Nachricht | Westafrika - Sozialökologischer Umbau - COP28 Der Rechtsweg als Form des Widerstands

Ölverschmutzung im Nigerdelta und Klagen gegen Shell

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Ogoniland, Nigerdelta, 16. Juni 2023: Arbeiter sammeln Abfälle aus einem Ölteppich.
Ein Ölaustritt in einer Shell-Anlage in Nigeria hat Ackerland und einen Fluss verseucht. Die Ölförderung von Shell zerstört schon seit langem das Ökosystem und damit die Lebensgrundlagen der Fischer- und Bauerngemeinschaften im Nigerdelta. Ogoniland, Nigerdelta, 16. Juni 2023: Arbeiter sammeln Abfälle aus einem Ölteppich., Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Das Nigerdelta blickt auf eine lange Geschichte des Widerstands gegen die Erdölförderung zurück. Seit Jahrzehnten kämpfen die von Umweltverschmutzung und -zerstörung betroffenen Gemeinden gegen mächtige Ölkonzerne wie Shell, die auf ihrem Land tätig sind. Nach der Gewalteskalation in den 1990er und 2000er Jahren begannen immer mehr Gemeinden den Rechtsweg als Form des Widerstands zu beschreiten – mit Erfolg.

Die Probleme im Zusammenhang mit Ölförderung und Umweltverschmutzung im Nigerdelta sind tief in der Kolonialgeschichte Nigerias verwurzelt. Als ehemalige britische Kolonie ist Nigeria ein multiethnischer Staat und ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Erst durch die britische Kolonialherrschaft wurde die afrikanische Nation südlich der Sahara zu einem Nationalstaat. Die Kolonialmacht Großbritannien sorgte mit Gewalt und Repression dafür, dass sich verschiedene soziale Gruppierungen (ethnische Gruppen) zum nigerianischen Staat zusammenfügten. Nach einer Reihe von Auseinandersetzungen und Verhandlungen, die sich über fast 60 Jahre hinzogen, wurde das Land 1960 schließlich unabhängig.

Arochukwu Paul Ogbonna studierte Politikwissenschaft an der University of Port Harcourt und Jura an der Rivers State University of Science and Technology. Derzeit ist er Menschenrechtsanwalt und Programmbeauftragter für politische Bildung und Menschenrechte beim Social Development Integrated Centre (Social Action) in Port Harcourt, Rivers, Nigeria.

Der Weg zur Gründung und Unabhängigkeit des nigerianischen Staates war von widersprüchlichen Entwicklungen gekennzeichnet. Noch heute ist die Wirtschaftsstruktur des Landes davon geprägt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen anderen politisch überlegen sind und dass die Schalthebel der nigerianischen Wirtschaft nach wie vor unter dem Einfluss der ökonomischen Interessen der ehemaligen Kolonialmacht und ihrer lokalen Kollaborateure stehen. 1937 hatte die Kolonialregierung Shell D'Arcy exklusive Lizenzen und unbegrenzten Zugang zu den nigerianischen Erdölreserven erteilt. Shell D'Arcy war als Tochtergesellschaft der British Petroleum Company gegründet worden und wurde in Nigeria unter dem Namen Royal Dutch Shell geführt. Die ersten Versuche der Ölexploration waren wenig erfolgreich. Erst 1956 wurden in Oloibiri im Nigerdelta, im heutigen Bundesstaat Bayelsa, größere Mengen Erdöl entdeckt.

Die Entdeckung brachte Nigeria wirtschaftlichen Aufschwung, machte das Land interessant für internationale Investor*innen und löste einen Ansturm internationaler Ölkonzerne aus, die sich am Ölgeschäft im Nigerdelta beteiligen wollten. In den Jahren 1957 und 1958 begann man in verschiedenen Gemeinden des Nigerdeltas, das damals zur alten Ostregion des Landes gehörte, mit der Ölförderung im großen Stil. Die Verschiffung von Erdölprodukten nach Europa und die enormen Einnahmen, die sie der Region einbrachten, waren daher ein essentieller Teil der Volkswirtschaft, bevor Nigeria 1960 unabhängig wurde.

