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Perspektiven für die europäische Linke vor den Europaparlamentswahlen

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Walter Baier,

Gewerkschafter*innen in Marseille protestieren.
Gewerkschafter*innen in Marseille protestieren gegen die von der französischen Regierung geplante Rentenreform in Marseille, 1. Mai 2023. Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Alle Wahlkämpfe, an denen ich auf europäischer Ebene beteiligt war, hatten eine eigene Charakteristik. 2014 hatte der Widerstand gegen die dem europäischen Süden aufgezwungene Sparpolitik den linken Parteien Schwung verliehen, was sich in einem Zuwachs an Stimmen und Mandaten ausdrückte. Kritische Beobachter*innen vermerkten allerdings, dass sich der Zuwachs größtenteils auf die drei im Kampf mit der Troika stehenden Parteien Syriza (Griechenland), Podemos (Spanien) und Linksblock (Portugal) konzentrierte, während die Linksparteien in den anderen Teilen der EU stagnierten.

Walter Baier ist Präsident der Partei der Europäischen Linken.

Nachdem Syriza von der Troika in die Knie gezwungen worden war, zeigte sich, dass der Widerstand gegen die Austeritätspolitik als Programm zu schmal war, um die politischen Kräfteverhältnisse in Europa nach links zu verschieben. Ernüchterung und eine Vertiefung der Differenzen über die Europapolitik innerhalb der Linken waren die Folge. Bei den Wahlen 2019 erreichten sie nur noch 39 Mandate (-13) und bilden seither die kleinste Fraktion im Europaparlament.

Die Rückkehr der Klassenpolitik

Die soziale und wirtschaftliche Situation vieler EU-Bürger*innen hat sich in den vergangenen Jahren durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg verschlechtert. Beinahe die Hälfte gibt an, Schwierigkeiten zu haben, mit ihrem monatlichen Einkommen über die Runden zu kommen. Die Wahlen 2024 werden, so besagen Untersuchungen, vor allem durch Unsicherheit und Pessimismus charakterisiert sein. Dabei kreisen die Sorgen der Bürger*innen um die steigenden Lebenshaltungskosten (93%), Verarmung und soziale Ausgrenzung (82%), Klimawandel (81%) und die Gefahr einer Ausweitung des Krieges in der Ukraine (81%).

Im ersten Halbjahr 2023 erlebte Europa breite soziale Proteste: Belgien (steigende Lebenshaltungskosten), Vereinigtes Königreich (Gesundheitswesen), Spanien (Gesundheitswesen), Griechenland (Desolater Zustand der Eisenbahn), Portugal (Erziehungswesen), Tschechische Republik (Teuerung), Rumänien (Erziehungswesen) und allen voran Frankreich mit der monatelangen Protestwelle gegen die von Emmanuel Macron – schließlich ohne parlamentarische Mehrheit – durchgesetzte Verschlechterung des Rentensystems.

Die sozialen Kämpfe finden auch politischen Niederschlag. Neun von zehn EU-Bürger*innen befürworten eine Besteuerung der großen transnationalen Technologie- und Datenkonzerne sowie die Einführung nationaler Mindestlöhne, acht von zehn einen fairen Handel mit ökologischen und sozialen Mindeststandards sowie die gleiche Bezahlung der Frauen für gleichwertige Arbeit.

Reformen auf der Basis des bestehenden Vertragswerkes verändern das Kräfteverhältnis in den EU-Institutionen und in den Mitgliedstaaten zugunsten der Lohnabhängigen, sie heben aber nicht die fundamentale Fehlkonstruktion des Vertrags von Lissabon auf.

Für die Europäische Linkspartei (EL) und ihre Mitgliedsparteien ergibt sich die Chance, sich als politische Interessensvertreterin der zeitgenössischen Arbeiter*innenklasse zu profilieren, das heißt die Männer und Frauen zu mobilisieren, die – unbeschadet von Alter, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit und unabhängig davon, ob sie in Industrie, Dienstleistung oder öffentlichem Sektor, in geregelten oder prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten – vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängen. Es geht um faire Löhne, Schutz vor der Teuerung, Arbeitszeitverkürzung, Geschlechtergerechtigkeit, gleiche Rechte und Bedingungen für Arbeitsmigrant*innen, Arbeitsschutz für Plattformarbeiter*innen, sozialstaatliche Absicherung, bezahlbaren Wohnraum, Energiegrundsicherung, freien Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Kommunikationsmittel und öffentliche Verkehrsmittel.

