Der 7. Oktober markiert eine grundlegende Zäsur in der Geschichte Israels. Über 1.000 Hamas-Kämpfer durchbrachen den stark befestigten Grenzzaun, der die abgeriegelte palästinensische Enklave vom israelischen Staatsgebiet trennt. Nachdem sie den Zaun selbst und militärischen Kontrollpunkte angegriffen hat, begann die Hamas mit willkürlicher, terroristischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Unter den Opfern waren zahlreiche Kinder und auch einige bekannte Friedensaktivisten. Die genauen Opferzahlen sind bis heute nicht bekannt.
Damit ist der israelisch-palästinensische Konflikt in eine neue und erschreckende Phase eingetreten. Rufe nach Rache wurden sowohl in der israelischen Bevölkerung als auch im Staat laut, und in den zehn Tagen seit dem Angriff erlebte die Welt ein beispielloses Luftbombardement des Gazastreifens, bei dem bereits Tausende getötet wurden. Eine mögliche Bodenoffensive könnte weitere Zehntausende Opfer fordern. Die Hoffnung auf einen gerechten Frieden im Nahen Osten war noch nie so gering wie heute.
Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und war am Tag der Anschläge im Land.
Das Interview erschien zuerst im Magazin JACOBIN. Magdalena Berger sprach mit Shohat über die Stimmung in Israel nach dem Anschlag, die Reaktionen der dortigen Linken und darüber, wie Solidarität in diesen schweren Zeiten aussehen kann.
Du warst am Tag der Angriffe der Hamas in Tel Aviv. Kannst Du die Stimmung am Tag selbst und in der Zeit danach schildern?
Das war eine ganz unheimliche Stimmung, die uns Samstag am Morgen erwischt hat. Zu dieser Zeit ist es in Israel eher ruhiger auf den Straßen. Darum haben wir zuerst nicht geahnt, was passiert ist. Den Sirenenalarm haben wir im Schlaf nicht mitbekommen, erst durch das Radio haben wir von den Raketen erfahren. Und im Laufe des Tages wurde uns klar, dass es sich nicht nur um eine neue Runde von Raketen aus Gaza und Luftschlägen aus der israelischen Armee handelt, sondern dass da mehr passiert ist. Es war für uns sehr schwer nachzuvollziehen, dass Kämpfer der Hamas tatsächlich in israelische Ortschaften in der Grenznähe vorgedrungen waren. Es war irreal, die Entwicklungen überschlugen sich.
Das war beängstigend, da braucht man nichts zu beschönigen. Wir haben unsere Wohnung nicht verlassen. Es gab ein großes Unsicherheitsgefühl und die Stimmung war unheimlich. Die Stadt war wie leergefegt, leerer noch als an einem normalen Samstag, und für uns stellten sich dann einfach ganz viele Fragen: Was sollen wir jetzt tun? Wie erklären wir das unseren Kindern?
Sogar israelische Linke, die vor den möglichen Folgen der Besatzung gewarnt haben, sind von dem Ausmaß an Brutalität seitens der Hamas schockiert. Wie geht die israelische Linke derzeit mit dem Terror und der Lage in Palästina um?
Man muss sich strukturell vor Augen führen, dass die israelische Anti-Besatzungslinke eine sehr, sehr kleine Gruppe ist. Trotzdem ist sie vernehmbar, viele der angegriffenen Orte sind auch Orte, wo Anti-Besatzungsaktivisten gelebt haben und getötet oder entführt wurden. Dazu zählt ein ehemaliges Vorstandsmitglied einer Menschenrechtsorganisation, die sehr viel zum Thema der israelischen Besatzung arbeitet. Das heißt, es ist nicht nur ein politischer Schmerz, der da in der Linken herrscht, sondern auch ein menschlicher, ein unmittelbarer.
Es herrscht auch Fassungslosigkeit darüber, dass die israelischen Sicherheitskräfte das zugelassen haben. Es gibt das Gefühl und eigentlich ist das ja die Wahrheit, dass diese Ortschaften total im Stich gelassen wurden, unter anderem, weil die Armee in den letzten Monaten zahlreiche Kräfte ins Westjordanland verlegt hat, um religiös-messianische Siedler zu schützen, die immer brutaler auch gegen die palästinensische Bevölkerung vorgehen. Dazu kommen die Vorkommnisse in Gaza. Der Hamas-Angriff ist zehn Tage her. Was seither in Gaza passiert, macht einen fassungslos und macht auch die Linke in Israel fassungslos.