Vom Sklavenhandel zum Palmöl: Die wirtschaftliche Bedeutung des Nigerdeltas

Es wäre nicht ganz richtig zu behaupten, dass das Nigerdelta erst durch die Erschließung und Förderung von Erdöl ins nationale und internationale Blickfeld gerückt ist. Schon Jahrhunderte bevor europäische Ölgesellschaften in die Region kamen, war es ein bedeutendes Gebiet. Im sechzehnten Jahrhundert lebten dort europäische Sklavenhändler, die mit menschlicher Fracht Geschäfte machten. Nach der Abschaffung des Sklavenhandels ließen sich verschiedene europäische Handelsgesellschaften wie die United African Company, John Holt, Michelin, Lever Brothers usw. in der Region nieder. Sie alle waren auf der Suche nach Rohstoffen, insbesondere Palmöl, um den Bedarf der europäischen Industrie zu decken und konnten Fertigerzeugnisse über die Wasserwege des Nigerdeltas in die anderen Regionen Nigerias und nach ganz Westafrika transportieren.

Nach Angaben der nigerianischen Regierung umfasst das Delta mehr als 70.000 Quadratkilometer, was 7,5 Prozent der Fläche Nigerias ausmacht. Es erstreckt sich von Norden nach Süden über eine Länge von fast 240 Kilometern und deckt etwa 320 Kilometer der nigerianischen Küstenlinie ab. Die Region befindet sich in den Bundesstaaten Rivers, Akwa Ibom, Bayelsa, Delta, Cross River, Ondo, Edo, Abia und Imo, also in 9 der 36 Bundesstaaten der Bundesrepublik Nigeria, und liegt in den geopolitischen Zonen Süd-Süd und Süd-Ost.

Viele ethnische Minderheiten, unter anderem die Ijaw, Ogoni, Ikwerre, Igbo, Urobo, Itsekiri, Efik, Ibibio, Anang und die Benin, leben in der Region. Sie beherbergt beeindruckende Mangrovenwälder, zahlreiche Pflanzen- und Tierarten sowie Flüsse und andere Gewässer, in denen verschiedene Wassertiere leben und die den Boden fruchtbar für die landwirtschaftliche Produktion machen. Die Bewohner*innen des Nigerdelta widmen sich vor allem der Fischerei, dem Handwerk und der Landwirtschaft. Vor der Ölförderung gab es in der Region weder Umweltzerstörung noch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen.

Die blutige Geschichte der Erdölförderung

Seit Beginn der Erdölförderung im Jahr 1956 bis zur heutigen Zeit ist die Geschichte des Nigerdeltas von Konflikten, Blutvergießen, Gasabfackelung und Ölkatastrophen geprägt. Außerdem haben die Ölverschmutzung und die Zerstörung und Zerschlagung der traditionellen Wirtschaftsformen und Lebensgrundlagen zu frühzeitigen Todesfällen in der lokalen Bevölkerung geführt. Für den nigerianischen Staat bedeutete das Öl einerseits Wohlstand – es brachte genug Einnahmen, um die Taschen des Nationalstaats, der korrupten Elite und ihrer internationalen Verbündeten und Kollaborateure zu füllen –, andererseits aber auch wachsende Korruption und mangelnde politische Verantwortung vonseiten der Regierung.

Die Erdölförderung ist für die nigerianische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Die Ölproduktion macht in Nigeria 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und die Öleinnahmen etwa 98 Prozent der Exporteinnahmen aus. Ohne Öleinnahmen, kein Nigeria. Erdöl und Erdölprodukte sind in Anhang 2 der nigerianischen Verfassung geregelt, und zwar in der Liste von ausschließlichen Bundeskompetenzen (Exclusive Legislative List). Das bedeutet, dass nur die Bundesregierung in diesem Bereich Gesetze erlassen kann.

Das Rückgrat der Ölförderung im Nigerdelta bilden internationale Ölkonzerne, die Regierungen der jeweiligen Länder, die die internationale Politik bestimmen, die nigerianische Regierung, lokale Ölgesellschaften wie die Nigerian National Petroleum Company Limited (NNPC) und in letzter Zeit auch militante Gruppen, Öldiebe und staatliche Machtstrukturen wie die nigerianische Armee, die Polizei und das Nigerian Security and Civil Defence Corps (NSCDC).

