Nachricht | Brasilien / Paraguay Die Geografie des Hungers besteht fort

Solidarische Küchen und Ernährungssouveränität in Brasilien

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Autorin

Denise De Sordi ,

Eine von vielen solidarischen Küchen in Brasilien. Zivilgesellschaftliche Bewegungen unterstützen die arme Bevölkerung mit kostenlosen Speisen.
Eine von vielen solidarischen Küchen in Brasilien. Zivilgesellschaftliche Bewegungen unterstützen die arme Bevölkerung mit kostenlosen Speisen. Bild: Alexandre Garcia

Vor 50 Jahren starb der brasilianische Geograf und Hungerforscher Josué de Castro. Bis heute beeinflusst sein Werk soziale Bewegungen im Kampf um Ernährungssouveränität. Ein Beispiel sind die solidarische Küchen, in denen sich Menschen kollektiv gegen den Hunger organisieren.

Hunger ist menschengemacht - das ist das zentrale Argument von Josué de Castros Buch Geografie des Hungers (Geografia da Fome). Im Jahr 1946 veröffentlichte der brasilianische Geograf sein grundlegendes Werk über den Hunger in Brasilien. Mit dem Untertitel «Das brasilianische Dilemma: Brot oder Stahl» untersuchte de Castro das Phänomen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens.

Josué de Castro betrachtet Hunger als Folge der jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsform und damit als direkte Folge der Entscheidungen jener, die gesellschaftspolitische Verantwortung tragen. Damit brachte der Geograf in Debatten über den Hunger insbesondere die soziale Frage auf die Tagesordnung. Es geht ihm nicht allein um die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, sondern um Fragen wie den Zugang zu Land, Einkommen und um die Wohn- und Lebensbedingungen. In der von sozialen Konflikten geprägten Nachkriegszeit, in der die brasilianische Arbeiterklasse mit großen Mobilisierungen für bessere Lebensbedingungen kämpfte, trafen diese Debatten auf fruchtbaren Boden. So wurde damals in Brasilien schrittweise ein staatlich garantiertes Existenzminimum erkämpft.

Ökonomie des Hungers

De Castro argumentierte, dass unsere Gesellschaft Vernunft über Körperlichkeit stelle und damit über physische Bedürfnisse wie Hunger ein moralisches Tabu verhänge. Aber auch «jenseits dieser moralischen Vorurteile» sei das Thema mit den «wirtschaftlichen Interessen herrschender Minderheiten» verbunden. «Das liegt daran», so de Castro, «dass die Produktion, die Verteilung und der Konsum von Nahrungsmitteln als ausschließlich wirtschaftliche Phänomene betrachtet werden und nicht als Tatsachen, die eng mit den Interessen der öffentlichen Gesundheit verbunden sind». De Castro betrachtete dabei Brasilien als «Beobachtungslabor für die gesellschaftliche Erforschung des Problems». Anhand brasilianischer Beispiele entwirft er Modelle, um über das Fortbestehen des Hungers weltweit nachzudenken, auch dort, wo es nicht an Nahrungsmitteln mangelt, sondern an den Möglichkeiten, diese zu erwerben.

Die sozialen Konflikte, vor deren Hintergrund de Castro sein Buch verfasste, wurden mit der Redemokratisierung im Jahr 1988 abgemildert. Gelöst wurde die tief verankerte soziale Ungerechtigkeit aber nicht – sie bleibt ein struktureller Bestandteil des Kapitalismus in Brasilien. So lässt sich auch für das 21. Jahrhundert sagen, dass die gesellschaftlichen Probleme und Konflikte in Brasilien denen ähneln, die de Castro in seinem Buch beschreibt.

