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Wenn Wahlen zu einem ritualisierten Wettstreit zwischen dem Status quo und nebulösen Versprechungen von «Veränderung» werden, wächst die politische Apathie, meint Boris Popiwanow

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Demonstrant*innen versammeln sich vor dem Denkmal der Sowjetarmee in Sofia, Bulgarien.
Demonstrant*innen versammeln sich vor dem Denkmal der Sowjetarmee in Sofia, Bulgarien, um dessen Entfernung zu fordern, 9. Mai 2023.
 
 

 

 

Foto: IMAGO / NurPhoto

Am 14. September 2023 endeten die ersten 100 Tage der neuen bulgarischen Regierungskoalition unter Führung des unscheinbaren Chemieprofessors Nikolaj Denkow. Vom ersten Tag an hatten die bulgarischen Medien hitzig darüber diskutiert, ob die Koalition der beiden stärksten Kräfte in der bulgarischen Nationalversammlung – der rechtspopulistischen Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (GERB), die das Land von 2009 bis 2021 regiert hatte, und des liberal-konservativen Parteienbündnisses aus der neu gegründeten Partei Wir führen den Wandel fort (PP) und der Vorkämpferin des bulgarischen Liberalismus, Demokratisches Bulgarien (DB) – überhaupt so lange Bestand haben würde. Die beteiligten Parteien selbst lehnen übrigens den Begriff «Koalition» für ihre Zusammenarbeit ab und ziehen es vor, die Regierung als «Sglobka» zu bezeichnen, was so viel wie «Puzzleteil» bedeutet und auf die – reale oder vermeintliche – Instabilität des Bündnisses verweist.

Boris Popiwanow ist Professor für politische Ideenlehre an der Universität «Hl. Kliment Ohridski» in Sofia, Bulgarien.

Während jener ersten 100 Tage drohten GERB und PP-DB einander in Ultimaten und offiziellen Stellungnahmen mit der Aufkündigung des Koalitionsvertrags. Sie haben, erklärten sie, keinerlei Vertrauen zueinander und können sich nicht darüber einigen, wer die Koalition anführen solle – die GERB als größte Fraktion im Parlament oder die kleinere PP. Während der Streit darüber noch anhält, welche der beiden Parteien wichtiger ist, haben sie sich in der Zwischenzeit auf eine Ämterrotation verständigt. Nikolaj Denkow wird das Amt des Ministerpräsidenten als Vertreter der PP-DB zunächst für neun Monate bekleiden und dann mit seiner derzeitigen Stellvertreterin, Marija Gabriel (GERB), die Ämter tauschen. Nach allem, was man hört, schämen sich beide Parteien offenbar für ihre Zusammenarbeit, auch wenn sie das nicht öffentlich zugeben.

Die «Veränderung» des Status quo

Wie und warum konnte es zu dieser merkwürdigen Situation kommen? Bulgarien wurde im Sommer 2020 monatelang von massiven Protesten erschüttert, die sich gegen die langjährige Herrschaft der GERB und ihres Chefs Bojko Borissow richteten, der zum Inbegriff von Stillstand, Korruption, Rechtlosigkeit, Autoritarismus und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung geworden war. Viele Bulgar*innen nahmen die Regierung immer mehr als Oligarchie wahr, der die GERB lediglich als dünnes politisches Feigenblatt diente.

Borissow und die GERB konnten sich bis ins Frühjahr 2021 an der Macht halten, mussten dann jedoch abdanken. Daraufhin brach eine tiefe politische Krise aus, in der die parteipolitischen Herausforderer des GERB-Modells es nicht schafften, ihre Differenzen untereinander zu überwinden und eine glaubwürdige Alternative aufzubauen. In den folgenden zwei Jahren durchlief das Land fünf Parlamentswahlen: im April, Juli und November 2021, im Oktober 2022 sowie im April 2023, wobei die Wahlbeteiligung von Mal zu Mal sank – kamen im April 2021 noch 50,6 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne, so fiel die Wahlbeteiligung bis April 2023 auf 40,7 Prozent ab.

Letztlich offenbarte die Sglobka, wie oberflächlich der Gegensatz zwischen Status quo und Veränderung ist: Am Ende gingen beide Seiten zusammen, ohne dass es zu irgendeiner nennenswerten politischen Neuerung gekommen wäre.