Das größte der im Nigerdelta tätigen Ölunternehmen ist Shell. Anfangs trug es den Namen Shell D'Arcy, wurde später in Royal Dutch Shell umbenannt und firmiert derzeit unter dem Namen Shell Petroleum Development Company of Nigeria Limited (SPDC), deren Muttergesellschaft ihren Sitz in den Niederlanden hat. Das Unternehmen begann in den 1930er Jahren Öl in Nigeria zu fördern und kontrolliert mehr als 30 Prozent der nigerianischen Ölförderung; es verfügt über den größten Teil der Lizenzen für die Erschließung und Förderung von Erdöl in dem westafrikanischen Land. Shell kontrolliert Erdölquellen und betreibt -Förderstationen und -Anlagen in vielen Gemeinden des Nigerdelta, und seine Ölpipelines durchziehen die gesamte Region wie ein Spinnennetz. Die Shell Petroleum Development Company ist so mächtig, dass sie praktisch die Ölpolitik der nigerianischen Regierung bestimmt.

Die Verbindungen zwischen den internationalen Ölunternehmen (insbesondere SPDC) auf der einen und der nigerianischen Regierung sowie der herrschenden Klasse auf der anderen Seite, die grassierende Korruption und die schwachen Regulierungsbehörden machen es oft schwer, wenn nicht gar unmöglich, die Ölmultis dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass sie die Rechte der lokalen Bevölkerung im Nigerdelta auf verschiedenste Weise verletzen.

Angesichts des fehlenden Zugangs zur Justiz und des chaotischen und dysfunktionalen nigerianischen Rechtssystems, das für Korruption und Bestechlichkeit bekannt ist, begannen die Gemeinden im ölreichen Nigerdelta alternative Wege zu suchen, um die Missstände zu beseitigen. Ab Ende der 1990er Jahre versuchten sie, die Ölunternehmen und den nigerianischen Staat mit gewaltsamen Aktionen dazu zu zwingen, ihre Politik und Arbeitsweise zu ändern. Zur gleichen Zeit wurden Organisationen wie der Ijaw National Congress gegründet. Die nigerianische Verfassung und weitere Gesetze legen fest, dass alle Landflächen und Bodenschätze dem Staat gehören. Die britische Kolonialregierung, also der Vorgänger der heutigen nigerianischen Regierung, nutzte ihre enormen Machtbefugnisse aus und erteilte Shell 1937 die alleinige Lizenz für die Erschließung von Ölverkommen in Nigeria. Als es daraufhin zu Unruhen in der einheimischen Bevölkerung kam, erzwang die Regierung mit Gewalt und Repression ihre Zustimmung zur Erschließung von Ölreserven in ihren Gemeinden. Das gewaltsame Vorgehen der Regierung, die feindliche Haltung der Ölunternehmen gegenüber den Gemeinden in den ölreichen Gebieten und die begangenen Menschenrechtsverletzungen in der Region erklären, wie es zu der Vielzahl an Gerichtsverfahren im öffentlichen Interesse (Public Interest Litigation, PIL) und Klagen gegen Shell als Form des Widerstands im Nigerdelta kam.

Großflächige Umweltverschmutzung

Die Erdölförderung im Nigerdelta ist mit hohen Umweltbelastungen in Form von Rohöl und Erdgas, Bohrspülungen und anderen Rückständen bei der Erkundung und Förderung von Erdöl verbunden. Das Problem der Ölverschmutzung betrifft das gesamte Nigerdelta, insbesondere alle darin liegenden Gemeinden, in denen Bohrungen vorgenommen werden.

Zur ersten durch Shell verursachten Ölkatastrophe kam es 1970 im Ogoniland im Bundesstaat Rivers, einer ölreichen Gemeinde an einem in den Atlantik führenden Mündungsarm. Dabei trat Öl aus einer Shell-Anlage im Bomu-Ölfeld aus – mit katastrophalen Folgen für die Gemeinde in Bomu und ihrer Umgebung. Zu weiteren größeren Ölunfällen kam es 2008 im Ort Bodo, 2004 im Dorf Goi sowie in Ogale und Ejama im Ogoniland. Außerdem kam es 2011 zu einer verheerenden Gasexplosion in einer Chevron-Anlage im Bundesstaat Bayelsa, die Land und Wasser kontaminierte und Menschenleben kostete. Wie am Beispiel der Ölexploration im Ogoniland zu erkennen ist, haben die Aktivitäten von Shell und die damit verbundenen Ölleckagen aus seinen Anlagen die Lebensbedingungen der Menschen in den ölreichen Gemeinden im Nigerdelta erheblich verschlechtert, sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt und zu Umweltzerstörung, Armut, Gewalt und Tod geführt.

