Nachricht | Neues zu Georg Lukács und «Geschichte und Klassenbewusstsein»

Vor einhundert Jahren ist «Geschichte und Klassenbewußtsein» erschienen - ein bis heute faszinierender Klassiker, dem noch immer neue Aspekte abzugewinnen sind

Information

1923 ist das Jahr der Entstehung des Westlichen Marxismus, als dessen Begründer vor allem Karl Korschund Georg Lukács(1885-1971) zu nennen sind. Letzterer steht im Fokus dreier jüngst erschienener Neuveröffentlichungen – weitere Bände sind in Planung, wie bei Rüdiger Dannemann zu erfahren ist.1

Dannemann verantwortet auch das Erscheinen des Hand- und Arbeitsexemplars Lukács‘ zu Geschichte und Klassenbewußtsein, das er kommentiert und mit einem einordnenden Nachwort versehen hat. Der Fokus liegt dabei auf Aufarbeitung zur Frage, wie es zur offiziellen, 1968 erschienen Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein (GuK) kam. Dass diese realisiert wurde, war keineswegs abzusehen. Der Autor selbst stand seinem Buch ablehnend gegenüber und der Umstand, dass er ein völlig neues Vorwort schreiben konnte, gab schließlich den Ausschlag für das Unternehmen. Die in dieser Ausgabe abgedruckten Anmerkungen Lukács geben Aufschluss über sein Ringen mit dem eigenen Frühwerk. Für das Verständnis und den Kontext von GuK, erstmals vor hunterd Jahren erschienen in der nachfolgenden Rezeptionsgeschichte ist diese Ausgabe unbedingt zu empfehlen.

Klaus Lauschke bietet neben einem detail- und zitatreichen Ritt durch die in Georg Lukacs‘ Geschichte und Klassenbewußstein enthaltenen Aufsätze und deren Entstehungsgeschichte auf dem ersten 200 Seiten eine ebenso kleinteilige und kenntnisreiche Darstellung der politischen Diskussion rund um die politisch-gesellschaftliche Lage in Ungarn und deren Analyse in der kommunistischen Bewegung der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Damit verbunden ist die Debatte um den Marxismus. In diese war Lukacs stark eingebunden, ebenso in die tobenden Auseinandersetzungen in der und um die kommunistische Partei Ungarns. Der erste lange Teil ist besonders wertvoll, wenn man erfahren will, auf welche zeitgenössische Literatur sich Lukács in GuK mehr oder weniger offen bezieht.

Es ist in erster Linie der politische Journalist und Parteigenosse Lukacs, der dann in den weiteren Teilen Geltung entfaltet und dies ist der entscheidende Punkt des Buches: Lauschke will verdeutlichen, dass Lukacs mit seinem Werk nicht jenseits und abgewandt (von) der Politik agiert, nicht als bloßer Philosoph schreibt, sondern einen immanent realpolitischen Beitrag für die aktuelle Politik schreibt. Fragen der Aktualität oder Richtigkeit der entfalteten Gedanken spielen bei Lauschke keine Rolle. Dass Lukács, wie eingangs erwähnt, als Mitbegründer des Westlichen Marxismus gilt – Lauschke geht hierauf nicht explizit ein, sein Werk liest sich deutlich als Absage an diese klassische Interpretation. Mit seinem Buch bereichert Lauschke die Rezeptionsgeschichte von Guk dennoch um neue Facetten. Es sind die innermarxistischen Rezensionen und Zerrisse, die hier im Fokus stehen und nur vor dem Hintergrund des Kampfes um die Philosophie im Russland der 1920er Jahren zu verstehen sind. Lauschke verknüpft diese Darstellung mit Lukács Buch über Lenin und kontrastiert dieses mit den Darstellungen von Bucharin und Aram Deborin. Lukács weiterer biografischer Weg wird nicht dargestellt, die Verbindungen zum folgenden Werk nur selten angedeutet.

Alles in allem eine aufschlussreiche Lektüre, die Lukacs als kommunistischen Journalisten stark macht. Ein Personenverzeichnis fehlt leider, was eine Recherche oder das fokussierte Nachlesen immens erschwert.

