Nachricht | Amerikas - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Umkämpfter Machtwechsel in Guatemala

Warum die indigenen Völker eine Demokratie verteidigen, die sie systematisch ausschließt

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Indigene Guatemalteken demonstrieren für den neuen Präsidenten Bernardo Arévalo.
Mit Demonstrationen, Straßenblockaden und landesweiten Streiks kämpft die indigene guatemaltekische Bevölkerung für den gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo. In Guatemala leben 24 indigene Völker, die etwa 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen – dennoch werden sie bis heute systematisch von der Beteiligung an demokratischen Institutionen ausgeschlossen.
  Foto: Prensa Comunitaria

Am 14. Januar 2024 soll Bernardo Arévalo, gewählter Präsident von Guatemala, offiziell sein Amt antreten. Der Amtsantritt des progressiven Solzialdemokraten würde eine historische Chance auf einen echten demokratischen Wandel im Land implizieren. Doch ob es dazu kommen wird, ist noch unsicher.

Am 20. August 2023 hatte Bernardo Arévalo, Präsidentschaftskandidat der noch jungen Partei Semilla (zu Deutsch Sämling), ganz überraschend die Stichwahlen für das Präsidentenamt gewonnen. Kaum jemand, auch nicht der sogenannte «Pakt der Korrupten», -  die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die bisher alle demokratischen Institutionen des Landes dominieren – , hatte mit dem hohen Wahlsieg Arévalos gerechnet. Seither versuchen diese Eliten mit allen Mitteln den Amtsantritt der neuen Regierung zu verhindern. Dazu gehören sämtliche Justizmanöver, in denen der Semilla-Partei und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft willkürlich vermeintliche Straftaten angehängt werden. Der «Pakt der Korrupten» ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um den anstehenden Regierungswechsel zu verhindern. Denn mit dem Regierungswechsel würden diejenigen, die Teil des Paktes sind oder von ihm profitieren, nicht nur ihre Macht und ihre Privilegien verlieren, sondern auch Gefahr laufen, für ihren umfangreichen Machtmissbrauch angeklagt zu werden.

Diese Situation hat in Guatemala in den letzten Monaten zu einer sozialen Mobilisierung von bisher nicht gekanntem Ausmaß geführt. Straßenblockaden sowie landesweite Streiks legten das Land mehr als 15 Tage lang lahm – organisiert wurden sie aus den indigenen Territorien heraus. Das Besondere an diesen Protesten war, dass zum ersten Mal Autoritäten der verschiedenen indigenen Völker des Landes zur Beteiligung aufgerufen hatten. In Guatemala leben 24 indigene Völker, die etwa 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen – dennoch sind sie historisch und systematisch von der Beteiligung an demokratischen Institutionen ausgeschlossen.

Die Verteidigung der demokratischen Wahlen wurde also vor allem von indigenen Autoritäten vorangetrieben – was aus zwei Gründen überraschend und somit von großer Bedeutung ist: Die indigenen Völker werden vom guatemaltekischen Staat und seiner Demokratie nicht repräsentiert und indigene Autoritäten haben sich bisher kaum in die Staatspolitik eingemischt, da ihre Rolle traditionell in den indigenen Territorien verankert ist.
Es besteht bisher auch keine gewachsene Beziehung zwischen indigenen Autoritäten und der noch neuen Semilla-Partei; sollte Arévalo jedoch sein Amt am 14. Januar 2024 antreten können, wird er das der Unterstützung der indigenen Bevölkerung zu verdanken haben, die die Demokratie auf der Straße verteidigt hat.

Patricia Zapata, Projektkoordinatorin des RLS-Büros in Mexiko hat dazu mit Omar Jerónimo, indigene Autorität und Leiter von Nuevo Día, einer Partnerorganisation des Regionalbüros der Rosa Luxemburg Stiftung in Mexiko, gesprochen.