2011 legte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen einen Bericht vor, der schwerwiegende Boden-, Wasser- und Luftverschmutzungen im Ogoniland dokumentierte, was eines der ersten Gebiete ist, in denen Shell Öl förderte. In dem Bericht heißt es, dass es in einem Zeitraum von 23 Jahren zu 40 verschiedenen Ölaustritten in verschiedenen Teilen von Ogoniland kam, die dazu führten, dass über 13 Millionen Barrel Rohöl in die Natur gelangt sind. In der Stadt Ogale in der Gemeinde Eleme ist das Grund- und Oberflächenwasser durch Ölaustritte so verschmutzt, dass es eine braune Farbe hat, nach Schwefel riecht und für Menschen giftig ist.

In einigen anderen Gemeinden im Nigerdelta, in denen Ölunfälle nicht oder nur unzureichend gemeldet werden, könnte die Situation noch schlimmer sein.

Angesichts der Tag und Nacht zunehmenden Ölverschmutzung durch das Abfackeln von Gas und Ölaustritte aus den maroden Anlagen der Unternehmen sowie angesichts des Diebstahls und des illegalen Hortens von Öl durch Öldiebe und die in den Ölanlagen tätigen Sicherheitsbeamten müssen die Gemeinden im ölreichen Nigerdelta um ihr Leben kämpfen. Also haben sie nach Wegen gesucht, um sich gegen die Ölverschmutzung und Umweltzerstörung im Allgemeinen zu wehren. Ihr Aufruhr begann sich im Jahr 2002 zu intensivieren und sollte etwa acht Jahre lang andauern.

Bewaffneter Widerstand

Zum ersten Versuch eines bewaffneten Widerstands kam es 1966, als Adaka Boro, Absolvent der University of Nigeria in Nsukka und ehemaliger Polizeibeamter, einen bewaffneten Kampf gegen die Bundesregierung und Ölunternehmen anführte. Dieser wurde bereits nach sieben Tagen vom nigerianischen Militärregime unter Johnson Aguiyi-Ironsi, einem Armeegeneral, der nach dem Militärputsch von 1966 die Regierung übernahm, umgehend niedergeschlagen. An anderen bewaffneten Kämpfen gegen Shell und die nigerianische Regierung war der Ijaw Youth Congress beteiligt, der militante Flügel des Ijaw National Congress, eine Art Dachverband der Volksgruppe der Ijaw. Unter der Führung von Alhaji Asari Dokubo protestierten Jugendliche gegen die unrechtmäßigen Aktivitäten von Ölunternehmen, die ohne die Zustimmung der Ijaw auf ihrem Land operierten, sowie gegen Umweltschäden, Verschmutzung und Korruption bei der Aufteilung der Öleinnahmen unter den Bundesstaaten und ethnischen Gruppen des Landes. Sie prangerten an, dass die Öleinnahmen vorrangig an die größten ethnischen Gruppen, die Igbo, Hausa und Yoruba, gingen, statt an die Minderheiten im Nigerdelta, auf deren Land das meiste Öl gefördert wird. Im Ogoniland, genauer in Umuechem im Regierungsbezirk Etche und in Rumuekpe im Regierungsbezirk Emouha, die beide im Bundesstaat Rivers liegen, kam es in den 1990er Jahren zu Aufständen gegen Ölunternehmen, insbesondere gegen Shell. Wenig später folgten auch andere Gemeinden ihrem Beispiel.