Wir nehmen aber auch seit dem ersten Tag des Angriffs eine sehr laute Kritik an der Regierung, am Militär und den Geheimdiensten wahr.
Wie bewertest Du die internationalen Reaktionen innerhalb der Linken auf die Eskalation?
Im internationalen Kontext geht es vor allem darum, die Empathie für getötete und entführte Israelis zu wahren und dennoch nicht den Kontext zu vergessen. Ich habe wahrgenommen, dass diese Empathie, die alle zivilen Opfer des Angriffs verdienen, israelische Linke vermisst haben. Es gab viele Reaktionen, die zum Nachdenken über den Platz der israelischen Linken in der internationalen Linken anregten.
Aktuell sehen wir viele Wortmeldungen von Menschenrechtsorganisationen in Israel, aber auch von linken Akteuren und Anti-Besatzungsaktivisten, die sagen: Es gibt keinen Gegensatz zwischen einer Empathie für alle Getöteten in diesem Krieg und einer Verurteilung und Widerstand gegen das, was die israelische Armee im Gazastreifen macht. Diese Akteurinnen können diesen Dualismus aushalten, egal ob das jüdische oder palästinensische Israelis sind. Das finde ich beeindruckend in diesen Zeiten.
Wie wurde in der deutschsprachigen Linken damit umgegangen? Gab es da auch selektive und fehlende Empathie?
Ich nehme wahr, dass es aufgrund der deutschen Vergangenheit, aber auch der deutschen Gegenwart eine andere Haltung, auch auf der Linken, zur Situation in Israel und Palästina gibt. Ich finde, diese Haltungen sind historisch verständlich.
Es ist wichtig, den Opfern dieser schrecklichen Anschläge bedingungslose Solidarität und Empathie entgegenzubringen. Es ist aber gleichzeitig wichtig, sich der militärischen Reaktion entgegenzustellen, die daraus gefolgt ist. Israelis haben natürlich ein Interesse an Sicherheit, aber gerade die Linke in Israel ist davon überzeugt, dass diese Sicherheit nicht durch mehr Tote, mehr Leid, mehr Militarismus entsteht. Mit diesen Stimmen ins Gespräch zu kommen, halte ich für die deutsche Linke für sehr wichtig.
Gaza wird inzwischen seit Tagen bombardiert, über eine Million Menschen sind auf der Flucht. Gibt es in Israel Kritik an diesem Vorgehen?
Weite Teile der Bevölkerung sagen: Wir müssen zurückschlagen, wir müssen Rache nehmen. Das ist aktuell sehr stark, vor allem unter Rechten. Aber diese Reaktion gibt es bis ins Zentrum der politischen Landschaft. Im israelischen Kontext ist Solidarität mit dem Militär eine sehr stiftende Komponente für die jüdische Bevölkerung.
Wir nehmen aber auch seit dem ersten Tag des Angriffs eine sehr laute Kritik an der Regierung, am Militär und den Geheimdiensten wahr. Vor allem, wenn es um die Frage geht, wie es passieren konnte, dass die Ortschaften in der Nähe von Gaza so lange im Stich gelassen wurden. Da ist eine gehörige Portion Wut auf die Regierung da, vor allem auch von den Angehörigen der entführten Geiseln in den Gazastreifen. Es gab in den letzten Tagen vermehrt Proteste vor dem israelischen Verteidigungsministerium, die eine sofortige Freilassung forderten oder sich für einen Gefangenenaustausch eingesetzt haben.
War das in anderen Kriegen ähnlich?