Ungeachtet der weit verbreiteten Politikverdrossenheit hat die politische Elite Bulgariens immer wieder betont, dass der Konflikt zwischen «Status quo» und «Veränderung» die wichtigste politische Streitfrage des Landes sei. Dabei verkörperte die GERB den Status quo. Der Kampf um ein Monopol auf den vagen Begriff des Wandels wurde dagegen erbittert geführt. Mehrere Parteien stiegen scheinbar aus dem Nichts bis an die Spitze der Wahlumfragen auf, nur um wenige Monate später wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Schließlich kristallisierte sich allmählich ein gewichtiger Herausforderer mit dem vielsagenden Namen «Wir führen den Wandel fort» heraus. Die von den beiden Harvard-Absolventen Kiril Petkow und Assen Wassilew gegründete Partei versprach, Bulgarien aus dem postsozialistischen Morast zu führen und auf den Stand entwickelter westlicher Demokratien zu bringen. Da die PP im nationalen Wahlmarathon einmal den ersten und zweimal den zweiten Platz errungen hatte, sahen breite Wählerschichten in ihr die eigentliche Widersacherin der GERB, während sie durch das Bündnis mit der etablierten liberalen Partei DB ihren proeuropäischen Ruf festigen konnte.

Gefahr und Chance

Dass der Antritt der gemeinsamen Regierung mit der GERB am 6. Juni 2023 breite Enttäuschung hervorgerufen hat, kann daher nicht überraschen. Einige Beobachter*innen zogen Parallelen zu Deutschland, wo die Große Koalition unter Angela Merkel gewissermaßen zu einer pragmatischen Antwort auf das Problem der Regierungsbildung wurde. Doch in Bulgarien ist die Situation eine andere.

Im Falle Deutschlands werden Christ- und Sozialdemokratie zwar in der Tat oftmals als grundverschiedene Kontrahenten wahrgenommen, wobei einmal dahingestellt sei, ob dieser Eindruck zurecht besteht. Jedoch wurde keine der beiden Parteien mit dem erklärten Ziel gegründet, die andere zu zerstören. Die PP hingegen betrat die politische Szenerie just mit der Ansage, die GERB aufs Abstellgleis und ihren Anführer Bojko Borissow in den Ruhestand schicken zu wollen. Stattdessen ließ sie sich auf eine Zusammenarbeit mit der GERB ein und nahm Borissow vor den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Schutz.

Ausschlaggebend für diese abrupte Kehrtwende war die Angst der beteiligten Parteien, ihren Einfluss zu verlieren, sollte es zu weiteren unfruchtbaren Wahlwiederholungen kommen. Selbstverständlich führten GERB und PP-DB edlere Beweggründe für die Bildung ihrer Sglobka ins Feld und verwiesen diesbezüglich sowohl auf eine existenzielle Gefahr als auch auf eine einzigartige Chance.

Bei der drohenden Gefahr handele es sich um den Krieg in der Ukraine. Beide Koalitionspartner behaupten, die Interimsregierungen unter dem noch amtierenden Präsidenten Rumen Radew, der ursprünglich von der postkommunistischen Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) nominiert worden war und gegenwärtig als vertrauenswürdigster Politiker des Landes gilt, habe einer bedingungslosen Unterstützung Bulgariens für die ukrainische Sache im Weg gestanden und das Land in die Nähe der geopolitischen Ambivalenz eines Viktor Orbán gerückt. Es habe daher kein Weg daran vorbeigeführt, ihn durch eine Regierung mit glaubwürdiger euroatlantischer Ausrichtung zu ersetzen.

Eine Chance stelle die neue Regierung wiederum im Hinblick auf die notwendige Verfassungsreform dar, die die Macht zwischen den staatlichen Institutionen ausbalancieren, die Staatsanwaltschaft stärken und die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen solle. Die Regierungsparteien erklärten die Verfassungsreform zu einem hehren Ziel, dem gegenüber der übliche Parteienzank belanglos erscheine.