Im Dezember 1992 begannen die Ogoni im Bundesstaat Rivers unter der Führung des Aktivisten Ken Saro-Wiwa und mithilfe der Dachorganisation Movement for the Survival of Ogoni People (MOSOP) gegen Shell aufzubegehren, weil in ihren Gemeinden Gas abgefackelt wurde und es zu Ölaustritten kam. Das Unternehmen wehrte sich und der Konflikt eskalierte. MOSOP drohte Shell und stellte dem Unternehmen, der Regierung Nigerias und dem NNPC ein Ultimatum und forderte 10 Milliarden US-Dollar an Lizenzgebühren für die jahrelange Ölförderung und eine Entschädigung für die Umweltverschmutzung in ihren Gemeinden. Am 10. November 1995 wurden neun Umweltaktivisten (später als die «Ogoni Neun» bekannt) von der nigerianischen Regierung hingerichtet, ein Schritt, der von der internationalen Gemeinschaft stark verurteilt wurde. Die Regierung verbot die MOSOP und weitere Gruppierungen der Region, die sich gegen die Umweltverschmutzung von Shell und anderen Ölunternehmen einsetzten.

Allerdings schreckte das Verbot die Gemeinden keineswegs ab. Im Gegenteil: Es ermutigte weitere Gemeinden des Nigerdeltas, die von der Ölförderung und -verschmutzung betroffen waren, ebenfalls gegen Shell und andere Ölunternehmen zu protestieren – mit Erfolg. Bis 2005 wurde die Ölförderung in Nigeria fast vollständig eingestellt. Im Jahr 2009 erklärte sich die Shell Petroleum Development Company im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs dann bereit, 9 Millionen britische Pfund zu zahlen, nachdem aufgrund der Ermordung der «Ogoni Neun», der Ölverschmutzung im Ogoniland und wegen der Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen eine Klage gegen Shell angestrengt worden war. MOSOP erklärte Shell zur persona non grata, was zur Schließung aller Shell-Betriebe in den Ogoni-Gemeinden führte – bis zum heutigen Tag.

Klagen vor ausländischen Gerichten als Alternative

Man könnte annehmen, dass die Hinrichtung im Jahr 1995 von Ken Saro-Wiwa und den anderen, die sich gegen Shell und seine Aktivitäten im Ogoniland und im Rest des Nigerdeltas aufgelehnt und damit einen internationalen Aufschrei ausgelöst hatten, die Gemeinden in der Region in Angst und Schrecken versetzt hätte. Eine umfassendere Analyse zeigt jedoch genau das Gegenteil: Sie sahen sich stattdessen zu weiteren Aktionen veranlasst. Allerdings änderten sie nach den gescheiterten Protesten, bei denen durch Zusammenstöße mit den nigerianischen Sicherheitsbehörden mehrere Menschen starben und viele Gemeinden zerstört wurden, ihre Vorgehensweise und gingen zu einer gewaltfreien Form des Widerstands über.

Die lokalen Gemeinden versuchten nun, ihre Rechte vor Gericht zu erkämpfen, was sich in Nigeria meistens als erfolglos erwies. Ende 2000 gingen die Bewohner*innen dann zunehmend dazu über, Klagen nicht nur in Nigeria, sondern auch vor ausländischen Gerichten einzureichen, vor allem in den Heimatländern der Ölkonzerne, etwa in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich.

Mithilfe von Aktivist*innen, Menschenrechtsanwält*innen und Nichtregierungsorganisationen erhob die einheimische Bevölkerung sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene Klage gegen die Verursacher der Missstände. Es stellte sich jedoch heraus, dass Klagen vor ausländischen Gerichten größeren Erfolg hatten, nicht nur in Bezug auf den Ausgang des Verfahrens, sondern auch im Hinblick auf Zeit und Kosten und die Tatsache, dass die nigerianische Regierung bei Klagen im Ausland weniger Einfluss auf das Ergebnis nehmen konnte. Das heißt, eine effektive Durchsetzung ihrer Rechte war eher von ausländischen als von nigerianischen Gerichten zu erwarten.

Im Jahr 2012 reichten Mitglieder einer Ogoni-Gemeinde aus Bodo im Bundesstaat Rivers vor einem Londoner Gericht eine Klage gegen die Shell Petroleum Development Company (SPDC) ein, weil in den Jahren 2008 und 2009 auf ihrem Land Öl aus Shell-Anlagen in die Natur gelangt war. In der Klage (Bodo Community and Others vs. SPDC) heißt es, dass aus einer damals etwa 45 Jahre alten Shell-Pipeline Rohöl ausgetreten sei, was große Schäden für die Umwelt und die Zerstörung der Lebensgrundlage der dort lebenden Menschen zur Folge gehabt habe. Shell habe zu langsam auf die Forderung reagiert, den Ölaustritt zu stoppen, was zu noch größeren Schäden geführt habe, da ein rechtzeitiges Eingreifen des Unternehmens das Ausmaß der Umweltzerstörung hätte begrenzen können.

