Nachricht | Zwischen Ausbeutung und Anerkennung

Seit Generationen kommen Vietnames*innen nach Deutschland auf der Suche nach einem besseren Leben.

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Autorin

Sen Nguyen,

Vietnamesinnen kaufen Lebensmittel ein in dem Dong Xuan Center, Berlin, 10.11.2010. Foto: IMAGO / koall

Vor vier Jahren, am 23. Oktober 2019, hat ein Ereignis den Diskurs über die vietnamesische Migration nach Europa fundamental verändert. An diesem Tag wurden in Essex bei London die leblosen Körper von 39 Menschen – 28 Männer, acht Frauen und drei Kinder – im Laderaum eines Lastwagens entdeckt, der von Belgien nach Großbritannien unterwegs war. Nachdem sieben Verantwortliche für die Ereignisse, die zu der Tragödie geführt hatten, bereits zu insgesamt mehr als 92 Jahren Haft verurteilt worden waren, folgte im Juni dieses Jahres die Verurteilung einer weiteren Person.

Sen Nguyen ist eine unabhängige Journalistin, Podcast-Moderatorin und Produzentin mit Sitz in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam. Sie schreibt Reportagen und Analysen, die Nuancen und Zusammenhänge hinter politischen Maßnahmen und Entwicklungen von öffentlichem Interesse aufzeigen, mit besonderem Augenmerk auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen in Vietnam und Südostasien

Der Tod der 39 Vietnames*innen führte zu einer umfassenden, grenzübergreifenden Zusammenarbeit mehrerer EU-Länder und einer Kooperation zwischen den deutschen, vietnamesischen und britischen Strafverfolgungsbehörden. Im Zuge dessen wurden Einblicke in den vietnamesisch-europäischen Migrationskorridor gewonnen und neue Diskussionen über eine sichere und legale Arbeitsmigration angestoßen.

Alle Opfer hatten die Reise auf sich genommen, um heimlich nach Großbritannien zu gelangen. Die meisten von ihnen kamen, wie viele vietnamesische Migrant*innen, aus der Provinz Nghệ An. Die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechten wirtschaftlichen Aussichten unmittelbar nach Ende des Krieges in Vietnam sowie der große Bedarf an Arbeitskräften in den Aufnahmeländern sind die Gründe für die (legale und illegale) Migration, die allein im Jahr 2022 zu Rücküberweisungen in Höhe von 13,5 Milliarden US-Dollar geführt hat.

Auch vier Jahre nach der Katastrophe von Essex kommen zahlreiche vietnamesische Migrant*innen, oft auf illegalen Wegen, nach Europa und insbesondere nach Deutschland, das zu einem zunehmend attraktiven Ziel geworden ist. Viele hoffen, dass neue Gesetze den Prozess fairer und humaner gestalten und die Bedeutung vietnamesischer Arbeiter*innen für den deutschen Arbeitsmarkt und die deutsche Gesellschaft Anerkennung findet.

Eine Migrationsgeschichte

Die vietnamesische Migration nach Europa ist kein neues historisches Phänomen. Tatsächlich suchte bereits der Begründer des modernen Vietnam, Ho Chi Minh, persönlich den Kontakt zu kommunistischen Revolutionär*innen, als er in den frühen 1920er Jahren in Frankreich tätig war. Die moderne Migration aus Vietnam begann jedoch erst vor einigen Jahrzehnten und ist das Ergebnis der Zusammenarbeit sozialistischer Länder.

Nach dem Ende des Vietnamkriegs und der Wiedervereinigung des Landes im Jahr 1975 kam es zu einer größeren Fluchtbewegung in Länder wie die USA und die Bundesrepublik. Darüber hinaus reisten bereits wenig später Zehntausende Vietnames*innen als Vertragsarbeiter*innen nach Osteuropa. Die meisten von ihnen landeten dank des 1980 unterzeichneten bilateralen Abkommens in der DDR.

Vietnames*innen erhielten dafür zwar den gleichen Lohn wie ihre deutschen Kolleg*innen; Aufstiegsmöglichkeiten und professionelle Weiterbildung blieben ihnen jedoch verwehrt.

