Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Israel - Krieg in Israel/Palästina Solidarität und Empathie statt Positionierungspolitik

Die Sicht einer Israelin in Deutschland

Auf einer Baustelle in Berlin, Deutschland kleben Flugblätter an einer Wand, auf denen vermisste Personen abgebildet sind, die von der Hamas in Israel entführt wurden (25.10.2023)
Plakatwand in Berlin, 25. Oktober 2023 Foto: picture alliance / EPA | CLEMENS BILAN

Der 7. Oktober 2023 hat vieles verändert, Gegensätze verstärkt und Fronten verhärtet. Nicht nur das Leben der Menschen in Israel/Palästina hat sich schlagartig verändert, auch für die Menschen in der Diaspora sind die Auswirkungen des Krieges unmittelbar spürbar. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach Christoph Dinkelaker am 5. Dezember mit einer jüdischen Israelin, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt und deren Familiengeschichte von der Vertreibung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden stark geprägt ist. Aus Sicherheitsgründen veröffentlichen wir nicht ihren Namen. Der Name ist der Redaktion bekannt.
 

Christoph Dinkelaker: Wie hat sich dein Leben in Deutschland durch die Geschehnisse seit dem 7. Oktober 2023 verändert?

Ich schaue mit sehr großer Wut, Angst und Trauer auf das genozidale Vorgehen Israels im Gazastreifen und im Westjordanland. Es fällt mir, immer noch schwer, darüber zu sprechen, wie sich mein Leben in Deutschland verändert hat, vor allem aufgrund des Ausmaßes der Gewalt seitens des Staates Israel gegenüber den Palästinenser*innen und den palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. Aber ich glaube, es ist wichtig, weil nach diesem Tag neue Komplexitäten und Fragen aufgetaucht sind, die sich vorher in dieser Form noch nicht gestellt haben.

Ich habe mich noch nie so israelisch gefühlt wie am 7. Oktober und den Tagen danach.

Als Israelin mit Familie vor Ort und starken Bindungen und Freundschaften zu Menschen in Israel und Palästina, schmerzt es mich gerade sehr, in Berlin, also weit weg von den Menschen zu sein. Nach dem 7.Oktober bin ich zum ersten Mal aufgestanden, ohne mir über mein politisches Handeln im Klaren zu sein. Bis dahin wusste ich immer, was ich zu tun hatte und welche politische Haltung ich damit vertrat. 

Als das Ausmaß der von Hamas angeführten Angriffe noch nicht absehbar war, aber die Nachrichten uns langsam erreichten, rief ich am 7. Oktober einen palästinensischen Freund an, da mir klar war, dass eine schwere israelische Reaktion bevorstehen würde. Als schnell deutlich wurde, wie viele Zivilist*innen vom Angriff betroffen waren und welcher Horror damit verbunden war, bin ich zu einer Freundin gefahren, wo ich mich mit anderen Israelis auf Hebräisch besprechen und Halt suchen konnte – wir mussten erst einmal verstehen, was überhaupt gerade passierte. Ich hatte noch nie so viel Angst um meine Familie, meine israelische Freund*innen und Kolleg*innen.

Neben der persönlichen Ebene gibt es aber auch die Ebene der aktivistischen Tätigkeiten: Ich bin verunsichert und fühle mich unwohl aufgrund von Äußerungen von Personen oder Gruppen aus politischen Kreisen, zu denen ich mich eigentlich zugehörig fühle oder mit denen ich zusammengearbeitet habe. Framings, die die Angriffe wahlweise mit «so sieht Dekolonisierung aus» erklären wollten oder die israelischen Menschen in der Umgebung des Gazastreifens als «illegale Siedler*innen» und «auch die Kinder werden irgendwann zu Soldat*innen» bewerteten, lösten in mir Unsicherheit aus, was die Grundlage unserer politischen Arbeit ist. Es tauchen Fragen auf, nicht zur Solidarität an sich, die nach wie vor äußerst wichtig ist, sondern zu politischen Partnerschaften – was sie können und was sie (vielleicht noch) nicht können.

Viele Reaktionen nach dem 7. Oktober haben bei mir Fragen zu jüdischem Leben im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan aufgeworfen. Ich habe immer die Rufe nach einer Befreiung Palästinas «From the River to the Sea» verteidigt, aber wenn die Ereignisse vom 7. Oktober hierfür stehen sollen, dann kann und will ich das nicht mittragen. Gleichzeitig verstehe ich die Wut, die Verletzung und die Verzweiflung, die lange vor diesem Tag da waren. Diese teile ich auch. Die Situation und die Emotionen sind komplex.

Es macht auch einen Unterschied, ob wir über Menschen vor Ort sprechen oder über Menschen in Berlin. Eine gerechte und nachhaltige politische Lösung in der alle Menschen vor Ort in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung leben können kann nur vor Ort kommen.

Wie nimmst Du den Diskurs in Deutschland, vor allem den medialen Umgang zur Gewalteskalation in Palästina und Israel wahr?

Es macht mich wütend, dass der so genannte Nahostkonflikt instrumentalisiert und zum Beispiel in ein restriktives Asylrecht übersetzt wird. Und mir graut vor den anstehenden Wahlen in Deutschland. Die Politik ist bereits jetzt schon sehr restriktiv – das haben wir zum Beispiel an den pauschalen Demonstrationsverboten in den vergangenen Wochen gesehen, aber auch schon früher.