Die Meinungsforschung vermerkt im Gefolge von Pandemie und Krieg einen Rückgang der EU-Skepsis. 6 von 10 Bürger*innen schätzen die Mitgliedschaft in der EU positiv ein, und 72 Prozent meinen, dass ihr Land davon profitiere.

Das drückt auch gestiegene Erwartungen aus, die an die neoliberale Konstruktion der EU stoßen. Allerdings hat die EU auf die Krisen der letzten Jahre mit Änderungen ihrer Politik reagiert. So suspendierte die Europäische Kommission im März 2020 den Stabilitäts- und Wachstumspakt und erweiterte damit den finanziellen Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der Corona-Krise. Beträchtliche Mittel für die Digitalisierung und Ökologisierung der Volkswirtschaften wurden durch den Aufbauplan NextGenerationEU mobilisiert und zum Teil durch gemeinschaftliche Kreditaufnahme finanziert. Eine Nachricht vom Ableben des Neoliberalismus wäre allerdings verfrüht. Nach wie vor ist die Freigabe der Mittel für die Mitgliedsländer an die Prozeduren des Europäischen Semesters gebunden, mit denen die Finanzdisziplin des Stabilitäts- und Wachstumspakts durchgesetzt werden soll, der, geht es nach Hardlinern, vor seiner Reaktivierung steht.

Die Frage ist, was linke Europapolitik über die solidarische Unterstützung der im nationalen Rahmen geführten Kämpfe hinaus auf EU-Ebene leisteten kann.

Die Mindestlohnrichtlinie, die durch einen «existenzsichernden Lohn» erweitert werden sollte, oder die Lohntransparenzrichtlinie, die gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit von Männern und Frauen vorsieht, sind zwei aktuelle Beispiele dafür, was durch die Kombination von außerparlamentarischem Druck und politischen Initiativen der Linken im Europaparlament erreicht werden konnte. In vielen Fällen steht allerdings die gesetzliche Umsetzung im nationalen Rahmen noch aus, was neuerliche gewerkschaftliche Mobilisierung erfordert.

Die EL unterstützt die Forderungen des Europäischen Gewerkschaftsbundes nach endgültiger Beendigung des Austeritätsregimes und einem bindenden Sozialen Fortschrittsprotokoll, wodurch den Sozial- und Arbeitsrechten gegenüber den Binnenmarktfreiheiten der Vorrang eingeräumt werden soll.

Wir unterstützen auch den Vorschlag von Yolanda Díaz, im Rahmen des Europäischen Semesters soziale Indikatoren gleichberechtigt mit makroökonomischen Ungleichgewichten zu messen.

Reformen auf der Basis des bestehenden Vertragswerkes verändern das Kräfteverhältnis in den EU-Institutionen und in den Mitgliedstaaten zugunsten der Lohnabhängigen. Dafür kämpfen wir. Sie heben aber nicht die fundamentale Fehlkonstruktion des Vertrags von Lissabon auf, in dem der Binnenmarkt zur Grundlage der EU erklärt und damit die neoliberale Grundrichtung festgeschrieben wurde. Um diese Grundrichtung zu ändern, sind neue EU-Verträge erforderlich, in denen Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Geschlechtergerechtigkeit und Umweltschutz als die grundlegenden Ziele der EU festgelegt werden.

Eine radikale ökologische Agenda

Die ökologische Krise ist ein objektiver Zusammenhang jeder, auch linker, Politik. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Grenzen der Belastbarkeit der Ökosysteme verlangen, die Anstrengungen und die Geschwindigkeit des ökologischen Umbaus zu erhöhen.

Die politische Rechte hat die Klimapolitik als eines der Felder ihres Kulturkampfs gewählt. Ob sie ihn gewinnt oder verliert, ist noch nicht entschieden. Deshalb darf der ökologische Umbau nicht Angelegenheit aufgeklärter Minderheiten sein, sondern muss von gesellschaftlichen Mehrheiten getragen werden. Dabei spielen die sozialen Kategorien Geschlecht und Klasse die ausschlaggebenden Rollen: einerseits, weil die Bezieher*innen niedriger und niedrigster Einkommen und die Frauen die Hauptleidtragenden der Umweltzerstörung sind; und andererseits, weil sich bei Betrachtung der Verursacher zeigt, dass das reichste Zehntel der Weltbevölkerung für 50 Prozent der Emissionen verantwortlich zeichnet.