Omar, die traditionellen Autoritäten haben zu Protesten aufgerufen, um den gewählten Präsidenten zu unterstützen. Die Bevölkerung hat sich dieser Verteidigung der Wahl und der Demokratie aus einer territorialen und urban-nachbarschaftlich basierten Logik angeschlossen. Das hat es so in der jüngeren Geschichte Guatemalas noch nie gegeben. Warum führen die traditionellen Autoritäten heute den Kampf für eine Demokratie an, die sie immer ausgeschlossen hat?

Der guatemaltekische Staat hat sich immer geweigert, die traditionellen und indigenen Autoritäten anzuerkennen. Das hat mit den rassistischen Ängsten in der guatemaltekischen Gesellschaft zu tun. Sie fürchtet sich davor, eines Tages von den «Indios», wie sie uns nennen, regiert zu werden. Aber auch die traditionellen Autoritäten selber sehen sich nicht als Teil des Staates an.

Omar Jerónimo ist traditionelle Autorität des Maya-Volkes der Ch'orti' und Leiter der RLS-Partnerorganisation Asociación Indígena y Campesina Ch'orti' Nuevo Día (AND).

Wenn von Korruption oder staatlicher Gewalt gesprochen wird, sagen manche Autoritäten: «Sie sind es, die diesen kriminellen Staat geschaffen haben, also sollen sie ihn auch wieder in Ordnung bringen.» Dieser Satz macht die Distanz zwischen dem guatemaltekischen Staat und den indigenen Völkern deutlich. Als traditionelle Autoritäten mischen wir uns nur dann in die Politik des Landes ein, wenn unserer Meinung nach die Gefahr besteht, dass das Land noch ungleicher und krimineller wird und dies das Leben in den indigenen Territorien stärker beeinträchtigen könnte.

Hier können wir die Situation der traditionellen Autoritäten sogar mit der Position vergleichen, die die internationale Gemeinschaft angesichts der politischen Dynamik in unserem Land einnimmt, sowohl in der Vergangenheit als auch heute. Jetzt meldet sie sich zu Wort, kritisiert, warnt und sanktioniert sogar die beteiligten Akteure. Also in einer Zeit, in der die politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Eliten des Landes die Institutionen und die Demokratie des Landes gefährden – und damit auch die Interessen und die Sicherheit der gesamten Südhalbkugel.

So ist es auch bei uns traditionellen indigenen Autoritäten der Maya-, Xinka- und Garifuna-Völker. Wir haben gesehen, wie das Leben der indigenen Völker durch die kriminellen Aktionen dieser Gruppen noch mehr Gefahren ausgesetzt wird. Deshalb ist es sinnvoll, uns an der Verteidigung der Demokratie des guatemaltekischen Staates zu beteiligen, auch wenn dieser uns seit jeher ausgeschlossen hat. Heute verteidigen wir diese Demokratie. Nicht weil wir ein Teil von ihr sind, sondern weil wir uns der Gefahr für alle indigenen Völker bewusst sind, die besteht, wenn nichts gegen die kriminellen und korrupten Machenschaften getan wird, die noch dazu gerade einen Putsch anstreben. Mit anderen Worten: Wir verteidigen die Demokratie nicht, weil sie unsere ist, sondern weil wir eine Gefahr für unser Leben sehen.
Ich glaube, Feliciana Herrera, indigene Bürgermeisterin des Ixil-Volkes, hat es in einer ihrer öffentlichen Erklärungen klar ausgedrückt: «Dies ist nicht unsere Demokratie, aber wir machen sie zu unserer, weil wir sie verteidigen.»

Kannst du erklären, was die traditionellen Autoritäten der indigenen Völker in Guatemala auszeichnet und welche Bedeutung sie haben?