Philosophische Betrachtungen zu GuK und Rezeption

Gleichfalls empfehlenswert, vor allem für philosophische versierte Leser_Innen, ist die aktuelle Ausgabe des Jahrbuchs der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaftfür den Zeitraum 2021 bis 2023, mit dem Themenschwerpunkt GuK. Lauschke ist hier mit einem zusammenfassenden Beitrag zu seiner GuK-Darstellung vertreten, Andreas Arndt widmet sich der Auseinandersetzung Lukács´ mit der Klassischen Deutschen Philosophie. Im Anschluss folgen Gregor Schäfers Anmerkungen zum kritischen Erbe des Hegel’schen Idealismus. Fichte und und «the moment of acitivity» sind Thema von Nikos Foufas, der mit seinem Text die englische Fassung seines 2020 auf Französisch erschienen Buches präsentiert. Der nach Auffassung von Christian Lotz vergleichsweise wenig berücksichtige Aufsatz «Was ist orthodoxer Marxismus?» aus GuK wird von ihn daraufhin analysiert, ob auf seiner Grundlage das Betreiben «kritische[r] Gesellschaftstheorie» auch in der heutigen Zeit möglich sei. Dies bejaht Lotz, wobei ihm als Kontrastfolie Überlegungen von Hartmut Rosa dienen. Ein Update der Verdinglichungsanalyse von Lukács liefert Lukas Meisner, der in seinem Beitrag sein Konzept der «Liquid Reification» vor Augen führt. Christopher Wimmerbringt Edward P. Thompson und Lukács ins Gespräch und spürt einer «praxeologische[n] Erweiterung des Marxismus» nach. Dabei geht es ihm explizit um die soziale wie revolutionäre Praxis. Es folgt ein Interview des Herausgebers mit Mihály Vajda, dem letzten noch lebenden Mitglied der Budapester Schule um Lukács. Sehr erhellend sind die daran anschließenden Darstellungen zur Rezeptionsgeschichte Lukács in Brasilien (André Brandão) und Argentinien (Francisco Garciá Chicote/Faustino Chirino). Holger Politt berichtet über die Veröffentlichung der Lukács-Biografie in Polen, Jean-Pierre Morbois über das Erscheinen der zweibändigen Übersetzung von Die Eigenart des Ästhetischen in Frankreich, an er als Übersetzer beteiligt war. Zuletzt berichtet Anna Zsellér über die Konferenz zum 50. Todestagdes Philosophen vom 4. Juni 2021 in Berlin, und Rüdiger Dannemann erinnert in einem sehr persönlichen Text an den erst 2021verstorbenen Frank Benseler. Unter seinem Mitwirken ist im Luchterhand Verlag ab 1962 die Werkausgabe Lukács erschienen. Alle Beiträge sind ausnahmslos empfehlenswert, sind jedoch in philosophischer Hinsicht mitunter herausfordernd, vor allem wenn man kaum Berührungspunkte mit dem Idealismus und dem entsprechenden Vokabular hat.

Es ist zu hoffen, dass die noch erscheinende Literatur über Lukács das hier vorgelegte Niveau halten kann. Für die Wartezeit wird man animiert, GuK selbst nochmal in die Hand zu nehmen – vor allem das Verdinglichungskapitel ist in sprachlicher Hinsicht grandiose Literatur, die mitreißt.

1 Rüdiger Dannemann: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Lukács 2021-2023. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, Bielefeld 2023, S. 10-11.

Rüdiger Dannemann (Hrsg.): Lukács 2021-2023. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft; Aisthesis Verlag, Bielefeld 2023, 206 Seiten, 30 €.

Karl Lauschke: «Die Gegenwart als Werden erfassen». Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács' Geschichte und Klassenbewusstsein; Westfälisches Dampfboot, Münster 2023, 528 Seiten, 38 €.

Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Faksimile des Hand- und Arbeitsexemplars; Aisthesis Verlag, Bielefeld 2023, 379 Seiten, 45 €.