Dass die Beachtung der ökologischen Grenzen Konsequenzen für die Lebensweise und die Konsummuster jedes und jeder Einzelnen hat, kann man nicht wegdiskutieren. Doch den Bezieher*innen mittlerer und niedriger Einkommen Konsumverzicht zu verordnen und über die Profite des Kapitals und die Rüstung zu schweigen, ergibt kein nachhaltiges Programm für die ökologische Transformation.

Die gängige Formel, dass der Frieden das wichtigste Anliegen der Linken ist, wird durch den Krieg in der Ukraine auf die Probe gestellt.

Grüner Kapitalismus ist ein Oxymoron. Grüner Kapitalismus ist, wenn die industriellen Hauptverschmutzer durch das Europäische Emissionshandelssystem Spekulationsgewinne von Dutzenden Milliarden Euro verbuchen, während die Lasten des ökologischen Umbaus mittels Teuerung und Verbrauchsteuern auf die Masse der Bevölkerung abgewälzt werden.

Für den sozial gerechten Übergang zu einer ökologischen, digitalen Ökonomie bilden grüne Jobs, industrielle Konversion, sozialstaatliche Absicherung, sozialer Wohnbau, Ausbau der öffentlichen Dienste und Energiegrundsicherung der Haushalte die materiellen Voraussetzungen.

Der ökologische Umbau ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Fachleute haben gezeigt, dass die dafür notwendigen Mittel das EU-Budget auch nach seiner Erweiterung durch den NextGenerationEU-Aufbauplan um ein Vielfaches übersteigen.

Zudem erfordert die Krise der Umwelt globale Lösungen und weltweite soziale Gerechtigkeit. Mit Recht haben die Teilnehmer*innen des Amazonas-Gipfels in Belem die reichen Industrienationen an ihre Verpflichtung erinnert, dem globalen Süden jährlich 100 Milliarden US-Dollar für den Klimaschutz zur Verfügung zu stellen.

Die Mittel für den Klimaschutz zu mobilisieren, kann mit keynesianischen Instrumenten allein nicht gelingen, sondern erfordert strukturelle Eingriffe und eine grundlegende Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen von der Rüstung zur Ökologie, vom globalen Norden in den Süden und vom Privatkapital zur Gesellschaft.

Ökologischer Umbau erfordert gesamtwirtschaftliche Planung. Dabei ist zu entscheiden, welchen Interessen der Vorrang eingeräumt wird. Das bedeutet sozialen Konflikt. Deshalb sind der Ausbau der Demokratie und ihre Ausweitung auf die Wirtschaft essenziell. Die Wirtschaftsdemokratie in den Unternehmen bis hin zur nationalen und europäischen Ebene beinhaltet die Frage der Eigentumsformen. Unternehmen, die dem allgemeinen Interesse dienen wie die Pharmaindustrie, die Trinkwasserversorgung, die Energieerzeugung und -versorgung, der öffentliche Verkehr und die digitalen Medien (wie Facebook und Twitter), müssen in Gemeingüter der Gesellschaften verwandelt werden.

Der ökologische Umbau erfordert einen Dialog aller Kräfte guten Willens und den offenen Wettbewerb um die Hegemonie. Die Linke wirbt für ein Ökologieprogramm, das im Unterschied zum Green Deal der Europäischen Kommission und zu den meisten grünen Parteien nicht die Versöhnung von Kapitalismus und Ökologie verspricht, sondern auf die Überwindung des Kapitalismus zielt. Das bedeutet, an die Stelle des kapitalistischen Wachstumsparadigmas eine um die Fürsorge für die Menschen zentrierte Ökonomie zu setzen und durch die Überwindung von Kapitalismus und Patriarchat eine Gesellschaft des Gemeinwohls zu schaffen.

«Unser Sieg heißt Frieden»

Die gängige Formel, dass der Frieden das wichtigste Anliegen der Linken ist, wird durch den Krieg in der Ukraine auf die Probe gestellt.

Die EL hat die Aggression der Russischen Föderation vom ersten Tag an verurteilt und eine politische Lösung des dahinterstehenden Konflikts gefordert.

Darüber wurde kontrovers diskutiert. Eine der Debatten, die die Legitimität der Lieferung «defensiver Waffen» betraf, ist inzwischen obsolet, da es sich bei Uran-Munition, Clusterbomben, F-16 und Marschflugkörpern um keine Defensivwaffen mehr handelt. Indem sie diese Waffen liefern, erweisen sich USA und NATO als Beteiligte des Krieges mit eigener Agenda. Das stellt die Linke nicht nur in Russland vor die prinzipielle Frage nach der Stellung zu den imperialistischen Zielen ihrer Führung, sondern auch im Westen und setzt in den Hauptländern der EU einen neuen Maßstab für die Möglichkeiten, sich an Regierungen zu beteiligen.

