Orbán-Regierung weniger mithilfe von Mobilisierung als durch Politikverdrossenheit. Entscheidungen werden willkürlich und zentralistisch getroffen, und die staatlich kontrollierten Medien treiben die Propagandamaschinerie unaufhörlich an. So wie Staat und Partei untrennbar miteinander verwoben sind, wurden auch die öffentlichen Strukturen in Schlüsselbereichen wie Bildung, Gesundheit und Infrastruktur auf einzigartige Weise ausgehöhlt. Es verwundert daher nicht, dass die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus selbst im weltweiten Vergleich schockierend hoch lag. Dies könnte zumindest dazu beitragen, das wahre Gesicht eines Regimes zu enthüllen, das sich anscheinend an der Verwirrung erfreut, die seine hybride Natur bei Kommentator*innen, Akademiker*innen und Politiker*innen (bei Freunden wie Feinden) hervorgerufen hat. Die Regierungspropaganda hat ein eigenes Kraftfeld geschaffen, das durch sich anbiedernde internationale rechtsextreme Kräfte gestützt wird, die Budapest als eine Bastion des Westens, des Weißseins, der Familie und der Tradition sehen.
Auf den ersten Blick lassen einige der politischen Maßnahmen, etwa die Wiederverstaatlichung des ungarischen Energieversorgungs- und Rentensystems, den Eindruck entstehen, Ungarn verfolge eine Umverteilungs- oder Entwicklungsagenda. Doch sollte der Hinweis auf Orbáns demonstrative Teilnahme an Margaret Thatchers Beerdigung nicht ausreichen, dürfte der Verweis auf das ungarische Pauschalsteuersystem, die Aushöhlung der Sozialleistungen und die drakonischen arbeiterfeindlichen Gesetze den tatsächlichen politischen Kurs des Orbán-Regimes verdeutlichen.
Dennoch lässt sich feststellen: So wie die meisten Menschen in Ungarn nicht für die umfassende Privatisierung gestimmt haben, die nach 1989 einsetzte, bestätigen Umfragen regelmäßig, dass der Großteil der Bevölkerung auch heute noch eine staatliche Sozialfürsorge und Umverteilungspolitik bevorzugt, die der aktuellen Regierung ein Gräuel sind. Selbst ein Thema wie die gleichgeschlechtliche Ehe, die von der Regierung und ihren Propagandist*innen mit Inbrunst verteufelt wird, genießt die Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit. Und doch ist es nur sporadisch zu Mobilisierungen gegen Orbáns Fidesz-Partei gekommen. Viele der Protestbewegungen waren nicht in der Lage, die weit verbreitete Wut zu kanalisieren und in Unterstützung für sich umzuwandeln, oder kehrten zurück zu liberalen Plattitüden, sobald ihr Schwung ins Stocken geriet.
Wie aber sind diese scheinbaren Widersprüche zu erklären? Die Echokammern der Opposition sind daran nicht ganz unschuldig, allerdings sollte auch die Rolle von Zensur und Fake News in der regierungsgesteuerten öffentlichen Medienlandschaft nicht unterschätzt werden. Die Komplizenschaft transnationaler Unternehmen und der sich global vollziehende industriepolitische Wandel haben ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Was die EU angeht, so ist deren Selbstgefälligkeit im Umgang mit Ungarn schmerzhaft offensichtlich: Kommission und Rat haben die Entscheidung über das Einfrieren von Finanztransfers bis vor Kurzem immer weiter verschoben – obwohl die systematische Weiterleitung dieser Gelder an Orbáns Politik- und Geschäftsfreunde in den letzten 14 Jahren hinreichend dokumentiert ist. Und nicht zuletzt gingen die ersten Jahre des Regimes mit einer Reorganisierung der Wirtschaft einher, die einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung materielle Vorteile brachte – selbst wenn diese prekär und ungleich verteilt waren.