In Guatemala gibt es unserer Kenntnis nach mindestens 30.000 indigene Autoritäten. Einige sind eher gemeindebasiert, andere habe eine territorialere Struktur. Aber alle können wir als kleine Regierungen – insoweit man diesen Vergleich ziehen kann – von Nationen (Maya, Xinka und Garifuna) betrachten. Diese Nationen wehren sich dagegen, den guatemaltekischen Staat als ein Ganzes zu sehen. Zudem nehmen sie ihn nicht als ihren eigenen Staat wahr, sondern als einen Staat, dem sie nicht angehören. Dies führt zu einem permanent angespannten Klima. Die Tatsache, dass die indigenen Autoritäten und Gemeinschaften, mehrheitlich Maya, den Staat als solchen nicht anerkennen, beruht auf Gegenseitigkeit. Der guatemaltekische Staat leugnet die Existenz der indigenen Völker, und das schon seit mindestens 200 Jahren, seit der Unabhängigkeit von der spanischen Krone.

Aus diesem Grund haben wir indigenen Völker im Laufe der Geschichte immer wieder den Dialog und die Abstimmung zwischen dem guatemaltekischen Staat und den Organisationsstrukturen unserer Völker gefordert.

Die traditionellen Autoritäten werden auf unterschiedliche Weise gewählt: Entweder aufgrund des nahual [In der Mythologie der indigenen Völker Mesoamerikas ist ein nahual ein persönlicher Schutzgeist, den jeder Mensch bei der Geburt erhält. Meist in Gestalt eines Tieres, das den Menschen auf dem Lebensweg schützt und leitet. (Anm. der Ü.)], per Akklamation in Gemeindeversammlungen oder durch andere, neuere Methoden wie Wahlen. Jede Gemeinschaft entscheidet, wie sie ihre Autoritäten wählt und wie lange deren Mandat dauert. Die so gewählten Autoritäten haben verschiedene Aufgabenbereiche: es gibt politische, spirituelle, medizinische und rechtliche Autoritäten, die die jeweiligen Institutionen der Gemeinschaften leiten.

Auch wenn es im Land verschiedene engagierte indigene Organisationen gibt, ist dies das erste Mal, dass traditionelle Autoritäten auf diese Weise angesichts der staatlichen Politik intervenieren. Was unterscheidet die Aktionen der indigenen Organisationen von denen der traditionellen Autoritäten?

Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass es sich bei den indigenen Autoritäten um tausendjährige überlieferte Strukturen handelt. Die Gemeinschaften wählen ihre Autoritäten: Daran nehmen auch Kinder, Jugendliche, Frauen und alte Menschen teil, also die gesamte Bevölkerung. Ein weiterer Unterschied ist, dass es eigene Strukturen der indigenen Völker sind, die auf eine territoriale Regierungsführung ausgerichtet sind. Sie sind die Garanten für die Verwaltung der natürlichen Ressourcen, der Justiz und des Territoriums.

Die indigenen Organisationen hingegen sind relativ neu und übernehmen Strukturen, die zu einer westlichen Vision gehören. Sie arbeiten mehrheitlich nach den vom Staat festgelegten Regeln. Wenn wir uns die Geschichte der letzten hundert Jahre in diesem Land ansehen, stellen wir fest, dass es indigene Organisationen gibt, die sich darauf konzentrierten, vom Staat die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker in der Gesetzgebung und im Alltag einzufordern. Andere waren sogar Teil der revolutionären bewaffneten Bewegungen des Landes. Das heißt, sie setzen sich zwar für die Rechte der indigenen Völker ein und verteidigen sie, aber sie können weder Recht in indigenen Territorien sprechen noch dort Regierungsaufgaben übernehmen, weil sie von den indigenen Gemeinschaften nicht dazu legitimiert sind. Es sind indigene Organisationen, die Forderungen für die indigenen Völker geltend machen. Aber sie sind keine traditionellen Autoritäten, da sie sich nicht auf einen gemeinschaftlichen Prozess berufen können, der ihren Aktionen Legitimation verleihen würde.

