Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Südasien G20: Im Interesse der besitzenden Klassen

Über den G20-Gipfel in Indien schreibt Joe Athialy

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Joe Athialy,

Vom 8. bis 10. September 2023 richtet die indische Regierung den G20-Gipfel in Neu-Delhi aus. Sie nutzt das Event geschickt, um sich vor der eigenen Bevölkerung als globalpolitisches Schwergewicht zu präsentieren. Mehr als 200 G20-Treffen in über 60 verschiedenen Städten wurden abgehalten, seitdem Indien letztes Jahr im Dezember den G20-Vorsitz von Indonesien übernahm. Eigentlich wäre das Land erst im Jahr 2023 mit dem Vorsitz an der Reihe gewesen, aber auf Wunsch Neu-Delhis tauschte Indonesien, damit Indien den Vorsitz während des 75. Jahres seiner Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht und noch dazu im Jahr vor den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innehat.

In zahlreichen Orten, in denen G20-Veranstaltungen stattfanden, kam es im Vorfeld zu massiven Räumungen. Allein in Neu-Delhi wurden zur vorgeblichen Verschönerung der Stadt über 250.000 Häuser abgerissen. Viele, die dort gewohnt hatten, warten immer noch auf angemessene Entschädigung oder leben nun in der Obdachlosigkeit. Nur ausgewählte Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen erhielten Einladungen zu den G20-Treffen, zumeist jene, die der hindu-nationalistischen Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi nahestehen.

Joe Athialy arbeitet beim Centre for Financial Accountability, einer Partnerorganisation der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südasien.

Übersetzung: Nadja Dorschner, Büroleitung Rosa-Luxemburg-Stiftung Südasien

Obwohl Indien in vielen Rankings zu Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit kontinuierlich abrutscht und gewalttätige Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten zunehmen, präsentiert sich das Land im Rahmen seiner G20-Kampagne als «Mutter der Demokratie» und «Vishwaguru» (Lehrer der Welt). Für die G20-Präsidentschaft hat die indische Zentralregierung Millionen in Werbung investiert, die das ganze Jahr über die Hauptstadt und verschiedene Flughäfen schmückt.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die G20 geschwächt. Unter Indiens Vorsitz konnten sich die Vertreter*innen aller Mitgliedstaaten bislang nicht auf gemeinsame Abschlusserklärungen einigen. Für den G20-Gipfel Anfang September sind neuerliche Auseinandersetzungen über die Formulierungen zu erwarten, die die Verantwortung für die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Weltwirtschaft betreffen. Indien versucht, als traditioneller Verbündeter Russlands eine vermittelnde Rolle einzunehmen, das Verhandlungsgeschick seiner Diplomat*innen wird den Erfolg des Gipfels maßgeblich bestimmen.

Die Entwicklung der G20 als herrschaftliche Krisenstrategie

Der politischen Feinabstimmung sind allerdings enge Grenzen gesetzt. Man darf nicht vergessen, dass die «Gruppe der 20» gegründet wurde, um die turbulenten Nachwirkungen der globalen Finanzkrise 2008 abzufedern. Die Welt ächzte damals unter der Last eines Finanzsystems, dem es blind vertraut und das es auf Kosten des Wohlergehens seiner Bevölkerung politisch unterstützt hatte. Die Krise erinnerte schmerzhaft an die Fragilität der internationalen Finanzinstitutionen, ihre unzureichenden Steuerungsmechanismen und verlangte nach umfassenden, globalen Reformen.

Die G20 ist also nicht aus einem wohlmeinenden Wunsch nach internationaler Kooperation heraus entstanden, sondern aus wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeiten und Ambitionen. Die führenden Wirtschaftsmächte machten sich die Krise zunutze, um die globale Wirtschaft mit geeinten Kräften, aber ihren Interessen entsprechend wiederzubeleben.

In der Finanzkrise ist offenkundig geworden, dass die traditionellen Institutionen wie die G7 nicht in der Lage sind, Krisen eines solchen Ausmaßes beizulegen. Daher musste sich die G7 neu erfinden und hat mit der G20 eine scheinbar inklusivere Plattform geschaffen. Die Einbindung aufkommender Wirtschaftsmächte sollte die politische Legitimität und Relevanz aufrechterhalten. Auf dem G20-Gipfel in London 2009 wurden vollmundig eine engere Zusammenarbeit, steuerliche Anreize und Finanzreformen angekündigt. Tatsächlich sind aber gemeinsame Abstimmungen ausgeblieben, weil die jeweiligen Nationen letztlich innenpolitischen Faktoren Vorrang eingeräumt haben.

Obwohl das Streben der G20, den globalen Süden stärker einzubinden, lobenswert ist, sind keine entsprechenden demokratischen und partizipatorischen Entscheidungsstrukturen etabliert worden. Die Politik der G20 hat zwar weitreichenden Einfluss auf die globale Wirtschaft, lässt aber häufig die Bedürfnisse der weniger wirtschaftsstarken Länder außer Acht und orientiert sich an den Interessen der wirtschaftlichen und politischen Eliten des globalen Nordens. Die G20 gibt vor, ein ökonomisches Forum zu sein, ist jedoch auch eine bedeutsame geopolitische Plattform und agiert im Interesse der Erhaltung bestehender Machtverhältnisse.