Das ist ungewöhnlich, denn in der Regel ist es so, dass die Einigkeit, wenn Israel in der Vergangenheit in Kriege verwickelt war, besonders zu Beginn sehr groß war. Viele in Israel sagen aber auch: «Okay, wir müssen jetzt zusammenstehen, aber nachdem dieser Krieg vorbei ist, dürfen diejenigen, die das zu verantworten haben, keinen Tag länger im Amt bleiben». Das wird spannend zu beobachten, inwieweit diese Proteste eine eigene Dynamik entfachen und inwieweit auch diese Proteste verknüpft werden können mit einer Kritik der Besatzung. Denn, wie ich schon sagte: Kräfte, die vielleicht die Menschen im Süden Israels hätten schützen können, waren eben in derselben Zeit in den besetzten palästinensischen Gebieten und haben dort die Ausschreitungen von messianischen Siedlern beschützt. Die Menschen sehen dort also einen Zusammenhang zwischen der Schutzlosigkeit der Menschen im Süden Israels und der Stärkung und dem Schutz der israelischen Siedler im illegal besetzten Westjordanland.
Bestehende Verbindungen und die Solidarität zwischen den palästinensischen und israelischen Gruppierungen müssen erhalten bleiben.
In den vergangenen Monaten gab es in ganz Israel eine breite Bewegung gegen die rechtsextreme Regierung von Benjamin Netanjahu. Die wurde wiederum von vielen Palästinensern kritisiert, weil sie explizit nicht die israelische Besatzungspolitik thematisierte. Was wird aus dieser Protestbewegung?
Ich sehe, dass die Wut auf die Regierung immer noch da ist. Die Menschen, die in den letzten neun bis zehn Monaten jede Woche auf der Straße verbracht haben, um gegen die rechtsextreme Regierung zu protestieren, werden nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Man muss aber auch ganz klar sagen: Die Mehrheit der Menschen, die auf die Straße ging, nicht zuletzt die die Proteste tragenden Reservisten der Armee, unterstützt den Krieg, der jetzt stattfindet. Aber aus dem Anti-Besatzungs-Block, der auch eine sichtbare Präsenz hatte in der Protestbewegung, gehen auch Aktivisten und Aktivistinnen hervor, die einen Gefangenenaustausch statt mehr Militär fordern. Die Spaltung zwischen der Mainstream-Protestbewegung und der Anti-Besatzungs-Protestbewegung lebt weiter, nur jetzt in anderen Kontexten. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass sobald die kriegerischen Handlungen zu einem Ende kommen – und man will sich nicht vorstellen, wie die Region danach aussehen könnte – es weiter Opposition zu dieser Regierung geben wird.
Es ist auch interessant zu sehen, dass diejenigen Figuren in der rechtsextremen Regierung, die eben am meisten polarisiert haben, die sich am meisten für die Justizreform eingesetzt haben, weil es in ihren messianischen Siedlungsinteressen gedient hat, aktuell im Notstandskabinett eigentlich so gut wie keine Rolle spielen. Dafür gießen sie innenpolitisch weiter Öl ins Feuer.
Wie wirkt sich der Krieg innerhalb Israels aus?
Neben den Maßnahmen der Armee macht es mir große Sorge, dass wir eine zunehmende Repression gegen palästinensische Staatsbürger Israels sehen. Wer etwa in einem Social Media Post Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen äußert, kann von seiner Arbeit suspendiert werden. Diese Fälle häufen sich aktuell. Der Vorwurf lautet dann «Solidarität mit dem Feind».
Gleichzeitig sehen wir immer mehr Fälle von Angriffen auf palästinensische Israelis, teilweise werden sie auch aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. In Israel leben über zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, die neben der strukturellen Diskriminierung, die sie erleben, in dieser Phase Angst haben vor Racheakten von israelischen Rechten. Innerhalb Israels wird gerade auch der Zugang zu Schusswaffen für Zivilistinnen und Zivilisten erleichtert.
Es ist ermutigend zu sehen, dass es Gruppierungen gibt von Juden und Palästinensern in Israel, die sich zusammentun, um die palästinensische Bevölkerung zu schützen. Es gibt Initiativen, die sich dem entgegenstellen, aber ich vernehme eine sehr große Angst vor dem, was auch innerhalb Israels für die palästinensische Bevölkerung ansteht.
Diese Repressionen richten sich auch gegen Linke. Das prominenteste Beispiel war der Journalist Israel Frey, dessen Wohnung von rechten Demonstranten belagert wurde, die ihn Verräter nannten. Schrumpft der Raum für progressive Bewegungen?