Die goldenen Jahre
Diese ersten Jahre des Orbán-Regimes spielen bis heute eine entscheidende Rolle, die Legitimität des Regimes beruht noch immer zu einem Großteil auf den Erinnerungen an die späten 2000er Jahre (ein Trauma, das in den Nachrichtenzyklen regierungsfreundlicher Medien regelmäßig aufs Neue beschworen wird). Die Öffnung des Landes für globale Kapitalflüsse – damals von den lokalen Eliten und internationalen Institutionen als Beweis für die Wirtschaftsentwicklung angepriesen – bedeutete im Umkehrschluss, dass Ungarn sehr anfällig geworden war, als die Finanzkrise die Welt 2008 mit voller Wucht traf. Äußerst strenge Sparmaßnahmen und umfassende Privatisierungen, die zunächst von einer nominell sozialistisch geführten Regierung unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány und später dem «Technokraten» Gordon Bajnai vorangetrieben wurden, führten dazu, dass Hunderttausende ihre Arbeit, Ersparnisse und Zukunftsaussichten verloren. Viele konnten die in Fremdwährungen geführten Hypotheken nicht länger bedienen und fanden sich in der Sackgasse zwischen Gelegenheitsarbeiten und einem Leben in Elend wieder. Andere suchten ihr Auskommen auf dem flexiblen Arbeitsmarkt der EU-Kernmitglieder im Westen, wo sich die Arbeitskräfte aus dem Osten als unverzichtbar erwiesen. Angesichts der Sprachlosigkeit der Sozialist*innen und des Drucks und der Täuschung durch internationale Institutionen (wie EU und Internationaler Währungsfonds) kam es zu sozialen Verwerfungen, die sich in zahllosen Zwangsräumungen, vielen Morden an Roma und Romnja und dem Aufstieg rechtsextremer Milizen manifestierten. Mit ihrem «Ungarn zuerst»-Diskurs hatte Fidesz, wenig überraschend, vor diesem Hintergrund großen Erfolg. Dabei ging es jedoch nicht in erster Linie darum, das «richtige» Narrativ zu bedienen. Die Basis des Erfolgs lag vielmehr darin, dass es der Partei in den Jahren der Opposition gelungen war, eine landesweite Bewegung aufzubauen, die in einer von den nicht eingelösten Versprechungen des Regimewechsels weitgehend enttäuschten Gesellschaft milieuübergreifend mobilisieren konnte.
Bei allem politischen Geschick Orbáns wäre eine solche Entwicklung nicht möglich gewesen, hätte ein großer Teil der wirtschaftlichen Eliten in Ungarn nicht die Seiten gewechselt und sich auf diese neue Allianz eingelassen. In Polen hatte sich eine unzufriedene Unternehmerklasse mit einer wiedererstarkenden nationalistischen Rechten im Gewand von Kaczyńskis PiS verbündet. In Ungarn gelang es der Fidesz, ein Bündnis mit der Nationalbourgeoisie zu schmieden, die sich angesichts der Dominanz transnationaler Konzerne auf den heimischen Märkten an den Rand gedrängt fühlte, und gleichzeitig einen Hafen für internationale Investoren in strategischen Sektoren zu schaffen.
Dies führte zu einer zweigeteilten Volkswirtschaft: Auf der einen Seite begünstigten Sonderwirtschaftszonen und Steuervergünstigungen eine Reindustrialisierung durch die in ausländischem Besitz befindliche, exportorientierte Industrie mit geringer Wertschöpfung (vor allem die zumeist deutsche Automobilindustrie). Während deutsche Unternehmen mit Niederlassungen in Ungarn zuweilen Lippenbekenntnisse im Sinne der Werte liberaler Demokratien abgeben (etwa, wenn sie die ungarische Regierung für ihre homophobe Propaganda kritisieren), werden die Interessen der deutschen Industrie mit der Orbán-Regierung abgestimmt und von ihr gefördert. Auf der anderen Seite haben die staatlichen Maßnahmen es der einheimischen Bourgeoisie ermöglicht, ihre eigenen Akkumulationsbestrebungen in Bereichen wie dem Bau-, dem Tourismus- und dem Bankensektor auszuweiten. In diesem Prozess hat die zunehmende Finanzialisierung die Rolle des Staates nicht marginalisiert, sondern eher zu einem stärkeren Machtgefälle innerhalb des Staates geführt und die Verflechtung des Staates mit dem Markt neu ausgerichtet.