Im Westen besteht die Illusion, man könnte Krieg führen und zugleich die soziale und ökologische Transformation voranbringen. Doch allein die Kosten des Krieges von bisher 150 Milliarden Euro, von denen die Steuerzahler*innen der EU knapp die Hälfte aufbringen, bezeugen das Gegenteil. Darüber hinaus hat der Krieg in einem Jahr CO2-Emissionen von 120 Millionen Tonnen verursacht, was dem jährlichen Ausstoß eines mittelgroßen Industrielandes wie Belgien entspricht. Seine rasche Beendigung ist damit auch eine klimapolitische Notwendigkeit.

Während die Kriegsparteien die Entscheidung auf dem Schlachtfeld suchen, müsste die EU die friedenspolitischen Initiativen des Papstes, der VR China, des brasilianischen Präsidenten und der sechs afrikanischen Staatsoberhäupter unterstützen.

Dass die politische Weisheit im Westen sich auf die Lieferung von immer mehr Kriegsgerät beschränkt, ist eine Tragödie für das ukrainische Volk wie für Europa. Die Fortsetzung des Krieges kann Europa nur in eine Lose-lose-Situation führen: Siegt Russland, wird sich seine Führung in ihrem rücksichtslosen, revanchistischen Imperialismus zu weiteren Abenteuern ermutigt sehen; gewinnen USA und NATO, so haben sie eines ihrer strategischen Ziele auf in ihrer geopolitischen Konfrontation mit China erreicht.

Ein politisch ausgehandeltes Schweigen der Waffen zu erreichen, liegt daher im europäischen Interesse – und könnte sogar der erste Schritt zu einem neuen europäischen Sicherheitssystem sein, das die durch die NATO-Erweiterungen und den russischen Revanchismus zerstörte Ordnung ersetzt.

Die Linke darf sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen identifizieren lassen.

Der Weg dahin scheint indes lang und schwierig. Einzelne Schritte zu einer militärischen Entspannung wie die Rückkehr zum 1987 zwischen der Sowjetunion und den USA geschlossenen Vertrag über den Abzug der atomaren Mittelstrecken aus Europa sind dennoch möglich. Allerdings demonstriert nichts deutlicher als das drohende atomare Wettrüsten der Großmächte auf europäischem Boden, dass die EU-Staaten in Fragen ihrer eigenen Sicherheit nicht autonom sind.

2016 rief der Europäische Rat das Ziel einer strategischen Autonomie Europas aus und dementierte es gleichzeitig, indem er die europäische Sicherheitspolitik an die NATO band. Mit der Unterordnung der EU unter den riskanten geopolitischen Kurs der Biden-Administration ist die Idee, europäische Interessen autonom zu bestimmen und zu verfolgen, einstweilen begraben. Doch so wenig wie die europäischen Völker ein Interesse an der Fortsetzung des Kriegs in der Ukraine haben, so wenig können sie daran interessiert sein, sich in eine Konfrontation zwischen den USA und China hineinziehen zu lassen. Im Gegenteil: Wollen die Europäer*innen ihre Sicherheitspolitik selbst bestimmen, müssen sie diese von der NATO abkoppeln.

Die Linke kann sich den Slogan der strategischen Autonomie Europas nicht einfach aneignen, denn, um Sinn zu machen, müsste er mit einer Friedens- und Abrüstungsagenda der EU verbunden sein. Ein Zeichen ernst gemeinter strategischer Autonomie wäre etwa der Beitritt der EU zum 2021 völkerrechtlich verbindlich gewordenen UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen. Der Abzug der US-Atomwaffen aus Europa wäre dann der logisch nächste Schritt auf einem Weg, dessen Ziel die Denuklearisierung Europas wäre.

Des Faschismus neue Kleider

Krisenbedingter Pessimismus ist nicht die Atmosphäre, in der die Linke gut gedeiht, sondern fördert einen Konformismus, der sich vom bestehenden institutionellen Rahmen Sicherheit und Schutz verspricht. Das zeigte sich in den Wahlen der letzten Jahre, die – von Ausnahmen abgesehen (Belgien, Irland, Frankreich und Österreich) – für die Linke nicht erfreulich ausfielen.