Die Forscherin Eva Kolinsky, die 30 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in der DDR interviewt hat, stellt fest, dass ihre komplexen Arbeits- und Lebensbedingungen den Herausforderungen ähneln, mit denen sich Arbeitsmigrant*innen in Europa auch heutzutage konfrontiert sehen. Obwohl die Vertragsarbeiter*innen in Vietnam – als Zeichen der Anerkennung für ihren Militärdienst, aufgrund ihrer akademischen Leistungen, ihres beruflichen Werdegangs oder ihres politischen Engagements – angeworben wurden, mussten sie laut Kolinsky nach ihrer Ankunft in der DDR niedere, harte, eintönige oder gefährliche Arbeiten verrichten, die von einheimischen Arbeitnehmer*innen gemieden wurden. Sie erhielten dafür zwar den gleichen Lohn wie ihre deutschen Kolleg*innen; Aufstiegsmöglichkeiten und professionelle Weiterbildung blieben ihnen jedoch verwehrt. Die Vietnames*innen lebten in abgesonderten Wohnheimen mit deutschen Aufsichtspersonen, ihre Freizeitmöglichkeiten waren eingeschränkt, und ihr Austausch mit der lokalen Bevölkerung blieb auf ein Minimum beschränkt. Zudem wurden ihre Aktivitäten von vietnamesischen Gruppenleiter*innen und Dolmetscher*innen überwacht, die sowohl dem vietnamesischen Konsulat als auch dem Staatssicherheitsdienst Bericht erstatteten.

Trotz dieser Widrigkeiten betrieben sie eigene wirtschaftliche Unternehmungen und nutzten die sozialen Netzwerke innerhalb ihrer Community, indem sie gefragte Artikel wie Kleidung und Computer produzierten und verkauften. Ungeachtet der schwierigen Bedingungen in der DDR gelang es ihnen, sich Freiräume zu schaffen.

Verdrängung auf den Schwarzmarkt

Der Mauerfall im Jahr 1989 markierte einen Wendepunkt, da Tausende vietnamesische Vertragsarbeiter*innen über Nacht ihr Bleiberecht verloren. Trang Nguyen, Doktorandin am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, gibt einen kompakten Überblick über diesen Umbruch.

In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurde Deutschland, und hier insbesondere Berlin, zum größten Schwarzmarkt für illegale Zigaretten in der EU. Denn nachdem 1989 die Visumpflicht aufgehoben worden war, konnten polnische Bürger*innen unbegrenzt nach Westberlin reisen. Dort wurden die billigeren, geschmuggelten polnischen Zigaretten von Straßenhändler*innen verkauft – eine Praxis, die alsbald auch in den östlichen Teilen des Landes Verbreitung fand.

Viele vietnamesische Arbeiter*innen, die mit dem Zerfall des sozialistischen Systems ihre reguläre Anstellung verloren hatten, stiegen in den Handel mit unverzollten Zigaretten ein und wechselten so von der legalen zur illegalen Arbeit. Zunächst kauften einige die Zigaretten von polnischen Reisenden, doch ab Anfang 1991 etablierte sich ein Handel im großen Stil. Einige vietnamesische Verkäufer*innen arbeiteten dabei, um den Handel zu erleichtern, auch mit russischen Militärs zusammen; diese Zusammenarbeit fand jedoch 1994, als die letzten russischen Truppen aus Berlin abzogen, ein Ende.

Ab Mai 1993 gewährten die deutschen Behörden ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen einen legalen Aufenthalt, woraufhin viele von ihnen den illegalen Zigarettenhandel aufgaben. Da der Schwarzmarkt jedoch lukrativ blieb, schleusten kriminelle Netzwerke alsbald Tausende undokumentierte vietnamesische Arbeiter*innen ins Land, um den Zigarettenhandel fortzusetzen.

Die deutsche Polizei ging 1996 massiv gegen diesen Zigarettenhandel vor, was einen massiven Rückgang der Verkaufsstellen zur Folge hatte. Trotzdem sieht man mitunter auch heute noch junge vietnamesische Männer und Frauen, die vor Bahnhöfen oder im Dong Xuan Center, dem berühmten vietnamesischen Einkaufszentrum im Osten Berlins, illegale Zigaretten in Plastiktüten verkaufen.

Vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in den Räumen eines Wohnheims in Ost-Berlin. Foto: IMAGO / Werner Schulze

Integration, Ziele und Herausforderungen

Heutzutage stellen die Nachfahren vietnamesischer Geflüchteter, ehemaliger Vertragsarbeiter*innen sowie internationale Studierende und Migrant*innen ohne Aufenthaltsrecht eine sichtbare und lebendige Minderheit in Deutschland dar. Offizielle Statistiken zeigen, dass die vietnamesische Bevölkerung jede andere Gruppe aus Süd- und Südostasien mit Ausnahme der indischen Bevölkerung deutlich übersteigt. 2020 lebten schätzungsweise über 100.000 vietnamesische Staatsangehörige im Land.

Phi Hong Su, Soziologin am Williams College, beschäftigt sich in ihrem neuesten Buch «The Border Within: Vietnamese Migrants Transforming Ethnic Nationalism in Berlin» mit der Komplexität vietnamesischer Diaspora-Netzwerke. Sie beschreibt dort, wie sich die Freundschaftsnetzwerke vietnamesischer Migrant*innen in Deutschland gemäß ihrer Herkunftsregion und der Art und Weise, wie sie nach Deutschland gekommen sind, formen. So ließen sich Geflüchtete bevorzugt in Westberlin nieder, während Vertragsarbeiter*innen in Ostberlin lebten und arbeiteten.

Nach dem Mauerfall blieben vietnamesische Geflüchtete in ihren Bezirken, während einige der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in die westlichen Stadtteile zogen. Obwohl sie sich in Deutschland frei bewegen konnten, blieben die Freundschaftsnetzwerke von Vietnames*innen aus dem Norden und Süden, von Vertragsarbeiter*innen und Geflüchteten getrennt – nicht zuletzt auch aufgrund ihrer kommunistischen oder antikommunistischen Traditionen.[1]

Eine Ausnahme von dieser Regel war, Phi zufolge, die von vietnamesischen Geflüchteten gegründete Linh-Thuu-Pagode im Westberliner Bezirk Spandau, die nach dem Mauerfall auch Vertragsarbeiter*innen willkommen hieß. Der kleine buddhistische Tempel mit seinem sorgfältig gehegten Garten bleibt bis heute die einzige Institution, die vietnamesische Gläubige zusammenbringt, die einen unterschiedlichen Migrationshintergrund haben und aus verschiedenen Regionen stammen.

Die Feminisierung vietnamesischer Migration

Frauen machen etwas mehr als die Hälfte der vietnamesischen Bevölkerung in Deutschland aus. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge handelt es sich zumeist um Studentinnen, Auszubildende und Angehörige, die im Rahmen einer Familienzusammenführung über ihre Ehepartner*innen oder Kinder nach Deutschland kommen.

Die 29-jährige Mai Thi Phuong Loan ist ein Beispiel dieser Feminisierung der Migration. Die aus Hanoi stammende Frau kam 2020 nach Deutschland, um wieder mit ihrem Mann zusammenleben zu können, der ebenfalls vietnamesischer Staatsbürger ist und bereits lange vor Loans Ankunft in Deutschland studiert und gearbeitet hatte. Nachdem sie sich ein Jahr lang eingelebt hatte, nahm Loan Teilzeitjobs an, unter anderem als Kellnerin in einem Sushi-Restaurant, bevor sie eine Vollzeitstelle im Supply-Chain-Management im hessischen Offenbach erhielt.

Frauen machen etwas mehr als die Hälfte der vietnamesischen Bevölkerung in Deutschland aus.

«In Vietnam kannst du über Beziehungen eine Stelle finden. In Deutschland können sich Leute aus einflussreichen Familien nicht so einfach vordrängeln. Alles muss in Deutschland seine Ordnung haben», sagt sie und fügt hinzu, sie könne durch ihre bisherige Berufserfahrung gut in der Logistik für vietnamesische Importwaren arbeiten. «Die Vietnames*innen hier arbeiten sehr effizient», bekräftigt Loan und merkt an, dass jene Menschen ohne Aufenthaltsrecht, die sie kenne oder von denen sie höre, sehr hart und so viel wie möglich arbeiteten, um Geld zu sparen. «Egal wie sie hierherkommen, ich unterstütze das.»