Am 20. Juni 2014 entschied das Gericht, dass Shell für das Ölleck zur Verantwortung zu ziehen sei, weil das Unternehmen es versäumt hatte, seine Pipeline und Anlagen angemessen zu warten. Im Januar 2015 übernahm Shell die Verantwortung für den Ölaustritt und ließ sich im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung darauf ein, 55 Millionen britische Pfund Entschädigung an die betroffene Gemeinde zu zahlen. Der Fall der Gemeinde Bodo schuf einen wichtigen Präzedenzfall und zeigte den von Ölkatastrophen betroffenen Menschen, dass es ein fruchtbarer Weg des Widerstands ist, gegen Ölgiganten wie Shell in der Region des Nigerdeltas zu klagen. Der Erfolg der Klage ermunterte andere Gemeinden, ebendiesen Weg auch zu gehen.

Auch die Einwohner*innen von Goi, ein Dorf in Ogoniland im Bundesstaat Rivers, verklagten Shell, weil es zwischen 2004 und 2007 zu vier Öllecks kam, mit schwerwiegenden Folgen für die Gemeinden Goi, Oruma und Ikot Ada Udo im Bundesstaat Akwa-Ibom. Der in Den Haag eingereichten Klage wurde am 29. Januar 2021 stattgegeben, als das Berufungsgericht in Den Haag entschied, dass Shell zum einen Schadenersatz an die Gemeinden in Goi und in anderen ölverseuchten Gebieten zahlen muss, und zum anderen verpflichtet ist, das kontaminierte Gebiet intensiv zu säubern.

Die Gemeinde Ejama-Ebubu in Ogoniland erhielt ebenfalls eine Entschädigung von Shell. Die Ölverschmutzung, um die es in diesem Fall ging, ereignete sich bereits 1970. Die entsprechende Klage wurde jedoch erst 1991 vor einem nigerianischen Gericht eingereicht und es sollte noch fast drei Jahrzehnte dauern, bis das Urteil gefällt wurde: 2010 verurteilte ein nigerianisches Bundesgericht Shell zur Zahlung von 17 Milliarden Naira (zum Zeitpunkt des Urteils etwa 21 Millionen Euro) als Entschädigung an die Kläger*innen für die Verschmutzung ihrer Gemeinde und ihres Ackerlandes. Shell legte gegen das Urteil Berufung beim Obersten Gerichtshof Nigerias ein. Dieser lehnte die Berufung 2020 jedoch ab und Shell war gezwungen, die Entschädigung an die Gemeinden zu zahlen.

In einem ähnlichen Fall verklagte Jonah Gbemre im Jahr 2005 Shell, die Nigerian National Petroleum Company und andere im Nigerdelta tätige Ölunternehmen wegen des Abfackelns von Gas in mehreren Dörfern der Gemeinde Iwhereka. Gbemre forderte das Gericht auf, Shell und den anderen Ölunternehmen das Abfackeln von Gas in dem Gebiet zu verbieten. Am 14. November 2005 urteilte das Gericht nach langem Abwägen, dass Shell mit der Ölverschmutzung gegen das in der Verfassung verankerte Recht auf eine saubere, gift- und schadstofffreie Umwelt in der Gemeinde verstößt und dass die mit dem Abfackeln von Gas verbundene anhaltende Verschmutzung den Schutz der Menschenwürde verletzt, der in den Paragrafen 33 und  34 der Verfassung der Bundesrepublik Nigeria und in den Artikeln 4, 16 und 24 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker festgehalten ist.