Mehr Europa, mehr Kapitalismus, mehr Probleme

Die Entscheidung der beiden größten Parteien zur Zusammenarbeit erscheint zweifelsohne als dramatischer Schritt. Bei der GERB handelt es sich um eine Partei eingefleischter Populist*innen – flexibel, mit einem Gespür für die öffentliche Meinung und der Fähigkeit, tagesaktuelle Fragen aufzugreifen. Das Parteienbündnis PP-DP hingegen macht einen kompromissloseren Eindruck in seiner elitären Haltung und scheint fest von seiner Mission überzeugt, das bulgarische Volk in eine leuchtende europäische Zukunft zu führen. In der gängigen Terminologie des europäischen Politikbetriebs könnte man die GERB tendenziell als Vertreterin des konservativen Spektrums bezeichnen, während die PP-DB dem liberalen Lager zuzurechnen ist. Doch sind die Unterschiede zwischen ihnen so fundamental, wie sie uns glauben machen wollen?

Beide Formationen sehen in der gegenwärtigen Form der Europäischen Union das Ideal, dem Bulgarien nacheifern solle. Sie halten die Förderung des privaten Unternehmertums für den einzigen Weg zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung und wollen die Steuern so niedrig wie möglich halten. Und als sei es nicht genug, dass beide die Probleme verkennen, die der zeitgenössische Kapitalismus verursacht, sind sie sich auch noch darin einig, dass das Heilmittel für alle sozialen und ökonomischen Schieflagen in mehr Kapitalismus liegt.

Ohne den Druck einer starken linken Alternative haben rechte Parteien wenig Veranlassung, ihre Politik zu ändern oder die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern.

Ähnlich beantworten beide Seiten auch die Frage, warum Bulgarien sich immer noch in der misslichen Lage befindet, das ärmste Land der EU und der Mitgliedstaat mit der größten sozialen Ungleichheit zu sein. Folgt man der GERB, ist der Aufschwung des Landes ein langsamer Prozess, der den lokalen Besonderheiten angepasst werden muss und vor allem auf dem Ausbau der Infrastruktur beruht. Häufig werde diese Entwicklung durch Fehlverhalten vor Ort und externe Krisen verzögert, was entsprechende Anpassungen erforderlich mache. PP und DB zufolge liegen die Ursachen schlicht darin, dass in Bulgarien kein echter Kapitalismus nach westlichem Vorbild existiere und der Markt hier, anders als im Westen, nicht wirklich frei sei. Sobald man das Land erst einmal endgültig von Korruption und Oligarchie befreie, werde der Kapitalismus das Versprechen von 1989 einlösen und Wohlstand für alle bringen.

Folglich spielt sich der Konflikt zwischen den beiden Parteien weitgehend abseits wirtschafts- oder sozialpolitischer Fragen, auf moralischem Gebiet ab. Der Streit darüber, wer korrupter und skrupelloser ist, fesselt seit 18 Monaten die Aufmerksamkeit der bulgarischen Medienlandschaft. Auch nach Denkows Kabinettsbildung im Juni d.J. setzten sich die Schlammschlachten und öffentlichen Anschuldigungen fort. Letztlich offenbarte die Sglobka, wie oberflächlich der Gegensatz zwischen Status quo und Veränderung ist: Am Ende gingen beide Seiten zusammen, ohne dass es zu irgendeiner nennenswerten politischen Neuerung gekommen wäre.

Die Kulturkampf-Koalition

Laut einer am 14. September 2023 veröffentlichen Erhebung des Umfrageinstituts Trend unterstützen gerade einmal 22 Prozent der Bevölkerung die amtierende Regierung. Einige Beobachter*innen führen die schlechten Ergebnisse auf die öffentliche Empörung darüber zurück, wie die Sglobka gebildet wurde. Es lassen sich aber auch tiefer liegende Ursachen ausmachen. In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit ließ das Kabinett keinen klaren Aktionsplan erkennen und zeigte sich anfällig für die Launen des parlamentarischen Ränkespiels. Der Ministerpräsident und seine Kolleg*innen haben zwar wiederholt die Inflation, wachsende Armut und Energieunsicherheit als drängende gesellschaftliche Probleme benannt, ernst zu nehmende Maßnahmen zu ihrer Bewältigung lassen jedoch weiter auf sich warten.

Ihre wichtigsten Spuren hat die neue Regierung indes auf dem Terrain des Kulturkampfs hinterlassen – ein aus den USA stammendes politisches Phänomen, das zuletzt in West- und zunehmend auch in Osteuropa Einzug hielt. Tatsächlich ist die bulgarische Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten von kulturellen Spaltungslinien durchzogen, sei es hinsichtlich der geopolitischen Orientierung (Russland oder der Westen) oder der Wertesysteme («modern» versus «traditionell»). Die neue Regierung ist allerdings bemüht, diese Spaltungen weiter zu vertiefen, sodass es beinahe so aussieht, als wolle sie auf diese Weise soziale und ökonomische Fragen von der politischen Tagesordnung verdrängen.