Zwischen steigenden Asylbewerberzahlen und härteren Grenzkontrollen

Die Erfahrungen vietnamesischer Migrant*innen in Deutschland müssen im weiteren Kontext europäischer Migrationspolitik gesehen werden. Nach dem Rekordanstieg von Flüchtlingszahlen in Europa im Jahr 2015 – eine Phase, die auch als «langer Sommer der Migration» bezeichnet wird – hat die EU ihre Grenzkontrollen verschärft. Der Aufschwung rechter Bewegungen und die zunehmende Verbreitung migrationsfeindlicher Rhetorik und Gesetzgebung in ganz Europa, etwa in Deutschland, Italien, Ungarn, Frankreich und Schweden, haben zu einer Verschärfung des Grenzregimes geführt.

Laut der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gab es zwischen Oktober 2016 und Dezember 2017 fünf bedeutende Herausforderungen für die Migration in die EU: die Strenge der Grenzverwaltung, die unangemessenen Unterbringungsbedingungen in Aufnahmeeinrichtungen, die restriktiven Asylverfahren, die Schutzlosigkeit unbegleiteter Minderjähriger und die Inhaftierung von Migrant*innen. Untersuchungen zeigen, dass die EU den Rekordzahlen von Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten der jüngsten Zeit mit härteren Grenzkontrollen begegnete und gleichzeitig Schwierigkeiten hatte, eine effiziente Handhabung der Migrationsbewegungen zu entwickeln. Dies zeige sich, schreibt João Estevens, in den «Massenfestnahmen von Neuankommenden, in mangelnder Organisation und geringen Ressourcen in Flüchtlingslagern, den Verhandlungen mit Transitländern, wachsenden Menschenhandelsnetzwerken sowie in mangelnder Solidarität und zunehmendem Einverständnis bezüglich der europäischen Relocation-Programme».

Die steigenden Zahlen von Asylsuchenden und der Mangel an Kapazitäten, den administrativen Arbeitsaufwand zu bewältigen, haben sich auch auf die bürokratischen Prozesse für vietnamesische Migrant*innen in Deutschland ausgewirkt. Tong Giang (Name geändert) kommt aus Hanoi, lebt seit 2015 in Deutschland und hat dies am eigenen Leib erfahren. Er lebte zwischen 2015, dem Jahr der historischen Aufnahmezahlen von Asylsuchenden, und 2022, als die ukrainischen Geflüchteten ankamen, in Darmstadt. Giang erinnert sich an Zeiten, in denen sein Visum über ein Jahr lang abgelaufen war, ohne dass er es verlängern konnte, und an lange Schlangen vor der Ausländerbehörde um 4 Uhr morgens. Diese Erfahrungen gaben ihm das Gefühl, um einen legalen Status betteln zu müssen.

Vor drei Monaten sind er und seine vietnamesische Frau in eine kleinere Stadt unweit von München gezogen. Dort, so Giang, gibt es weitaus weniger Ausländer*innen als in Darmstadt. «Ich wohne seit acht Jahren in Deutschland. Aber ich habe das Gefühl, in den letzten drei Monaten zum ersten Mal von einer Ausländerbehörde menschlich behandelt zu werden – wie jemand, der hier in Deutschland lebt», sagt er. Er sei dankbar für die Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit, die man ihm dort entgegenbringe. «Vielleicht hat man das Gefühl, dass man nicht respektiert oder als Mensch behandelt wird. Aber man kann es ihnen [den Behördenmitarbeiter*innen in Darmstadt] nicht übelnehmen, weil sie so viel Arbeit bewältigen müssen. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich es auch nicht besser machen können», fügt er hinzu.