Die Basis der Fidesz-Macht
Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht hat Orbán längst eine überdimensionierte Rolle auf der internationalen Bühne übernommen, die oftmals nichts mit dem real existierenden Ungarn zu tun hat, das sein System geschaffen hat. Was in Ungarn geschieht, hat aus diesem Grund Auswirkungen, die weit über das Land hinausreichen. Das gilt nicht allein für ideologische Gefechte; denn selbst wenn sein wirtschaftliches System im Zerfall begriffen ist, wird Ungarn auch in Zukunft eines der wichtigsten «Schlachtfelder» Europas bleiben. Nachdem die grüne EU-Industriepolitik faktisch größtenteils an Privatunternehmen ausgelagert wurde, ist Ungarn in den letzten Jahren zu einem zentralen Standort für die Produktion von Elektrobatterien geworden. Die durch Regierungserlasse genehmigten und von Geheimhaltung geprägten Betriebe sind auch Schauplatz einer erbarmungslosen Ausbeutung von Arbeiter*innen und fehlender demokratischer Konsultationsprozesse mit den betroffenen Gemeinden. Damit ist der Fall Ungarn ein Vorbote dafür, was eine profitorientierte «grüne Politik» ohne Rechenschaftspflichten, Umverteilungselemente oder eine umfassendere Berücksichtigung von Ökosystemen bringen könnte und wozu die Linke klare und fortschrittliche Alternativen bieten muss.
Die miteinander im Dauerclinch liegenden grünen Parteien, LMP und Párbeszéd, haben nie ein kohärentes Grundsatzprogramm formuliert; jahrelange Grabenkämpfe haben beide Parteien zudem an den Abgrund geführt.
Obwohl sie oft zu Recht empört sind, tun viele Kritiker*innen das Regime immer noch als autoritäres Konstrukt ab, unter dem, außer einer kleinen Insider-Clique, alle zu Leid und Schweigen verurteilt seien. Dabei ist die eklatante Vetternwirtschaft bzw. Korruption des Systems unbestritten. Die schiere Zahl ehemaliger Jugendfreund*innen, Studienkolleg*innen, Familienmitglieder oder Trittbrettfahrer*innen aller Art, die sich plötzlich in Machtpositionen wiederfinden, ist wahrlich schwindelerregend – doch kein Regime kann sich allein mittels Zwang und Gehirnwäsche im Sattel halten. Und keine Propaganda der Welt kann gefügige Subjekte aus dem Nichts herbeizaubern.
Zur Wahrheit gehört eben auch die Tatsache, dass Orbáns Amtsübernahme in die Zeit fiel, als ein erweiterter EU-Kohäsionsfonds freigegeben wurde und die Staatengemeinschaft einen langsamen, aber stetigen Aufschwung erfuhr. Mit der Industrie kamen auch die Jobs. Unter dem Deckmantel geburtenfördernder Maßnahmen sorgte die Regierung für einen Bauboom, der auf die Bedürfnisse der Mittel- und Oberschicht ausgerichtet war. Das viel gerühmte System öffentlicher Bauvorhaben verstärkte bereits bestehende Ungleichheiten und bot weder Möglichkeiten für mehr Aus- und Fortbildungen, noch für eine Integration in den Arbeitsmarkt. Doch in Regionen, die von den früheren Regierungen völlig vernachlässigt worden waren und unter Langzeitarbeitslosigkeit litten, wurden diese Maßnahmen oftmals als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen. Großen Anklang fand eine Obergrenze für die Abrechnungen von Versorgungsunternehmen – obgleich Investitionen in die Nachrüstung von Gebäuden oder der Aufbau von Energiegemeinschaften langfristig ähnliche Ersparnisse erbracht hätten (und nicht von einem Tag auf den anderen hätten abgeschafft werden können).
Da die Finanztransfers und die Tatenlosigkeit der EU die Verankerung des Regimes erleichterten, wurden diese politischen Erfolge in einer zunehmend zentralistisch ausgerichteten Medienlandschaft in Endlosschleife gepriesen. Während die extreme Rechte es verstand, die Dissonanzen zwischen der offiziellen Propaganda und der Realität im Alltagsleben der Menschen für sich zu nutzen, beschnitt die Regierung das Streikrecht und verteufelte selbst minimale sozialpolitische Maßnahmen. Noch entscheidender jedoch war, dass die Linke diesen Status quo niemals grundlegend in Frage stellte.