Die kulturkämpferischen Attacken der Regierung umfassen zahlreiche Vorhaben, die den vermeintlichen russischen Einfluss auf die bulgarische Gesellschaft eindämmen sollen – etwa Vorschläge zur Änderung des Nationalfeiertags, zum Abbau des Denkmals für die Rote Armee in der Hauptstadt Sofia und dergleichen mehr –, gegen die sich erwartungsgemäß heftiger Widerstand regt. Dabei sind die Motive aller Beteiligten so lächerlich wie durchsichtig: Nach Auffassung der Regierung haben die Bulgar*innen noch nicht unter Beweis gestellt, dass sie Europäer*innen sind; nach Auffassung der Opposition übt die Regierung Verrat am vermeintlich authentischen «Bulgarentum».

Wie überall führt der Kulturkampf auch in Bulgarien in eine Sackgasse, aus der es kein Entkommen gibt. Das ganze Gerede über nationale Identität und Unabhängigkeit ist Energieverschwendung und soll die Ratlosigkeit darüber kaschieren, dass auf Grundlage des rechten Status quo weder die Möglichkeit noch der politische Wille besteht, Verarmung und Stagnation effektiv entgegenzuwirken. Die Partner*innen der Sglobka versuchen erfolglos, sich als Alternativen zueinander zu profilieren. Die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, dass konservativer Populismus und liberale Technokratie sehr gut miteinander auskommen – und dass das Wohlergehen der Bevölkerung dabei auf der Strecke bleibt.

Planlose Opposition

Die Schwäche der parlamentarischen Opposition kommt den Überlebenschancen der Sglobka erheblich zugute. Die wichtigsten Kontrahent*innen der Regierung sind die rechtsextreme Partei Wiedergeburt (Wasraschdane), die BSP, bei der es sich nominell um eine Mitte-Links-Partei handelt, sowie die Kleinpartei Es gibt ein solches Volk (ITN) des populistischen TV-Moderators Slawi Trifonow. Zwischen diesen drei Parteien herrscht keine Übereinstimmung darüber, worin die Probleme der Regierung, geschweige denn der bulgarischen Gesellschaft, bestehen. Sie verdächtigen sich gegenseitig der Korruption oder der Finanzierung aus dem Ausland und bezichtigen einander als «unauthentisch».

Keine der drei Parteien, nicht einmal die sozialistische, hält die soziale Frage für das drängendste Problem Bulgariens. Stattdessen verausgaben sie sich in moralischen oder kulturellen Zwistigkeiten und geben sich paradoxerweise sowohl in ihrem parlamentarischen als auch in ihrem außerparlamentarischen Auftreten alle Mühe, nicht mit einer sozialen Agenda in Verbindung gebracht zu werden. Wahrscheinlich halten sie Sozialpolitik für langweilig, kompliziert und vor allem für zu weit entfernt von dem, was die Wähler*innen ihrer Meinung nach interessiert: Nation, Geschichte, Tradition und «Europa».

Der ITN scheint es hauptsächlich darum zu gehen, ihre Stimmen in wirtschaftliche Vorteile umzumünzen. Wasraschdane ist es als einziger Partei gelungen, ihr Ergebnis in jedem der fünf zurückliegenden Wahlgänge zu verbessern, doch diese Alternative ruft mindestens ebenso viel Schrecken wie Begeisterung hervor. Darüber hinaus lässt sich am parlamentarischen Abstimmungsverhalten dieser Partei ein Wesenszug ablesen, den sie mit anderen rechtsextremen Parteien in Europa teilt – nämlich ihre Übereinstimmung mit dem politischen Mainstream, wenn es um die Durchsetzung rechter Wirtschaftspolitik geht.

Nach über 16 Jahren EU-Vollmitgliedschaft haben Aufrufe, das Land näher an Europa heranzuführen, ihren verheißungsvollen Klang verloren.