In den Fällen, in denen diese Organisationen versucht haben, die Rolle indigener Autoritäten einzunehmen, ist es sogar zu derartigen Spannungen gekommen, dass sie aus den Territorien und Gemeinschaften vertrieben wurden. Denn selbst wenn die Organisationen von indigenen Personen repräsentiert werden, sind sie keine von den Gemeinschaften anerkannten Maya-Autoritäten.

Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Regierung, der Armee und der Guerilla im Jahr 1996 haben sich die indigenen Organisationen stärker engagiert und sind dynamischer geworden. Allerdings ging es ihnen vor allem um spezifische Themen im Zusammenhang mit Entwicklung, produktiven Projekten, Infrastruktur und Menschenrechten. Trotz ihrer bedeutsamen Aktivitäten ist es wichtig, zu verstehen, dass sie die Rolle der traditionellen Autoritäten nicht ersetzen können.

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat diese indigenen Organisationen entschieden gefördert. Daher gibt es über sie oft mehr Informationen als über die indigenen Autoritäten. Doch es sind Letztere, die für das Leben der indigenen Völker von grundlegender Bedeutung sind und die territoriale Organisierung gewährleisten.

Auch wenn diese Demokratie nicht die der indigenen Völker ist: Was sind die Erwartungen an die neue Regierung und im Hinblick auf die aktuelle Situation in Guatemala?

Was auch immer geschieht, ich denke, dass in Guatemala derzeit ein kollektiver Bildungsprozess stattfindet. Die nicht-indigene Bevölkerung weiß jetzt mehr über die indigenen Völker und die Existenz der traditionellen Autoritäten. Das ist ein großer Fortschritt für das Land, denn die mestizische oder ladinische Bevölkerung [Ladinos ist die Bezeichnung für die heterogene nicht-indigene Bevölkerung spanischer und/oder mestizischer Abstammung, die überwiegend in urbanen Räumen lebt. Die Macht und der Reichtum des Landes konzentrieren sich in den Händen einer Minderheit davon. (Anm. der Ü.)] hat die Multikulturalität Guatemalas nie anerkannt.

Das bedeutet, sobald die derzeitige Gefahr für das demokratische System des Landes gebannt ist, sobald die neue Regierung ihr Amt antritt – was wir hoffen – und die traditionellen Autoritäten in ihren Alltag zurückkehren, um ihre Rolle in den indigenen Territorien wieder auszuüben, wird sich im kollektiven Gedächtnis Guatemalas das Bild der indigenen Völker als Akteure verankert haben. Akteure, die in der Lage sind, sogar eine Institutionalität zu verteidigen, die ihnen nicht eigen ist, die aber ein Mindestmaß an Stabilität gewährleistet. Eine Stabilität, die für die nicht-indigene Bevölkerung wichtiger ist als für die indigenen Völker. Aber auch für uns wird es dann bessere Perspektiven der Anerkennung geben.

Wenn die neue Regierung klug ist, wird sie sich um ein wohlwollenderes Verhältnis zu den Maya, Xinka und Garifuna bemühen. So könnte sie die einzigartige Möglichkeit wahrnehmen als  Regierung die Einheit Guatemalas in ihrer Vielfalt, in ihren vielen Farben, Gerüchen, Aromen und Weisheiten zu repräsentieren. Nur so wird sie in der Lage sein, den Aufbau eines modernen, demokratischen und pluralen Staates voranzutreiben.

Meine wohl größte persönliche Erwartung ist, dass dieser zurzeit traumatische Prozess des Regierungswechsels den Weg zu einer neuen Regierungsform eröffnen wird, die auf jeden Fall ein pluriethnisches Gesicht haben muss.

Übersetzung aus dem Spanischen von Dorothea Hemmerling
Das Interview führte Patricia Zapata, Projektkoordinatorin Guatemala und Kuba im RLS-Büro Mexiko