Noch in der Endzeit der DDR habilitierte sich Mario Keßler an der Universität Leipzig mit einer Studie über das Verhältnis von Zionismus und internationaler Arbeiterbewegung.[1] Darin analysierte er Herausbildung und Wechselverhältnis dieser beiden politisch-gesellschaftlichen Strömungen mit dem Blickpunkt auf die in diesem Zusammenhang relevanten internationalen Zusammenschlüsse.
Langjährige Tätigkeit vor allem am Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschungen in Potsdam wie auch an der dortigen Universität mit Schwerpunkt auf der Kommunismusgeschichte und insbesondere ihrer biographischen Aspekte folgte. Oft ging es dabei um die Lebensläufe jüdischer Kommunisten, deren politische Identität trotz Loslösung von ihren familiären Traditionen durch diesen Hintergrund beeinflusst war: Sei es als Wurzel ihres Kommunismusverständnisses, sei es als offenes oder zumeist unterschwellig spürbares Stigma in den Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Bewegung.
Jetzt kehrt Keßler gleichsam zum Ausgangspunkt mit einem breit gefassten Gesamtüberblick zurück, der auch stärker die Milieus und die Theoretiker in den Blick nimmt. Zudem setzt er weitaus früher ein, nämlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der sich als soziale und demokratische Emanzipationsbewegung verstehende Sozialismus hatte große Schwierigkeiten, auch die jüdische Forderung nach Gleichberechtigung zu verstehen und zu akzeptieren, wie Keßler im Dreieck zwischen Karl Marx, Friedrich Engels und Moses Hess nachzeichnet, um dann drei Territorialstudien anzuschließen: das deutschsprachige Gebiet, Großbritannien und Frankreich.
Erschien zunächst die «jüdische Frage» in ihrer oberflächlichen Reduzierung des Kapitalismus auf Finanzgeschäfte als ein Überbleibsel der Vormoderne, so führte die Entwicklung zur politischen Gleichstellung, aber auch zu einer neuen, rassistisch bestimmten Variante des Antisemitismus als Sündenbock-Ideologie. Wenn auch nicht ohne heftige Diskussionen (zum Beispiel in der Dreyfus-Affäre), erkannten die entstehenden Arbeiterparteien ihn zunehmend als Angriff auf sich und damit als zu bekämpfenden Gegner.
Doch anders sah dies in Osteuropa aus, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts dank der dortigen kapitalistischen Entwicklung und der sich anbahnenden revolutionären Erschütterungen immer mehr Bedeutung für die internationale Arbeiterbewegung annahm. Dort lebte eine jüdische Bevölkerung, der der Weg zur Assimilation nicht so einfach offenstand, die vielmehr gleichsam eine eigene Nationalität auf der Grundlage des Jiddischen bildete. Für einen gewichtigen Teil war dies der Ausgangspunkt für eine starke sozialistische Bewegung. Es fand sich hier aber auch die Massenbasis für den zunächst in Westeuropa aufgekommenen Zionismus, für die Idee eines jüdischen - nach längeren Überlegungen in Palästina zu schaffenden - Nationalstaats. So entstand einerseits der «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund», der heftig dagegen polemisierte, nicht zuletzt mit der Warnung, Palästina sei kein Land ohne Bevölkerung und man exportiere so das zaristische System des «Ansiedlungsrayons». Andererseits kam es aber auch zu Überlegungen einer Art Synthese in Gestalt des Arbeiterzionismus (ausgedrückt vor allem in der Partei Poale Zion).
Keßler skizziert die zunächst unentschieden gebliebene Auseinandersetzung innerhalb der Zweiten Internationale, bis der Erste Weltkrieg neue Rahmenbedingungen schuf. Als dessen Folge wurde die führende antisemitischen Macht in Gestalt des Zarenreichs hinweggefegt. Die bolschewistische Revolution hatte aber auch die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung zur Folge. Der Kommunismus proklamierte gegen den Zionismus eine Art «säkulare» Lösung in der Sowjetunion, die in den 1920er Jahren zunächst erfolgreich mit der Anerkennung einer gleichberechtigten jüdischen (jiddischsprachigen) Nationalität und deshalb mit der Ablehnung des Zionismus verbunden war, bis die Stalinisierung der UdSSR wieder zu drastischen Rückschritten führen sollte. Auf sozialdemokratischer Seite war man unentschiedener und schwankte zwischen Fortführung der Assimilation (in Westeuropa) beziehungsweise des Anspruchs auf die Rechte einer nationalen Minderheit (in Osteuropa) und Sympathien, vor allem bei den Führungsgruppen, für das Fahrt aufnehmende zionistische Projekt. Doch all dies wurde ab 1933 durch die aus Deutschland kommende Entwicklung in Frage gestellt. Sie erwies die Erwartungen auf ein langsames Zurückdrängen des Antisemitismus als trügerisch. Trotz aller darauf erfolgenden weiteren Niederlagen der europäischen Arbeiterbewegung gab es jedoch nur wenige Stimmen, die das wirkliche Ausmaß der sich abzeichnenden Vernichtungspolitik erkannten.