Das ist keine neue Entwicklung. Progressive Räume schrumpfen seit Jahrzehnten in Israel. Das kriegen wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung auch immer wieder zu spüren. Wir haben in den letzten Jahren schon mehrmals Veranstaltungen gehabt, in denen Aktivisten von rechtsradikalen Gruppen aufgetaucht sind und die Veranstaltenden einschüchtern wollten.
Auch Angriffe auf Journalisten sind nichts Neues. Der Haaretz-Journalist Gideon Levy kämpft seit 2014 gegen persönliche Angriffe vor seinem Haus. Israel Frey ist ein weiteres Beispiel: Linke gelten für israelische Rechte eben als Verräter, als Vaterlandsverräter, als «Araber-Liebhaber», wie man sie nennt. Sie sind immer Ziel rechter Angriffe und sind gefährdet. Darum ist ihr Aktivismus, ihre Solidarität auch so bemerkenswert in dieser Zeit.
Zurück zu Gaza: Welche Folgen haben diese andauernden Bombardierungen und eine mögliche Bodenoffensive für die Menschen dort?
Ich kann das aus einer palästinensischen Perspektive gar nicht bewerten. Ich will das auch nicht, weil ich nicht die Expertise habe. Ich kann nur sagen, dass die Bilder, die wir sehen, uns alle schockieren und uns zutiefst besorgt machen. Es gibt etwa im Palästina-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Mitarbeiterin, die im Gazastreifen lebt. Auch in meinem Israel-Team haben Mitarbeiterinnen Verwandte dort und sorgen sich sehr um sie.
Das heißt, wir sind alle sehr, sehr besorgt und schockiert über das, was da passiert. Wir versuchen als Stiftung unser Möglichstes, aber wir kennen die Begrenztheit unserer Mittel. Aber eine Sache ist klar, und da gebe ich wieder die Position der israelischen Anti-Besatzungs-Aktivistinnen wieder: Die Militärangriffe führen nicht zu mehr Sicherheit. Sie sind nur ein weiterer Schritt im Kreislauf der Gewalt, der nicht zu Frieden führt, sondern zu noch mehr Hass.
In Deutschland gibt es kaum Raum für pro-palästinensische Stimmen. Demonstrationen werden pauschal verboten und teilweise sogar palästinensische Symbolik. Du bist selbst hier aufgewachsen, aber hast Wurzeln in Israel. Wie bewertest du diesen Umgang des deutschen Staates mit dem Konflikt?
Es ist von oberster Bedeutung, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen und Antisemitismus zu bekämpfen. In dieser Hinsicht haben wir in den vergangenen Tagen auch besorgniserregende Vorfälle, wie etwa Angriffe auf Synagogen, erlebt. Und wenn es Fälle gibt, in denen es auf Demonstrationen auch antisemitische Äußerungen getätigt werden, muss natürlich, wie bei jeder anderen Demonstration auch, dagegen vorgegangen werden. Aber das kann nicht mit einer pauschalisierenden Vorverurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen einhergehen.
Wir leben in einer Zeit, in der die Räume für offene Debatten und für Solidarität mit unterdrückten Gruppen insgesamt kleiner werden. Dazu gehören offensichtlich auch die Palästinenserinnen und Palästinenser. Wir haben in Deutschland eine sehr große palästinensische Diaspora, die aus guten Gründen besorgt und wütend ist.
Für sie sollte das gleiche Recht gelten wie für alle: freie Meinungsäußerung. Ich glaube, es kann niemandem, der an einer pluralen und vielfältigen Demokratie interessiert ist, gleichgültig sein, was da passiert. Gleichzeitig ist es meines Erachtens wichtig, dass bestehende Verbindungen und die Solidarität zwischen den palästinensischen und israelischen Gruppierungen erhalten bleibt. Denn klar ist auch: Jede Zukunft der Region kann nur eine gemeinsame Zukunft sein. Mir ist wichtig, dass Berlin weiterhin ein Ort bleibt, an dem diese gemeinsame Zukunft auch gedacht werden kann.