Dies wurde durch ultra-neoliberale Politiken zusätzlich verschärft, die zwischen 2016 und 2022 dafür sorgten, dass Armut und Hunger sich ausbreiteten und verschärften. Vor diesem Hintergrund können wir die Arbeit von Josué de Castro als Aufruf zum Handeln verstehen. Ebenso wertvoll sind dabei die Erfahrungen der historisch gewachsenen sozialen Bewegungen auf dem Land und in der Stadt, die ebenfalls gegen den Hunger kämpfen und Perspektiven zur gesellschaftlichen Veränderung aufzeigen.

Mit solidarischen Küchen gegen den Hunger

Eine wichtige Organisationsform zur Verteidigung der Ernährungssouveränität sind in diesem Zusammenhang die von sozialen Bewegungen selbstorganisierten «solidarischen Küchen».  Deren Ziel war es, «das zu tun, was die Regierung nicht tut». Vor allem als in den Jahren 2021 und 2022 rund 33,1 Millionen Arbeiter*innen von Hunger betroffen waren, wurden diese Küchen buchstäblich aus der Not geboren und weiterentwickelt.

Aufgrund ihrer Reichweite und ihrer Funktion als fester, regelmäßiger Anlaufpunkt kommt den Küchen eine wichtige Rolle bei der Organisierung vor Ort und beim Aufbau von Netzwerken zwischen Stadt und Land zu. Für die Bekämpfung des Hungers können sie damit wichtige politische und programmatische Anstöße geben.

Ihren Ursprung haben die Küchen in der Wohnungslosenbewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto). Diese inspirierten mit ihren Aktionen sogar eine gesetzliche Verankerung der Küchen, die von dem Abgeordneten Guilherme Boulos (Partido Socialismo e Liberdade - PSOL) vorangetrieben wurde.  So wurde das Nationale Programm Solidarische Küche (Programa Nacional Cozinha Solidária – PNCS) eingerichtet. Umgesetzt wird es im Rahmen des Programms zur Beschaffung von Lebensmitteln (Programa de Aquisição de Alimentos - PAA) - ebenfalls eine Errungenschaft der sozialen Bewegungen auf dem Land.

Der Hungernotstand und der Aufruf zum Handeln

Das Projekt der solidarischen Küchen ist eine Antwort auf die Hungersnot von 2021/22 und auf das «Knochensammeln» – so wurden in Brasilien jenes Phänomen genannt, als Hunderte von Arbeiter*innenfamilien Mülltonnen und Schlachthöfe nach Essensresten durchsuchten, die eigentli h zur Herstellung von Tierfutter bestimmt waren. Gerade auch Arbeiter*innen, die unter den PT-Regierungen zwischen 2003 und Mitte 2015 noch von einer Politik profitiert hatten, die ein Existenzminimum und den Zugang zu sozialen Rechten garantierte, waren von der Verarmung betroffen. Die politischen Ursachen dafür lagen in der Deregulierung des Arbeitsmarkts unter Interimspräsident Michel Temer (2016-2018) und dem Abbau von Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Hunger unter der Regierung Bolsonaro (2018-2022).

Aktuelle Daten des brasilianischen Forschungsnetzwerks für Ernährungssouveränität und -sicherheit (Rede Penssan) geben Aufschluss über die verheerenden Folgen dieser Politik. Zwischen 2021 und 2022 war demnach über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung (58,7 Prozent, gegenüber 36,7 Prozent im Jahr 2018) von Ernährungsunsicherheit betroffen. Das betrifft 60 Prozent der Haushalte in ländlichen Gebieten und 21,8 Prozent der kleinbäuerlichen Familien. Das Netzwerk warnt: «die Geografie des Hungers besteht fort.»