Keßlers umfangreiche Darstellung endet am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Einige abschließende Bemerkungen, notgedrungen nur thesenartig entwickelt, führen zwar an Diskussionen über die daraus entstandenen Folgen heran: die Schaffung des Staats Israel (für die allerdings die palästinensischen Araber den Preis bezahlen mussten), Lehren angesichts heutiger Flüchtlingsbewegungen, die Folgen kolonialer und postkolonialer Erfahrungen und schließlich die Auswirkungen einer sich infolge von Krisen wieder verstärkt breit machenden gesellschaftlichen Irrationalität und damit des Antisemitismus. Was der Verfasser hier nur, da nicht mehr Thema seines Buchs, benennen kann, ist bekanntlich Gegenstand heftiger Debatten. Sie können allerdings in profunder Weise nur auf einer soliden historischen Basis geführt werden. Hierfür trägt Keßlers Darstellung ein wichtiges Element bei, weil es um die historischen Erfahrungen mit zeitweise sehr einflussreichen jüdischen Emanzipationswegen oder zumindest mit Diskussionen darum geht, deren Widersprüchlichkeit und Gegenläufigkeit durchaus anzeigt, dass man in der Rückschau nicht einfach sagen kann, sie seien unaufhaltsam in eine Richtung gelaufen.
Der übersichtlich und didaktisch eingängig gegliederte Band wird ergänzt durch siebzehn Schlüsseltexte, zumeist Auszüge aus grundlegenden Reden oder Veröffentlichungen. Eine ausführliche Bibliographie zu den einzelnen Kapiteln liefert die notwendigen Hinweise zur Vertiefung. Ein Personenregister dieses auch als Nachschlagewerk zu verwendenden Buchs hätte seinen Wert noch deutlich erhöht.
Für eine solche Synthese war es sicherlich unvermeidlich, bestimmte Aspekte stärker zu beleuchten und andere nur kurz abzuhandeln. Aber auch unter dieser Berücksichtigung hätte der Autor allerdings die Beschränkung auf (West- wie Ost-)Europa zumindest thematisieren sollen. Hinweise auf die Rolle der jüdischen Emigration in Nord- wie Südamerika für die dortige Arbeiterbewegung oder auf das Aufkommen einer jüdischen Linken in den 1930er Jahren (deren Bewegung 10-15 Jahre später jäh endete) in mehreren Ländern des Nahen Ostens (zum Beispiel Marokko, Irak) wären interessant gewesen, um zu zeigen, dass es auch eine weltweite Dimension gab. Letzteres auch mit dem Blick auf die hier nicht weiter ausgeführte Entwicklung der «Jishuw» in Palästina mit ihrem zumindest mehrheitlichen sozialistischen Anspruch. Doch all das soll keineswegs die Verdienste dieser prägnanten und auf jeden Fall empfehlenswerten Überblicksdarstellung schmälern, da jede solche Übersicht nicht ohne den Zwang zur Auswahl (und damit zur Unterwerfung unter einen gewissen Zufallsfaktor) auskommen kann. Nur ein kleiner Irrtum sei angemerkt (196): Stalins langjähriger Parteihistoriker Jemeljan Jaroslawski wurde nicht ein Opfer des stalinistischen Terrors, wie viele der von ihm aus der Parteigeschichte wider besseres Wissen herausgeschriebenen bolschewistischen Führer. Er starb 1943 und wurde an der Kremlmauer beigesetzt.
[1] Vgl. Mario Keßler: Zionismus und internationale Arbeiterbewegung 1897 bis 1933, Berlin 1994.
Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844-1939), Hamburg: VSA-Verlag 2022.
Diese Rezension erschien zuerst auf dem Rezensionsportal sehepunkte23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023].