Links schlägt Funken
Die MSZP, die einst dominierende sozialistische Partei, die in den 1990er und 2000er Jahren die umfassende Privatisierung und Deindustrialisierung ermöglicht hatte, verlor angesichts einer Mischung aus Planlosigkeit, Abspaltungen und ideologischer Verwirrung einen Großteil ihrer Wähler- und Unterstützerbasis. Die miteinander im Dauerclinch liegenden grünen Parteien, LMP (Politik kann anders sein) und Párbeszéd, haben nie ein kohärentes Grundsatzprogramm formuliert; jahrelange Grabenkämpfe haben beide Parteien zudem an den Abgrund geführt.
Die größte Oppositionspartei ist derzeit die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Gyurcsány. Nach vier Wahlniederlagen in Folge scheint er sich jedoch mit der Rolle des Oppositionsführers abgefunden zu haben. Das von Fidesz eingesetzte Wahlsystem hat in einem grausamen Twist bewirkt, dass alle Parteien – einschließlich der ultraliberalen Momentum-Partei und der sich gemäßigt gebenden (aber keineswegs geläuterten) rechtsextremen Jobbik-Bewegung – de facto zur Zusammenarbeit gezwungen sind, wollen sie auch nur den Hauch einer Chance haben, die Regierungspartei abzulösen. Gewisse Verirrungen waren daher absehbar: So enthielt das Programm der vereinten Opposition für die Wahlen im Frühjahr 2022 zwar einige wenige sozial ausgerichtete Vorschläge, an der Spitze des Bündnisses stand jedoch ein konservativer Kandidat, der diese Vorschläge fast vollständig ablehnte, seine Bewunderung für Orbáns Einheitssteuer zum Ausdruck brachte und die Korruption als einzigen Grund für Ungarns Probleme herausstrich. Die Wahlergebnisse waren erwartungsgemäß niederschmetternd.
Auch wenn die Linke in Ungarn in den letzten zehn Jahren keine großen Wahlerfolge erzielen konnte, hat sich eine lebendige linke Szene entwickelt. Sie ist zwar immer noch klein und auf Budapest konzentriert (und zwangsläufig von internen Debatten geprägt), hat aber dazu beigetragen, die Bedingungen und Möglichkeiten der politischen Vorstellungskraft zu erweitern. Mérce, ein Online-Nachrichtenportal, bietet wertvolle Reportagen und Kommentare aus verschiedenen kritischen und linken Perspektiven. Der offen links ausgerichtete YouTube-Kanal Partizán hat sich zu einer der wichtigsten Informationsquellen des Landes entwickelt. Institutionen und Initiativen wie SZGK (Zentrum für solidarische Ökonomie), Periféria Központ (Peripheres Zentrum), Helyzet Műhely (Arbeitsgruppe für öffentliche Soziologie) oder Közélet Iskolája (Schule des öffentlichen Lebens) leisten unermüdliche Arbeit in Organisation und Forschung. Gólya Cooperative und Auróra sind zwei Gemeinschaftszentren, die einer Vielzahl progressiver Initiativen wertvollen Raum und Arbeitsmöglichkeiten bieten. AVW (Die Stadt gehört allen) hat im Rahmen des Kampfes für eine gerechte Wohnungspolitik gemeinsam mit verbündeten Aktivist*innen ein wirksames Empowerment für Obdachlose geleistet. Und obwohl die Gewerkschaften historisch bedingt schwach und hoffnungslos zerstritten sind, haben sich in den letzten Jahren auch in diesem Bereich einzelne Stimmen Gehör verschafft.
Szikra ist diesem Milieu entsprungen. Doch im Gegensatz zur pauschalen Ablehnung der institutionellen Politik, die viele Linke artikulieren, haben ihre Mitglieder diese stets als notwendiges Betätigungsfeld gesehen – unabhängig davon, wie zerrissen, feindselig und ausgehöhlt sie auch sein mag. 2019 unterstützte die Vorgängerorganisation, Szabad Budapest (Freies Budapest), bei den Kommunalwahlen eine Reihe von Kandidat*innen links der Mitte, einschließlich des derzeitigen Bürgermeisters von Budapest, Gergely Karácsony. Unter dem Namen Szikra gründete sich die Bewegung offiziell im Jahr 2020. Als die Covid-Ausgangsbeschränkungen temporär aufgehoben wurden, organisierte Szikra eine der bedeutendsten Demonstrationen der letzten Jahre gegen den geplanten Bau einer lokalen Niederlassung der staatlichen chinesischen Fudan-Universität. Doch während sich weite Teile der Opposition aus dem politischen Mainstream bei ihrer Kritik des Vorhabens auf abgedroschenen Rassismus und orientalistische Klischees stützten, nutzte Szikra den Fall stattdessen dazu, die Frage des Wohnraums in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu stellen. Denn der Campus sollte anstelle eines lange geplanten und dringend benötigten Studierendenwohnheims errichtet werden. Der Neubau ist seitdem auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden.