Vielerorts war der Schritt von der gemeinsamen Suche nach Nahrungsmitteln zur Organisation in solidarischen Küchen nicht weit. Noch im Jahr 2021 startete die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter*innen (MTST) Kampagnen zur Verteilung von Lebensmittelkörben. Doch die Arbeiter*innen hatten nicht die Mittel, um das Essen auch zu kochen. Eine Gasflasche kostete 160 brasilianische Reais (ca. 30 €), das waren 13,2 Prozent des damaligen Mindestlohns. Basierend auf den Erfahrungen mit Gemeinschaftsküchen trieben sie daher die Eröffnung von solidarischen Küchen im ganzen Land voran, um kostenlose Mahlzeiten verteilen zu können. Diese sollten nach Möglichkeit mit Lebensmitteln hergestellt werden, die von in der Bewegung der Kleinbäuer*innen MPA (Movimento dos Pequenos Agricultores) organisierten Familien produziert wurden. Ergänzt wurde dies durch Gemüsegärten, die in den Gemeinden angelegt wurden.

Wir können das Entstehen des Projekts der solidarischen Küchen des MTST auf drei grundsätzliche politische Problemstellungen zurückführen, die sich insbesondere unter den sich verschärfenden Klassengegensätzen und der Aushöhlung der Demokratie unter Bolsonaro deutlich zeigten. Erstens, erwies sich die reine Verteilung von Lebensmittelkörben als unzureichend. Zweitens, war der der Erfahrungsaustausch mit argentinischen Aktivist*innen und ihren Gemeinschaftsküchen prägend. Drittens, waren die Kämpfe um Wohnraum angesichts zunehmender Gewalt, Verarmung und Hunger an ein entscheidendes Hindernis gestoßen.

So hieß einer der zentralen Slogans der MTST auch «Wohnraum, Arbeit und Brot». Die solidarischen Küchen haben an Tragweite und Bedeutung gewonnen, weil sie an miteinander verknüpfte territoriale Kämpfe für bessere Lebensbedingungen und für Arbeits- und Bürger*innenrechte anknüpfen. Dies zeigt nicht nur die Möglichkeit der Vernetzung zwischen Stadt und Land auf, sondern beschreibt auch das, was sie von anderen Erfahrungen unterscheidet, wie etwa von den Gemeinschaftsküchen von gemeinnützigen Organisationen, die nicht das gleiche politische Potenzial besitzen und vor allem an die institutionalisierte Lebensmittelverteilung der 1990er-Jahre anknüpfen. Die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, die den Hunger hervorbringen, ist nicht notwendigerweise das Ziel dieser Initiativen. Der Geografie des Hungers haben sie damit wenig entgegenzusetzen.

Kollektives Handeln statt Wohltätigkeit

Die solidarischen Küchen und das PNCS setzen demgegenüber auf gemeinschaftliches Handeln und eine kollektive Perspektive. Dies steht im Gegensatz zur neoliberalen Wohltätigkeit, die vor allem an das Gewissen appelliert und individuell ausgerichtet ist. Die Erfahrung der solidarischen Küchen vereint Forderungen der sozialen Bewegungen auf dem Land und in der Stadt. Gemeinsam gehen sie davon aus, dass das Recht auf Ernährung nicht realisierbar ist, wenn es keine politischen Kämpfe hierfür gibt und wenn die Rechte auf Wohnung, Gesundheit, Arbeit, Land, Einkommen und Bildung nicht gewährleistet sind.

Wenn man bedenkt, dass Brasilien 2014 von der Welthungerkarte gestrichen wurde, ist die Entwicklung der Ereignisse zwischen 2016 und 2022 umso gravierender und muss dringend aufgearbeitet werden. Wir müssen reflektieren, was uns die sozialen Kämpfe gezeigt haben: Ohne die Organisation der Bevölkerung und deren Auseinandersetzung mit dem Staat und seiner Präsenz im öffentlichen Raum werden die Fortschritte im Kampf gegen den Hunger oberflächlich bleiben. Eine Geografie des Hungers macht nur dann Sinn, wenn wir verstehen, dass «Hunger» historisch bedingt ist. Er ist dynamisch, wird gesellschaftlich bestimmt, erfahren und gefühlt, und er tritt inmitten eines breiteren sozialen Prozesses auf. Daher erfordert der Kampf gegen den Hunger menschliches Handeln und die Fähigkeit, ihn geografisch und historisch zu erfassen und einzuordnen.