Viele der Menschen, die das Vertrauen in die bestehenden Institutionen verloren haben, suchen Schutz und Sicherheit bei nationalistischen und neofaschistischen Rechtsparteien. Behalten die Prognosen recht, wird die radikale Rechte gestützt auf ihre Regierungspositionen und eine gestiegene Zahl von Abgeordneten im Europaparlament ihren Einfluss weiter ausbauen.

Rechtsnationalistische Parteien wurden lange als Relikte der Vergangenheit oder eine Absonderlichkeit Osteuropas betrachtet.

Noch 2000, als ÖVP und FPÖ in Österreich eine gemeinsame Regierung bildeten, wurde diese sogar mit EU-Sanktionen belegt. Dieser Cordon sanitaire ist zusammengebrochen. Ohne Genierer übernehmen konservative Parteien rechtsradikale Slogans und bilden Regierungen mit rechtsradikalen Parteien. Selbst liberale Medien finden inzwischen Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ganz sympathisch und bescheinigen ihr Lernfähigkeit und Pragmatismus.

Die radikale Rechte stünde nicht an den Schwellen der Regierungsmacht, könnte sie sich nicht der finanziellen und medialen Unterstützung einflussreicher Gruppen des kapitalistischen Establishments erfreuen. Ihr Einbau in die politische Normalität durch konservative Parteien lässt erkennen, dass es nicht nur um eine neurechte Kulturrevolution geht, sondern um autoritäre Herrschaftsformen zur Bewältigung der gesellschaftlichen Krisen.

Die Warnung des österreichischen Marxisten und Politikers Otto Bauer, der 1936 schrieb, dass am Siegeszug des Faschismus auch der «reformistische Sozialismus» Anteil gehabt hätte, weil er den Massen «als eine ‚Systempartei‘, als Teilhaber und Nutznießer jener bürgerlichen Demokratie erschien, die sie vor der Verelendung durch die Wirtschaftskrise nicht zu schützen vermag», verdient auch heute Beachtung.

Die Linke darf sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen identifizieren lassen. Es stimmt, sie kämpft in Parlamenten und fallweise in Regierungen für liberale Werte und für die Ausweitung von Demokratie, Minderheitenschutz, Frauenrechten, Menschenrechten und für internationale Solidarität. Dies geschieht immer öfter in Konfrontation mit den sich zunehmend autoritär gebärdenden Parteien des liberalen Establishments. Politische Demokratie ist aber noch keine soziale und wirtschaftliche Demokratie. Anders als die Liberalen beschränkt die Linke den Kampf gegen die radikale Rechte nicht auf das Gebiet der politischen Kultur und der Werte. Besiegt werden kann diese Rechte in der sozialen Auseinandersetzung und im Kampf um den Frieden, wo Solidarität auf der Grundlage materieller Interessen wachsen kann. Dass dabei viele Liberale (auch in ihrer grünen Ausprägung) und die Linke sich in Konflikten gegenüberstehen, ist nicht weniger wahr, als dass sie gegen die radikale Rechte Allianzen bilden müssen.

Die Linke befindet sich noch nicht auf der Höhe dieser Aufgaben. In mehreren Ländern ist sie politisch gespalten. Die dahinterstehenden strategischen Differenzen lassen sich nicht in kurzer Zeit überwinden; dass sie am gemeinsamen Handeln hindern, allerdings schon.

Die EL hat dabei eine spezielle Möglichkeit. Als Europartei der radikalen Linken kann sie eine europäische Wahlkampagne organisieren und eine*n EU-weite*n Spitzenkandidat*in ins Rennen schicken. Auf ihrer Generalversammlung im Juni hat die EL beschlossen, diese Möglichkeiten mit den anderen Kräften der Linken zu teilen. In einem «Aufruf zur Einheit» schlägt sie den linken Parteien vor, einen Dialog über eine gemeinsame Kampagne und die am besten geeignete Person an ihrer Spitze zu führen. Als Grundlage für diesen Dialog wird die EL ihr eigenes Wahlmanifest zur Diskussion stellen.

Es stimmt schon, die Linke lebt im Diskurs und in der Kontroverse. Doch angesichts des Krieges und der Gefahr, die von der radikalen Rechten ausgeht, sind Spaltungen und Feindseligkeit ein Luxus, den wir uns nicht leisten dürfen. Agieren wir in Einheit, können wir den Unterschied machen.