Der lange Marsch durch die Institutionen
Bei den Vorwahlen der Opposition im Herbst 2021 nominierte Szikra András Jámbor, den Gründer und früheren Chef-Redakteur von Mérce, als Kandidaten für den Wahlkreis 8/9 in Budapest, den ärmsten und am stärksten von Ungleichheit geprägten Teil der Stadt. Der von einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin aufgezogene Jámbor setzte bei seiner Kampagne auf Lösungsangebote für lokale Ungleichheiten, die Wohnungskrise und die durch die schleichende Gentrifizierung verursachten Probleme. Als deutlich sichtbarer linker Kandidat fuhr er bei den Vorwahlen einen klaren Sieg gegen seine Mitbewerber*innen ein. Im Vorfeld der Wahlen von 2022 steckte die Regierung erstaunlich viele Ressourcen in diesen Wahlbezirk, der bis dato eine Hochburg des lokalen Fidesz-Chefs Máté Kocsis gewesen war. In der Folge verstärkten Helfer*innen ihre Desinformationskampagne, schikanierten Freiwillige und entfernten Wahlplakate von Jámbor. Dennoch gelang es der Szikra-Kampagne, im landesweiten Vergleich die größte Zahl an Freiwilligen in einem einzelnen Bezirk zu mobilisieren. Ausgerechnet in der Nacht, in der Orbán seine vierte absolute Mehrheit in Folge feiern konnte, gelang es Jámbor, den Bezirk mit einem klaren Vorsprung zu gewinnen und zu zeigen, dass die Linke in Ungarn auch heute noch Resonanz finden, mobilisieren und inspirieren kann.
Trotz des wachsenden Drucks hat Szikras Engagement bislang nicht nachgelassen.
Die Tätigkeit als Abgeordneter in einem Regime, das die parlamentarische Kontrolle ausgehöhlt hat, bringt eine Reihe von Problemen mit sich, mit denen sich die Opposition in den letzten Jahren immer wieder konfrontiert sah. Vor diesem Hintergrund hat Jámbor seine Sichtbarkeit dafür genutzt, unermüdlich auf die Themen im Zusammenhang mit der Krise der Lebenshaltungskosten, sozialer Ungerechtigkeit und Arbeitskämpfen hinzuweisen. Sein Engagement machte ihn bald zu einem der bekanntesten Gesichter der Opposition; es geht aber weit über solche Interventionen hinaus. Beispielsweise hat er sich stark für die Einführung von Vorauszahlungszählern (die hauptsächlich in Sozialwohnungen zum Einsatz kommen) in die neuen Abrechnungsbestimmungen von Versorgungsleistungen und für die Umsetzung eines Energiehilfsprogramms für Haushalte in seinem Bezirk eingesetzt.
Im Wissen, dass eine Beteiligung an institutioneller Politik den Zugang zu Geldmitteln und Sichtbarkeit ermöglicht, die anderweitig nicht zu haben wären, beabsichtigt Szikra, für die Kommunalwahlen 2024 sowohl in Budapest als auch in kleineren Städten Kandidat*innen aufzustellen. In Parlamenten vertreten zu sein, darf jedoch kein Selbstzweck sein. In einem Land, wo die Entfremdung von der Politik grundlegend für den Machterhalt von Fidesz war, will Szikra eine politische Gemeinschaft aufbauen, die ihren Mitgliedern neben konkreten Aktionsformen auch Unterstützung und Vernetzung bietet. Dank einer Struktur, die sich auf ein starkes Mentorenprogramm stützt, organisiert die mehrere hundert Personen starke Bewegung Bildungsangebote und Veranstaltungen, die wahlweise Mitgliedern oder Interessierten offenstehen. Neben Aktionen auf der Straße, die auf soziale Ungleichheiten aufmerksam machen, bemüht sie sich um eine Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen. In diesem Frühjahr organisierte Szikra gemeinsam mit dem SZEF, einem der unabhängigen Gewerkschaftsdachverbände, ein ganztätiges Programm zum 1. Mai. Anschließend startete die Bewegung eine Kampagne, um gegen das erpresserische System der Schuldeneintreibung zu protestieren. Diese kommunalen Kampagnen nehmen allmählich an Fahrt auf.