Ein nützliches Instrument des Widerstands

Die Prozesse gegen Shell und andere Ölunternehmen wegen der Ölverschmutzung in der Region zeigten den Menschen im Nigerdelta, dass sie ihre Rechte viel einfacher vor Gericht durchsetzen konnten als mit Gewalt und ohne fremde Hilfe. Viele ländliche und städtische Gemeinden im Nigerdelta, insbesondere im Bundesstaat Rivers, erhoben in den letzten zwanzig Jahren mehrfach Klage gegen Ölunternehmen und gegen die regionalen und die nationale Regierung. Dabei ging es auch um andere Fragen als die Ölverschmutzung. So sind beispielsweise die Ufergemeinden Njamaze, Abonima Warf und Eagle Island im Bundesstaat Rivers, in denen überwiegend mittellose Menschen aus den Städten leben, bis vor den Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) gezogen, um ihr Recht auf Wohnraum durchzusetzen. Sie erhoben Klage gegen die Regierung des Bundesstaates Rivers, die ihre Häuser hat abreißen lassen, und gegen Ölunternehmen und private Baugesellschaften, die sich ihre Grundstücke entlang Port Harcourts Ufer unrechtmäßig angeeignet hatten. Die Klage sollte auch dazu dienen, frühere abwegige Urteile nigerianischer Gerichte in Verfahren gegen die Regierung des Bundesstaates Rivers und gegen die Bundesregierung anzufechten, die den Menschen in der Region ihr Recht auf Wohnraum abgesprochen hatten.

Den Weg der Klage zu gehen, bedeutet für die Gemeinden, einem neuen Paradigma und einer neuen Philosophie des Widerstands zu folgen, bei der sie ihre Rechte nicht mehr mit Gewalt durchzusetzen suchen, sondern vielmehr auf legalem Wege vor Gericht.

Flucht in die Offshore-Förderung

Die Shell Petroleum Development Company ist der größte im Nigerdelta tätige Erdölkonzern und der größte Verursacher von Umweltschäden in der Region. Es ist unmöglich, über die nigerianische Ölindustrie zu sprechen, ohne Shell zu erwähnen. Das Unternehmen hat mit seiner Ölförderung in der Region bereits mehrere Milliarden US-Dollar verdient, während die einheimische Bevölkerung in Armut lebt, ihr Land durch die Ölförderung verseucht ist und ihre Menschenrechte immer wieder verletzt werden.

In der gesamten Region des Nigerdeltas werden Klagen vor lokalen und internationalen Gerichten auch in Zukunft Ausdruck des Widerstands der Bevölkerung gegen Shell sein. Die Menschen im Nigerdelta haben erkannt, dass sie sich mit Klagen gegen die Unterdrückung durch den Ölgiganten Shell und andere in der Region tätige internationale Ölunternehmen wehren können. Die Erfolge, die bisher vor lokalen und internationalen Gerichten erzielt wurden, ermutigen sie, weiter gerichtlich gegen Shell, andere Ölunternehmen und sogar gegen die nigerianische Regierung vorzugehen, die über die Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) zu 55 Prozent an der Ölförderung durch die SPDC beteiligt ist.

Immerhin hat die Entwicklung ein Umdenken bei Shell bezüglich seiner Aktivitäten in der Region bewirkt. Der Ölmulti versucht nun, seine Geschäfte in der Region zu veräußern bzw. nur noch Offshore-Förderung zu betreiben, um sich in der Region nicht noch in weiteren Prozessen verantworten zu müssen. Das könnte sich als schwierig erweisen, denn die Gemeinden im Nigerdelta wollen nicht so einfach aufgeben. Derzeit sorgen mehrere Nichtregierungsorganisationen und Mitglieder verschiedener Gemeinden der Region dafür, dass sich Shell nicht ohne weiteres aus der Region zurückziehen kann. Sie fordern, dass Shell seinen Verpflichtungen nachkommt und für die jahrelang andauernden Rechtsverletzungen und für die Umweltverschmutzung Entschädigung zahlt. Dem Konzern drohen verschiedene weitere Klagen. Das zeigt, dass sich der Rechtsweg als Form des Widerstands in der Region erfolgreich etabliert hat.

 
Übersetzung von Cornelia Gritzner & Luisa Donnerberg für Gegensatz Translation Collective.

Literatur:

  • Coleman, J. S. (1958): Nigeria: Background to Nationalism, University of California Press, Berkeley und Los Angeles.
  • Johnson, N.N. (2013): Economic Globalization and the Niger Delta, University of Port Harcourt Press Ltd, University of Port Harcourt, Nigeria.
  • Tamuno, Tekera N. (2011): Oil wars in the Nigeria Delta 1849-2009, Stirling–Horden Publishers Ltd., University of Ibadan, Nigeria.