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Offensive der Gewerkschaften im polnischen Wahlkampf

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Demonstranten halten Plakate und schwenken Gewerkschaftsfahnen während des "Marsches der Wut" in Warschau.
Warschau, 15. September 2023: Tausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zogen unter dem Motto «Marsz Gniewu» (Marsch des Zorns) durch die Straßen Warschaus, um gegen niedrige Löhne zu protestieren. Foto: Attila Husejnow / IMAGO / ZUMA Wire

Nachdem in der Anfangsphase des Wahlkampfs für die Wahlen zum polnischen Parlament (Sejm) am 15. Oktober sozial- und gewerkschaftspolitische Forderungen kaum eine Rolle gespielt haben, kommen Gewerkschaften und linke Parteien damit nun in die Offensive.

«Marsch des Zorns»

Dr. Achim Kessler ist Leiter des Warschauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dr. Piotr Janiszewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Warschauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Am Freitag, dem 15. September, versammelten sich mehrere tausend Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu einem «Marsch des Zorns» (Marsz Gniewu) vor dem Büro des polnischen Ministerpräsidenten. Der Protest wurde von zwei der drei landesweiten Gewerkschaftsdachverbände organisiert, dem Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverband (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych, OPZZ) und dem Gewerkschaftsforum (Forum Związków Zawodowych, FZZ). Die regierungsnahe Gewerkschaft «Solidarność» hatte zuvor unter Ausschluss der übrigen Gewerkschaften und unter Umgehung der dafür vorgesehenen Gremien einen Deal mit der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) vereinbart. Medienberichten zufolge soll es vor der Parlamentswahl eine Streikwelle geben, um den Forderungen der Gewerkschaften Nachdruck zu verleihen. Angesichts eines gewerkschaftlichen Organisationsgrades von nur ungefähr 10 Prozent ist das ein mutiger Schritt, der den Ernst der Lage der Arbeitenden verdeutlicht.

Was fordern die Gewerkschaften?

Aufgrund der hohen Inflation liegt die Höhe der Löhne vieler Beschäftigter des Öffentlichen Dienstes in der Nähe des gesetzlichen Mindestlohns, der in Polen automatisch an die Inflation gekoppelt ist. Dadurch erhält ein Viertel der dort Beschäftigten eine Vergütung auf Mindestlohnniveau, im nächsten Jahr wird es mehr als die Hälfte sein. Dies könnte dazu führen, dass viele Kolleg*innen, ihre Arbeit aufgeben, was zu einer Lähmung des öffentlichen Dienstes führen kann.

Was sind die konkreten Forderungen?

  • Lohnerhöhung um 20 Prozent rückwirkend ab dem 1. Juli dieses Jahres und um 24 Prozent ab dem 1. Januar 2024.
  • Jährliche reale Lohnsteigerung im gesamten öffentlichen Dienst.
  • Eine gesetzliche Regelung, die einen deutlichen Abstand der Löhne im Relation zum Mindestlohn garantiert.
  • Verhinderung zunehmender Lohnunterschiede zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor

Reaktion der Opposition

Die Forderung nach einer Lohnerhöhung von 20 Prozent für den Öffentlichen Dienst wird von allen Parteien unterstützt, die als «demokratische Opposition» bezeichnet werden – der liberalen Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) (obwohl die von ihr angeführten Regierungen unter Donald Tusk in der Vergangenheit nicht gezögert haben, diese einzufrieren und dies mit der schwierigen Situation des Staatshaushalts zu rechtfertigen), dem Mitte-Rechts-Bündnis Dritter Weg (Trzecia Droga) und der linken Listenverbindung der Linken (Lewica). Die Übernahme dieser und anderer Forderungen der Linken durch andere Parteien der «demokratischen Opposition», insbesondere durch die Bürgerkoalition ist eine Wirkung der Linken. Programmatisch hat bei diesen Parteien somit eine deutliche Verschiebung in Richtung der Stärkung sozialer Rechte stattgefunden. Es wird sich zeigen, inwieweit diese Forderungen vor der Wahl auch nach der Wahl im Falle eines Regierungswechsels Gültigkeit haben werden.

Jedenfalls erklärte die Linke, dass eine Erhöhung der Löhne im Öffentlichen Dienst um 20 Prozent eine zwingende Voraussetzung für ihre Teilnahme an einer künftigen Regierungskoalition sei. Außerdem fordert die Linke eine gesetzliche Lösung, die gewährleistet, dass die Löhne im öffentlichen Dienst nicht unter 130 Prozent des Mindestlohns fallen, sowie eine allgemeine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden. Der Jahresurlaub soll von 26 auf 35 Tage verlängert, die Gründung von Betriebsräten erleichtert und die Stellung der «Staatlichen Arbeitsinspektion» gestärkt werden, die die Einhaltung der Rechte von Arbeitnehmer*innen kontrolliert. «Arbeitnehmerfragen sollen im Mittelpunkt der polnischen Politik stehen», sagte Adrian Zandberg, Co-Vorsitzender der Partei «Gemeinsam», die zum Bündnis der linken Parteien gehört. Viele Politiker*innen der Linken beteiligten sich aktiv am «Marsch des Zorns». Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes sind neben Frauen aus jüngeren Altersgruppen die wichtigste Wählergruppe, an die sich die Linke mit ihrer Botschaft richtet.

Reaktion der Regierung

Vertreter*innen der regierenden nationalkonservativen polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit und ihrer kleineren Koalitionspartner haben sich entschieden, nicht auf die Forderungen des «Marsches des Zorns» zu reagieren. Auf Nachfrage von Journalisten behaupteten sie sogar, sie hätten von diesem Marsch noch nichts gehört. Am 24. August kündigte Premierminister Mateusz Morawiecki bei einer Pressekonferenz die Erhöhungen des Haushalts für 2024 um 12,3 Prozent an. Der am selben Tag veröffentlichte Haushaltsentwurf für 2024 sieht jedoch nur eine Erhöhung um 6,6 Prozent vor, was lediglich die prognostizierte Inflation ausgleichen würde. Das lässt vermuten, dass die Regierung im Falle einer Wiederwahl keine Erhöhung der Löhne für den Öffentlichen Dienst plant.