Die Rückkehr kollektiver Hoffnung
Wie die aktuellen Beispiele von Russland unter Wladimir Putin und der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan zeigen, können autokratische Regime noch lange nach dem Verlust der ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsverträge fortbestehen; angesichts eines nie dagewesenen klimatischen Zusammenbruchs und des Zerfalls liberaler Demokratien sind derartige Todesspiralen womöglich mittlerweile zur Norm geworden. Trotz einer weit verbreiteten Unzufriedenheit und der Zerstörung grundlegender Sozialleistungen können wir die Selbstzerstörung des Regimes jedoch nicht als einen Automatismus begreifen. Unter diesen Umständen müssen Szikra und die gesamte ungarische Linke sowohl konkrete Formen von Widerstand und gegenseitiger Hilfe anbieten als auch eine langfristig anzustrebende politische Vision. In Zukunft wird die Bewegung vor den gleichen Herausforderungen stehen wie linke Bewegungen auf der ganzen Welt: eine weitgehend nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft zu mobilisieren, eine ausgehöhlte öffentliche Sphäre sinnvoll neu zu politisieren, konkrete Lösungen und Solidaritätsnetzwerke ins Leben zu rufen, die über das widerständige Reagieren hinausgehen, sowie Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, eine umfassende grüne Wende voranzutreiben, die im Sinne von und gemeinsam mit lokalen Gemeinschaften aufgebaut wird. Das ist eine schwierige – aber notwendige – Aufgabe. Eine, die tagein, tagaus oftmals mühselige Arbeit und den Wiederaufbau von Vertrauen und ein gemeinsames Gefühl der Hoffnung erfordert.
Inzwischen geht das zunehmend unberechenbare und rachsüchtige Orbán-Regime angesichts zahlreicher Krisen – viele davon selbstverschuldet – immer härter gegen jede Form von Opposition vor. Anfang August, zwei Wochen vor dem jährlichen offenen Sommerlager von Szikra, sah sich der Veranstaltungsort gezwungen, das Event auf politischen Druck hin abzusagen. Wenige Monate zuvor war eine 42-jährige Aktivistin der Bewegung nach Vorfällen im Zusammenhang mit einem stillschweigend genehmigten Neonazi-Aufmarsch unter falschen Anschuldigungen für zwei Wochen inhaftiert worden. Dies war der Auftakt zu einer koordinierten Kampagne gegen die Bewegung und gegen András Jámbor, die sich auf die ganze Macht der staatlich kontrollierten Medien verlassen konnte, um die Organisation als gewalttätig, vom Ausland unterstützt und sogar pädophil zu verleumden. Dabei handelt es sich nicht etwa um leere Drohungen. Wir reden von einer Regierung, die erwiesenermaßen die Pegasus-Software gegen Journalist*innen und Oppositionelle einsetzt, die Gerichte direkt kontrolliert und nachweislich in der Lage ist, hasserfüllte Wut zu schüren. Der Zusammenhang zwischen offenen Drohungen im Parlament und einer kurz darauf erhaltenen Morddrohung sollte jedem klar sein.
Doch trotz des wachsenden Drucks hat Szikras Engagement bislang nicht nachgelassen. Während sie über die Lautsprecher der Regierung unaufhörlich verleumdet wird, machten sich ihre Aktivist*innen am besagten Junimorgen auf den Weg nach Tatabánya. Sie verhinderten eine Zwangsräumung und sammelten in den Folgewochen auch noch genügend Geld, um einen bedeutenden Teil von Erzsébets Schulden abzahlen zu können. Es sieht so aus, als ob sie ihre Wohnung behalten kann, und damit weiterhin ein Zuhause hat – wie es uns allen zustehen sollte.
Übersetzung von Cornelia Gritzner & Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.