Kommentar | Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Wie ein Lauffeuer: Gaza unter Phosphorbeschuss

Weißer Phosphor muss geächtet werden. Er leuchtet nicht nur, er brennt sich auch tief in die Haut.

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Jan van Aken,

Gaza-Stadt, 11.10.2023: Mutmaßlicher Einsatz von Phosphorbomben durch das israelische Militär
Anders als Streubomben oder chemische Waffen ist der Einsatz von Phosphormunition nicht verboten, sondern Kriegsalltag. Weißer Phosphor leuchtet nicht nur, er brennt sich auch Unbeteiligten tief in die Haut – und muss geächtet werden. Gaza-Stadt, 11.10.2023, Foto: Ali Jadallah/Anadolu via Getty Images

Zum Grauen des Krieges gehört die Gewöhnung an das Grauen. Tausend Tote sind eine Nachricht, zweitausend nicht mehr. Nach der ersten Nacht sind die Bombenangriffe auf Gaza kaum noch eine Zeile wert. Erst der Angriff auf ein Krankenhaus durchbricht die schleichende Normalisierung des Krieges. Oder ein Angriff mit besonders verachtenswerten Waffen. Wie etwa weißer Phosphor, der horrende Folgen auch für Zivilist*innen haben kann.

Human Rights Watch berichtete am 16. Oktober über den Einsatz von Phosphormunition durch das israelische Militär in Gaza. Und hat damit die weltweite Aufmerksamkeit auf die massiven Bombenangriffe im Gazastreifen gelenkt, denn die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer rund um den Globus.

Weißer Phosphor kann grausame Wunden zufügen

Warum ist das so? Weißer Phosphor ist keine Chemiewaffe. Sein Einsatz im Krieg ist nicht generell verboten, er ist sogar alltäglich. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass bei den Einsätzen letzte Woche in Gaza auch nur ein Mensch durch den Phosphor zu Schaden kam, während über 3.000 Menschen durch die Bombenangriffe getötet wurden. Und 1.400 Israelis durch den Terror der Hamas. Und 200 Menschen, die von der Hamas entführt wurden, mit ungewissem Schicksal. Brutalste Gewalt, Terror, Bombenteppiche – warum ist der weiße Phosphor da noch eine besondere Nachricht?

Jan van Aken ist Referent für internationale Krisen und Konflikte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der promovierte Biologe arbeitete von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Zwischen 2009 und 2017 war er Abgeordneter der Linksfraktion im Bundestag.

Fangen wir vorn an: Weißer Phosphor entzündet sich bei Kontakt mit der Luft und brennt äußerst heiß und unter starker Rauchentwicklung ab. Es wird militärisch vor allem eingesetzt, um des Nachts ein Schlachtfeld zu erleuchten oder aber um einen Rauchschleier als Sichtschutz zu legen. Granaten werden in die Luft geschossen, viele kleine mit Phosphor imprägnierte Teilchen verteilen sich über ein großes Gebiet und sinken langsam zu Boden. Das Problem: Sind sie noch nicht abgebrannt, wenn sie den Boden erreichen, können sie dort in Sekundenschnelle alles in Brand setzen. Oder Menschen ganz fürchterliche Wunden zufügen, denn der Phosphor brennt sich mit einer Temperatur von 800°C tief in die Haut ein. Eine ganz grauenhafte Waffe, wenn sie direkt gegen Menschen eingesetzt wird – was tatsächlich auch schon gemacht wurde, etwa im Vietnam-Krieg.

Einsatz von weißem Phosphor im Irakkrieg

Auch nach dem völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak 2003 hat das US-Militär weißen Phosphor brutalstmöglich eingesetzt. Wenn feindliche Kämpfer nicht einfach erschossen oder ausgebombt werden konnten, weil sie sich in Häusern oder Höhlen versteckten, dann wurden sie direkt mit weißem Phosphor beschossen, der sich durch die Haut bis auf die Knochen seiner Opfer frisst. Wer noch laufen konnte und seine Deckung verließ, wurde erschossen. Diese Mischung aus Brandbomben und scharfem Beschuss wird in der US-Armee lapidar als „shake ‘n‘ bake“ (Schütteln und Backen) bezeichnet – in Anlehnung an eine amerikanische Fertiggericht-Marke.

So entmenschlicht dieses „shake ‘n‘ bake“ in unseren Ohren klingt: Im Krieg ist es erlaubt, solange damit nur auf gegnerische Kämpfer*innen und nicht auf Zivilist*innen geschossen wird. Denn im Krieg geht es ja genau darum: Die Gegner*innen umzubringen. Für Völkerrecht ist da wenig Platz. Geächtet sind im Krieg vor allem solche Waffen, die unterschiedslos auch Zivilist*innen treffen oder diese im besonderen Maße gefährden. Deshalb gibt es eine besondere Ächtung von biologischen und chemischen Waffen und von einigen konventionellen Waffen, letzteres normiert in der Convention on Certain Conventional Weapons (CCCW).

Das Protokoll III der CCCW verbietet unter bestimmten Umständen den Einsatz von Brandwaffen. Allerdings sind Brandwaffen hier klar definiert als solche Waffen, die speziell dafür gebaut wurden, Menschen oder Material in Brand zu setzen. Ausdrücklich ausgenommen von dem Verbot sind solche Waffen, die nur unbeabsichtigt Brände auslösen und eigentlich eine andere Funktion haben. Genannt ist dort als Ausnahme unter anderem das Beleuchten von Schlachtfeldern oder das Legen von Rauchvorhängen.

Großes Risiko für die Zivilbevölkerung

Und genau das ist falsch. Denn es mag in den Hochglanzbroschüren der Rüstungsindustrie so sein, dass die Artilleriegranaten mit weißem Phosphor genau das tun, was ihnen gesagt wird: Schön sauber abbrennen, bevor sie auch nur in die Nähe des Bodens kommen, und am Ende rieselt ein bisschen Asche zu Boden. Das wirkliche Leben hält sich aber nicht an die Theorie. Es gibt dazu einen hervorragenden Bericht von Forensic Architecture, einer ausgezeichneten Rechercheagentur, aus dem Jahre 2012, in dem anhand von Beispielen aus Irak und Gaza der Einsatz von Phosphor-Granaten modelliert wird.

Die Agentur kommt zu einem eindeutigen und harschen Urteil: Je nach Umwelt- und Wetterbedingungen besteht immer die Wahrscheinlichkeit, dass brennende Teile der Phosphormunition Menschen oder Material treffen: „Unabhängig von dem militärischen Einsatzziel besteht ein großes Risiko für Leib und Leben der zivilen Bevölkerung im Einsatzgebiet“, heißt es darin. Dieses Risiko könne „durch das Militär, das diese Munition einsetzt, weder kontrolliert noch gemanaged werden“.

Genau darum ist der aktuelle Bericht von Human Rights Watch zum Einsatz von Phosphormunition in Gaza so wichtig. Gaza ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, bei jedem Einsatz von Phosphormunition besteht hier das Risiko, Unbeteiligte zu treffen. Deshalb wäre es an der Zeit, das Protokoll III der CCCW endlich zu erweitern und jegliche Art von Waffen, die Zivilist*innen fürchterliche Verbrennungen zufügen können, ebenfalls zu verbieten.
 

Der Text wurde zuerst veröffentlicht bei der Freitag am 19.10.