So hat sich die G20 eher auf schnelle Lösungen zur Bewältigung der Finanzkrise konzentriert, statt die Probleme an der Wurzel anzupacken. Während sich die G20 für steuerliche Anreize für das Kapital aussprach, wurde finanzielle Unterstützung für ärmere Bevölkerungsschichten systematisch abgeschafft. Diese Anreize ignorieren den dringenden Reformbedarf der globalen Finanzarchitektur. Im Ergebnis wurden die systemischen Schwachstellen, die die Krise verursachten, nicht angegangen und das krisenhafte System aufrechterhalten.

Die Bemühungen der G20 haben die marktbasierte globale Wirtschaft stabilisiert. Länder wie Indien mit mehr als 80 Prozent Beschäftigung im informellen Sektor sind aber herausragende Beispiele dafür, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht Teil formeller Wirtschaftssektoren ist. Entwicklungsländer litten bedeutend länger unter den Folgen der Finanzkrise und hatten Schwierigkeiten, Finanzmittel zu fairen Bedingungen zu beschaffen. Die G20 rieten zu Austerität: zum Einsparen öffentlicher Gelder, zu Rentenreformen, zu Kürzungen bei Sozialhilfen und Zuschüssen für einkommensschwache Haushalte. Dadurch ist die soziale Ungleichheit global weiter angestiegen. Noch dazu wurde es versäumt, Gelder für die Bekämpfung des Klimawandels bereitzustellen.

Austerität und Freihandel – die Politik der G20 und ihre Auswirkungen

Austerität bedeutet häufig, Sozialhilfen zu kürzen, die den ärmeren Bevölkerungsschichten zugutekommen sollen. Dadurch stehen weniger Gelder für öffentliche Gesundheitsversorgung und Bildung, weniger Subventionen für die Landwirtschaft oder Lebensmittelrationen zur Verfügung. In vielen Ländern sind schlechtere medizinische Leistungen, lange Wartezeiten und erschöpftes Personal Symptome der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen – zum Vorteil der privaten Gesundheitswirtschaft.

Die G20 hat verschiedene Handelsabkommen in die Wege geleitet, gegen die es weltweit Widerstand von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen gab und gibt. Diese vertreten die Menschen, die von den Auswirkungen massiv betroffen sind, aber nicht in die Verhandlungen einbezogen werden. Die aktuellen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien bestätigen diese Linie. Die Öffnung für den Freihandel bringt lokale Ökonomien aus dem Gleichgewicht, schwächere Industriezweige werden gnadenlos dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Kapitalstärkere Industrien aus dem globalen Norden können davon unverhältnismäßig profitieren.

Die G20 setzt ihren Einfluss dafür ein, Strukturanpassungsmaßnahmen voranzutreiben, die den Wettbewerb stärken und bürokratische Hürden für multinationale Konzerne abbauen sollen. Das spiegelt sich häufig in den Bedingungen für die Aufnahme von internationalen Krediten wider. Diese werden beispielsweise an die Deregulierung von Arbeitsmärkten, die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Verwässerung von Umweltschutzmaßnahmen oder an Kürzungen für die soziale Sicherung geknüpft.

Ähnlich weitreichend sind die Vorhaben der G20 im Bereich des Bankenwesens, die hauptsächlich auf Deregulierung abzielen. Die indische Regierung hat 2017 auf Empfehlung des Financial Stability Board (FSB) der G20 versucht, ein Gesetz zu erlassen, das die indische Zentralbank und andere regulierende Institutionen weitgehend entmachtet hätte. An deren Stelle hätte eine sogenannte Resolution Corporation (etwa «Abwicklungsunternehmen») vollziehende Gewalt über den indischen Finanzsektor bekommen. Dieses Abwicklungsunternehmen sollte Banken, inklusive öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute, fusionieren und auflösen können und hätte somit Zugriff auf die Geldanlagen der Bevölkerung gehabt. Dank massiver Proteste musste die indische Regierung dieses Gesetzesvorhaben dann zurückziehen.

Die G20 repräsentiert nicht nur die größten Wirtschaftsmächte der Welt, sondern auch diejenigen, die hauptverantwortlich für die Klimakrise sind. Bislang hat sich die G20 nicht mit Lösungsvorschlägen zur Bewältigung der Klimakrise hervorgetan. Stattdessen scheitern die Mitgliedstaaten daran, Verpflichtungen zur Reduzierung ihrer eigenen Emissionen einzugehen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie belegt, dass die G20-Mitgliedstaaten im Jahr 2022 eine Rekordsumme von 1,4 Billionen US-Dollar an öffentlichen Geldern für fossile Energie ausgegeben haben.