 
 

 

 

Tausende abgeschobene vietnamesische Gastarbeiter*innen warten auf ihrem Abflug auf dem Flughafen in Schönefeld, 6.11.1990. Foto: IMAGO / Ulli Winkler

Deutschlands Arbeitskräftemangel beseitigen

Trotz des Widerstands konservativer Politiker*innen bleibt Deutschland auf Migrant*innen angewiesen, um dem zunehmenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Zu diesem Zweck führte die Bundesregierung kürzlich das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz ein, mittels dessen Arbeiter*innen aus dem Ausland angeworben werden sollen – ein eindeutiger Wandel in der deutschen Einwanderungspolitik.

Vietnam zählt, neben Indien, Indonesien und den Philippinen, zu jenen zwölf Ländern, die im Gesetz als «Partnerländer mit hohem Potenzial» aufgeführt werden. Um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen, benötigt Deutschland eine jährliche Nettozuwanderung von rund 400.000 Arbeitskräften. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen berät.

Diese Analyse basiert auf «der Arbeitsmarktsituation, Kooperationsbereitschaft und den berufsspezifischen Möglichkeiten», während die Bundesagentur für Arbeit auch «das Migrationspotenzial für beschäftigungsbezogene Zuwanderung (Arbeitslosenquote und demografische Entwicklung) und die ‹Affinität zu Deutschland› (z.B. Deutschlernende und bereits in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten) berücksichtigt».

Im Rahmen des neuen Einwanderungsgesetzes profitieren Migrant*innen mit der «Blauen Karte EU» von einer niedrigeren Gehaltsschwelle, während die Einführung der «Chancenkarte» es berechtigten Migrant*innen – neben anderen Neuerungen und Verbesserungen – ermöglicht, zur Arbeitssuche in Deutschland zu bleiben. Zudem können Antragsteller*innen die Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen jetzt auch nach ihrer Ankunft in Deutschland beantragen und müssen dies nicht bereits vorher tun.

Nguyen Hong Ngoc Lam, Programmleiterin der vietnamesischen Niederlassung des von der deutschen Regierung finanzierten Pilotprojekts Hand in Hand for International Talents, das Einwandernden hilft, langfristig Arbeit in Deutschland zu finden, betont, dass das neue Gesetz insbesondere für vietnamesische Migrant*innen ein positives Zeichen setzt. Die Bewertung vietnamesischer Berufsqualifikationen dauert bislang oft zu lange, und die Wartezeit kann ein Faktor sein, der dazu führt, dass Antragsteller*innen aufgeben, bevor sie nach Deutschland kommen können.

Vor der Überarbeitung des Einwanderungsgesetzes wurden vietnamesische Arbeitnehmer*innen seit 2012 für die Arbeit in der Alten- und Gesundheitspflege angeworben. Laut SWP-Bericht werden mithilfe des Pilotprojekts seit 2019 vietnamesische, brasilianische und indische Arbeitskräfte für Stellen in Bau- und Elektrotechnik, im IT-Bereich oder in Hotellerie und Gastronomie angeworben.

Einwanderung ist keine einseitige Angelegenheit

Die im Pilotprojekt tätige Nguyen Hong Ngoc Lam fungiert als eine Art Brücke zwischen vietnamesischen Arbeitsmigrant*innen, ihren zukünftigen Arbeitgeber*innen und den zuständigen Behörden. Sie begrüßt, dass die deutschen Behörden Arbeitsmigrant*innen, die nicht aus EU-Ländern kommen, mit der neuen Gesetzgebung den Eintritt in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtern. Allerdings müsse man noch genauer beobachten, wie die neuen Gesetze umgesetzt würden, da die Digitalisierung des deutschen Visumantragsverfahrens – verglichen mit Ländern wie Australien, wo solche Vorgänge «unglaublich schnell und effizient» erfolgten – noch einiges zu wünschen übrig lasse.

Auch deutsche Unternehmen müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden, wenn es darum geht, zugewanderte Arbeitnehmer*innen willkommen zu heißen und ihre Onboarding-Praxis, die neuen Angestellten bei der Integration am Arbeitsplatz hilft, zu verbessern. «Integration ist keine einseitige Angelegenheit», erklärt Lam. Sie wünscht sich, dass Arbeitsgeber*innen sich stärker mit den Kulturen ihrer ausländischen Arbeitnehmer*innen auseinandersetzen und ihre Erwartungen an die vorhandenen Sprachkenntnisse anpassen – und dabei nicht vergessen, wie schwer die deutsche Sprache ist.