Die BSP, die traditionell als Alternative zur neoliberalen Wirtschaftspolitik gehandelt wird, befindet sich in einer schweren weltanschaulichen und organisatorischen Krise. Kompromisse der Sozialist*innen mit den Rechten sind nicht neu. Vor 15 Jahren war es die damals regierende BSP, die eine Flat Tax und Europas niedrigsten Unternehmensteuersatz einführte. Der tiefe Riss, der heute durch die bulgarische Gesellschaft geht, ist zu einem großen Teil darauf zurückzuführen.

Auf Zugeständnisse an die Liberalen folgten Zugeständnisse an die Konservativen. Seit die aktuelle Vorsitzende, Kornelija Ninowa, 2016 an die Spitze der Partei gelangte, haben die Sozialist*innen sich weitgehend vom Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik zurückgezogen und einen rabiaten Propagandafeldzug zur Verteidigung «traditioneller Werte» aufgenommen. Ninowa stieg in ihrem Ehrgeiz, Nationalist*innen und Populist*innen das Terrain streitig zu machen, zur prominentesten Gegnerin der sogenannten Gender-Ideologie auf, und ihre Partei versuchte zuletzt sogar einen Volksentscheid gegen den Sexualkundeunterricht zu organisieren, der allerdings an mangelnder Unterstützung scheiterte.

Dieser Misserfolg brachte die Unzufriedenheit mit den ideologischen Kapriolen der Sozialist*innen deutlich zum Ausdruck. Innerhalb weniger Jahre verprellte die BSP 80 Prozent ihrer Wähler*innen und sah ihren politischen Einfluss rasant schwinden. Anfang 2023 initiierten einige der bekanntesten Köpfe der Partei eine Spaltung und riefen ein neues Bündnis namens Die Linke! (Levizata!) ins Leben. Allerdings hat diese Formation den konservativen Öffentlichkeitsauftritt ihrer Mutterpartei weitgehend übernommen, die Differenzen scheinen eher personeller als ideologischer Natur zu sein.

Einige kleinere Gruppierungen ziehen eine gewisse mediale Aufmerksamkeit auf sich, verfügen jedoch nicht über die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen zum Aufbau einer landesweiten Partei. Dass BSP und Levizata! bei der bevorstehenden Oberbürgermeisterwahl in Sofia die energische und beliebte Gewerkschaftsaktivistin Wanja Grigorowa als gemeinsame Kandidatin ins Rennen schicken, weckt hier und da Hoffnungen auf einen neuen Schwung von unten, doch es besteht die reale Gefahr, dass parteipolitische Intrigen die Nominierung torpedieren werden.

Leider betrifft die Fehlentwicklung der bulgarischen Linken nicht nur die BSP und ihr Umfeld, sondern wirkt sich auf die Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung aus. Ohne den Druck einer starken linken Alternative haben rechte Parteien wenig Veranlassung, ihre Politik zu ändern oder die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern.

Gegen falsche Dichotomien

Nur scheinbar löst die Sglobka Bulgariens politische Krise, die sich unter der Oberfläche gegenwärtig weiter verschärft. Die aktuelle Regierung veranschaulicht, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Status quo und Veränderung um ein Scheindilemma handelt. Die meisten Bulgar*innen verfallen angesichts der jüngsten Entwicklungen in Apathie, anstatt sich zu radikalisieren, was den alarmierenden Niedergang der bulgarischen Demokratie verdeutlicht.

Nach über 16 Jahren EU-Vollmitgliedschaft haben Aufrufe, das Land näher an Europa heranzuführen, ihren verheißungsvollen Klang verloren. Die überzogenen Erwartungen der Vergangenheit, mit der EU würden automatisch auch Ordnung und Wohlstand Einzug halten, sind verblasst. Bei den Bulgar*innen verfestigt sich zunehmend der Eindruck, die EU sei bereit, jede politische Clique an den Schalthebeln der Macht zu akzeptieren und zu legitimieren, solange sie sich nur den Richtlinien der europäischen Institutionen füge.

In Ermangelung von Alternativen bleibt «Europa» ein Vorbild für Bulgarien und wird als solches auch regelmäßig von Politiker*innen genannt, die allerdings nicht darüber nachdenken, ob Europa wirklich Lösungen für die zunehmende soziale Krise des Landes bereithält – oder nicht vielmehr eine Ursache dieser Krise darstellt.

Übersetzung von Maximilian Hauer und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.