Indien spielt innerhalb der G20 eine zwiegespaltene Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels. Während auf fossilen Brennstoffen basierende Branchen wie Petrochemie, Kohle, Ölraffinerien stark ausgebaut werden, wird auch in erneuerbare Energieprojekte investiert. Bis 2070 möchte das Land klimaneutral werden. Gleichzeitig investieren indische Unternehmen auch in Infrastruktur für fossile Energien in anderen Ländern und unterminieren damit das Engagement Indiens zur Eindämmung des Klimawandels.

Eine verpasste Chance für Indien

Seit es den G20-Vorsitz übernommen hat, versucht Indien, sich als Stimme des globalen Südens zu inszenieren. Um dieses Image zu stärken, richtete Indien im Januar 2023 einen virtuellen «Voice of the Global South»-Gipfel aus, an dem Vertreter*innen von 125 Ländern teilnahmen. Sie sind ökonomisch vor allem mit drei Problemen konfrontiert: Inflation, Verschuldung und zunehmende soziale Ungleichheit.

Die Inflation macht Grundnahrungsmittel für die arme Bevölkerung weltweit nahezu unerschwinglich. Immer mehr Länder im globalen Süden sind unfähig, ihre Schulden an internationale Kreditgeber zurückzuzahlen. Auf dem G20-Gipfel soll die Erweiterung der Darlehenskapazitäten der multilateralen Entwicklungsbanken beschlossen werden. Sri Lanka ist ein trauriges Beispiel dafür, in welchen Krisenspiralen diese verschuldeten Länder enden. Trotz vielfacher Kredite und Schuldenpakete ist keine Perspektive für eine nachhaltige Umstrukturierung der Wirtschaft in Sicht.

Die Pandemie hat die Lücke zwischen Arm und Reich noch erheblich vergrößert. In Indien besitzt das reichste 1 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des individuellen Privatvermögens. Laut einem aktuellen Bericht von Oxfam ist der Reichtum von Milliardären in Indien während der Pandemie von 23 Billionen Rupien (ca. 258 Milliarden Euro) auf 53 Billionen Rupien (ca. 593 Milliarden Euro) angeschwollen. Die Zahl der indischen Milliardäre stieg von 102 auf 142, während in der gleichen Zeit 84 Prozent der indischen Haushalte an Einkommen einbüßten.

Indien hatte die Möglichkeit, diese Probleme im Rahmen seines G20-Vorsitzes zu thematisieren und als Stimme des globalen Südens aufzutreten. Doch die indische Regierung hat diese Chance nicht nur verstreichen lassen, sondern stattdessen ihren Vorsitz hauptsächlich für innenpolitische Interessen und den Wahlkampf genutzt.

Dank Indiens dynamischer Zivilgesellschaft regt sich nun Widerstand gegen den G20-Gipfel. Vom 18. bis 20. August organisierten mehr als 70 Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsam den Alternativgipfel «We20: A People’s Summit on G20» in Neu-Delhi. Dieser Gipfel hatte das Ziel, ein Gegennarrativ zu schaffen und in einem konstruktiven Dialog eine Alternative zur Politik der G20 zu formulieren. Dort waren die Stimmen marginalisierter Gruppen zu hören, die auf den offiziellen G20-Treffen keinen Platz haben; dort fanden Diskussionen zu den Themen Klimagerechtigkeit, soziale Ungleichheit, Krise der Landwirtschaft sowie schrumpfende demokratische Räume statt. Die Polizei brach die Veranstaltung am 19. August ab, weil sie nach ihrer Ansicht rechtswidrig war und den Verkehr störte.

Fazit

Seit ihrer Gründung ist die G20 als Forum eine elitäre Gruppe, deren Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für die globale Ökonomie und das Wohlergehen der Weltbevölkerung haben. Sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden profitieren die besitzenden Klassen von der Politik der G20. Die Ausweitung der G7 auf G20 wie auch eine potenzielle Aufnahme der Afrikanischen Union in die Gruppe soll eher die Legitimität steigern, als dem Bedarf nach größerer Repräsentativität oder demokratischen Strukturen in der G20 nachkommen. Die G20 verspielt die große Chance, die sie mit ihrem unvergleichbaren Einfluss auf die Weltwirtschaft hat: Sie sichert die Interessen ihrer Eliten, statt im Interesse aller die Eindämmung des Klimawandels und der sozialen Ungleichheit voranzutreiben.

Indien tritt mit großen globalpolitischen Ambitionen auf – bei den Treffen der G20- oder der BRICS-Staaten, dem QUAD Leaders՚ Summit und anderen Foren. Allerdings ignoriert die indische Regierung mit den Positionen, die sie dort vertritt, häufig die Realitäten eines großen Teils seiner Bevölkerung und duldet zudem kaum Widerspruch. Das lässt für die Zukunft wenig Gutes erwarten – weder für Indien noch für die große Mehrheit der Menschen in der Gruppe der 20 und der Welt.