Lam ist davon überzeugt, dass die Unterstützungsstrategien, die das Pilotprojekt zur Verfügung stellt, zugleich verhindern, dass Arbeitnehmer*innen reguläre Arbeitsverhältnissen kündigen oder ihr Visum überziehen, was sie zu potenziellen Opfern von Ausbeutung machen könnte. Das Pilotprojekt umfasst auch die Vermittlung bei potenziellen Konflikten mit oder Missverständnissen von Arbeitgeber*innen, Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Stelle sowie Beratung zu Visums- und anderen rechtlichen Fragen.

Im Gegensatz dazu sind die Erfahrungen von Arbeitsmigrant*innen ohne Papiere in Deutschland geprägt von rechtlichen Schwierigkeiten bei Einreise und Aufenthalt sowie einem geringen oder fehlenden Schutz vor Ausbeutung, wie beispielsweise der Missachtung arbeitsrechtlicher Vorschriften aufgrund des fehlenden Status.

Zwischen Migration und Ausbeutung

Vietnam entsandte in den 1980er Jahren Arbeiter*innen in befreundete Länder wie die Sowjetunion. Seitdem wurde die Mobilität vietnamesischer Arbeitskräfte indes durch bilaterale Abkommen zwischen EU-Ländern und Vietnam wesentlich gesteigert. So kommen im Rahmen von «Arbeitsexportprogrammen» vietnamesische Arbeitsmigrant*innen beispielsweise auch in Länder wie Rumänien und Bulgarien.

Diese offiziellen Migrationskorridore kreuzen und überlappen sich mit Schleusernetzwerken und Menschenhandelsrouten. Die Tragödie von Essex wie auch andere Berichte von Nichtregierungsorganisationen und Journalist*innen zeigen, dass Migrant*innen, die in diese Netzwerke involviert sind, dazu tendieren, Vietnam auf legalem Wege zu verlassen, mit einem Touristen-, Studenten- oder Arbeitsvisum. Anschließend durchqueren sie einige Länder, bevor sie ihr Zielland erreichen, wo sie sich dann häufig ohne Papiere aufhalten. In der vietnamesischen Diaspora in Deutschland hört man häufig Anekdoten über die verschiedenen Wege, auf denen Migrant*innen schließlich in den Besitz einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung gelangen, etwa durch Heirat oder Familienzusammenführung.

Diese offiziellen Migrationskorridore kreuzen und überlappen sich mit Schleusernetzwerken und Menschenhandelsrouten.

Nga Thi Thanh Mai und Gabriel Scheidecker argumentieren in ihrer Studie, dass die Strategien, die Migrant*innen entwickeln, um ein legales Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erlangen, nicht «unbedingt illegal sind, sondern eher Legalisierungsstrategien darstellen.» Als Beispiel nennen sie eine schwangere Frau namens Thi. Thi kam in Paris an und lief, als sie im achten Monat schwanger war, zu Fuß nach Berlin, um Asyl zu beantragen. Dort bat sie einen deutschen Staatsbürger, die Vaterschaft anzunehmen, wodurch ihr Sohn automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und sie eine temporäre Aufenthaltserlaubnis bekam. Anschließend holte sie ihre zwei älteren Kinder aus Vietnam mittels einer Familienzusammenführung nach Deutschland. Ihr ehemaliger Ehemann in Vietnam, der Vater dieser beiden Kinder, besuchte sie dann mehrmals mit einem Touristenvisum. Er könnte mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland rechnen, sofern Thi ein weiteres Kind bekommt und er eine Beziehung zu diesem nachweisen kann.

In einem Interview betont Nga, dass nicht nur vietnamesische Migrant*innen sich derartiger Strategien bedienten, sondern dass diese allgemein einen Trend «für Migrant*innen aus Drittstaaten nach Europa, nicht nur nach Deutschland» darstellen würden. Scheidecker unterstreicht: «Sie haben legale Wege genutzt. Man kann also nicht einfach sagen, dass das, was sie tun, illegal ist. Als Geschäftsmann oder Geschäftsfrau weißt du, wie du deinen legalen Spielraum nutzen kannst, um deinen Gewinn zu maximieren. Niemand kann sagen, dass du illegal handelst.»

Nach deutschem Recht ist die Vaterschaft nicht biologisch determiniert, sondern hängt davon ab, ob der Mann zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet ist und die Vaterschaft anerkannt oder ob diese gerichtlich festgestellt wird. Scheidecker weist darauf hin, dass der Vater rechtlich gesehen also nicht unbedingt biologisch mit dem Kind verwandt sein müsse. Grauzonen entstünden, wenn Zahlungen an den Vater eine Rolle spielten, was die «Aufrichtigkeit» der Vaterschaft in Frage stelle.

Der Anthropologe stört sich zudem an der stereotypen Darstellung der neuen vietnamesischen Migrant*innen in Deutschland. Zwar gebe es Fälle von Ausbeutung, argumentiert er, aber die verbreitete Darstellung von Vietnames*innen als Opfer von Missbrauch und Menschenhandel schütze sie nur scheinbar, nehme ihnen in Wirklichkeit jedoch ihre Handlungsfähigkeit und dämonisiere andere Migrant*innen der Community. Das sei beispielsweise bei vietnamesische Besitzer*innen von Nagelstudios oder Restaurants der Fall, in denen viele Vietnames*innen arbeiten. «So werden [einige Migrant*innen] zu Opfern, während die anderen kriminalisiert werden», sagt er und fügt hinzu, dass dieses Narrativ in der Vergangenheit auch zu Diskussionen über eine potenzielle Schließung des Dong Xuan Center geführt habe.

Als weiteres Beispiel führt Scheidecker eine von der Deutschen Welle ausgestrahlte Dokumentation aus dem Jahr 2021 mit dem Titel «Merchandise Child» an, die nicht den Opfern diene, sondern «vielmehr die vietnamesische Diaspora in Deutschland kriminalisiert und als Argument für noch strengere Grenzregelungen dient.»

Nga hingegen fordert, das Einwanderungssystem zur Rechenschaft zu ziehen. Sie kommt selbst aus Vietnam und hat zahlreiche Interviews mit Migrant*innen geführt sowie Studien zu vietnamesischen Migrant*innen in Deutschland durchgeführt. Dabei begegnete sie vielen Migrant*innen in schwierigen Lebensumständen, darunter geschiedene Mütter, die ihre Kinder alleine großziehen und die Arbeit im Ausland als einzige Chance «für eine gute Zukunft» sehen. «Sie sind die Opfer dieses ganzen Systems, das alle möglichen Dokumente geschaffen hat für die Berechtigung, an einem Ort zu sein, um arbeiten und Geld verdienen zu können. In diesem System, das Migrant*innen kontrolliert, gibt es Opfer», sagt sie.

Nga fügt hinzu, dass Migrant*innen ohne Papiere, sofern sie ein Aufenthaltsrecht bekommen, in einem freundlicheren Einwanderungsumfeld ein besseres wirtschaftliches und seelisches Leben führen können und nicht vor die Wahl gestellt würden, ihre Kinder in Vietnam zu besuchen oder jahrelang in Deutschland zu bleiben, weil sie immer noch keinen gültigen Aufenthaltstitel haben. «Eine strengere Migrationsregelung hilft nicht. Es macht die Menschen, wenn sie irgendwohin auswandern, nur noch unglücklicher, aber wenn die Einwanderungsregelungen gelockert werden, haben die Menschen die freie Wahl.»

Übersetzung von Charlotte Thießen und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.


[1] Vgl. Angelika Nguyen: Nord oder Süd, Ost oder West. Die beiden vietnamesischen Communities im Nachkriegsdeutschland, in: Albert Scharenberg (Hg.): Der lange Marsch der Migration. Die Anfänge migrantischer Selbstorganisation im Nachkriegsdeutschland, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020, S. 139-161, https://www.rosalux.de/publikation/id/42906 [Anm. d. Red].