Ich nehme wahr, dass sich auf parteipolitischer wie medialer Ebene viele Akteur*innen schnell positioniert und Solidaritätsbekundungen für die israelische Regierung bzw. den israelischen Staat abgegeben haben, die ich nicht teile. In den sozialen Medien nehme ich die Positionierungen größtenteils gegenteilig wahr, teilweise als hätte es den 7. Oktober und die Massaker in Israel und die Entführungen nicht gegeben. Generell nehme ich in einigen westlichen Ländern wahr, dass es auf staatlich-institutioneller Ebene eine klare Positionierung zugunsten Israels gibt, die die israelische Gewalt rechtfertigt. Die Zivilgesellschaft hingegen positioniert sich anders.

Der deutsche Diskurs ist seit langem und heute mehr denn je extrem polarisiert und toxisch.

Der Diskurs in Deutschland hat eine Eigendynamik und ist ein Selbstläufer geworden. Es ist schon erstaunlich, wie gefühlt jeder meint, sich positionieren zu müssen und dann gibt es nur noch entweder oder. Seit Jahren läuft schief, dass auch von staatlicher oder parteipolitischer Seite Räume für offene und komplexe Gespräche, Reflexionen und ideelle Verhandlungen, auch im Kunst- und Kulturbereich, geschlossen werden; zum Beispiel mit dem Vorwurf, jemand stehe dem BDS nahe. Auch Antisemitismusbeauftragte schränken häufig den Diskurs ein und schließen bestimmte jüdische Stimmen aktiv aus. Die Schließung von Räumen (physisch und diskursiv) führt zur Entfremdung von Teilen der Gesellschaft und zu polarisiertem Denken und Diskurs. Biographien und Erfahrungshorizonte von Betroffenen werden im Diskurs kaum berücksichtigt und eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik findet in der deutschen Israelpolitik kaum statt – zumindest nicht konsequent. Der institutionelle Kampf gegen Antisemitismus wird oft rassistisch gegen Muslim*innen und Palästinenser*innen eingesetzt.

Ich bin der Überzeugung, dass das Völkerrecht und die Menschenrechte Orientierungspunkte im Diskurs in Deutschland sein sollten. Das ist jedoch nur in wenigen Fällen der Fall, meist werden eigene Überzeugungen reproduziert und die Bestätigung dafür beispielsweise in den sozialen Medien oder in Zeitungsartikeln gesucht und als eine Art Beweis für die eigene Haltung benutzt. Die Folgen von Blaming und Affirmation sind katastrophal, denn sie verhärten Fronten und machen es unmöglich, miteinander zu sprechen. Gleichzeitig werden Menschen, die tatsächlich aus den Kontexten kommen, in den öffentlichen Diskursen oft übergangen oder ausgeschlossen.

Wie sind Deine Erfahrungen mit linken Akteur*innen (Parteien, Bewegungen, Organisationen) in Bezug auf den gegenwärtigen Krieg?

Ich spüre ein Unwohlsein, weil auch viele linke Akteur*innen zu Positionierungen neigen und Ambiguitäten nicht aushalten oder reflektieren. Es gibt den palästinensischen Schmerz und es gibt den israelischen Schmerz.

Oft wird unterkomplex argumentiert.

Es greift zum Beispiel zu kurz, die Situation auf den nur bedingt zutreffenden Begriff «Siedlerkolonialismus» zu reduzieren. Gleichzeitig ist es wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Etwa, dass der Gazastreifen derzeit in Schutt und Asche gelegt wird und dass die israelische Reaktion auf die Massaker von Anfang an nicht nur defensiven Charakter hatte, sondern unglaublich destruktiv war und einer rassistischen Rachepolitik folgte. ­­Das macht mir große Angst. Die destruktive Politik Israels war auch vor dem 7. Oktober da, auch das müssen wir mitdenken, wenn wir über die israelische «Reaktion» sprechen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass die Massaker und Entführungen durch nichts zu rechtfertigen sind und auch nicht einfach als Widerstandsakt erklärt werden können. Es ist für mich manchmal schwierig, einen Satz zu Ende zu bringen, ohne ihm gleich widersprechen zu wollen.

Was die palästinensische Zivilgesellschaft und ihre Verbündeten in Berlin betrifft, so ist es angesichts der Situation und der damit zum Teil verbundenen Äußerungen derzeit für viele Israelis schwierig, hier Partnerschaften konkret zu gestalten. Mein Gefühl ist, ich werde hier als Jüdin begrüßt, aber als Israelin abgelehnt. Das ist kein Zufall und es hilft m.E. niemandem weiter – weder vor Ort noch hier.

Gibt es wesentliche Unterschiede in der Positionierung zwischen Deutschland und anderen Ländern?

Die repressive Politik zum Beispiel gegenüber der BDS-Bewegung nehme ich in Deutschland als besonders stark war. Auch bei der Ablehnung eines Waffenstillstands ist Deutschlands Kurs härter als der der USA.

Welche Konsequenzen ziehst Du für Dein politisches Handeln?

Ich fühle mich aktuell unwohl, Hebräisch auf der Straße zu sprechen. Das hält mich aber nicht davon ab, an den Demonstrationen teilzunehmen, die derzeit in Berlin stattfinden (nachdem sie wieder stattfinden dürfen). Zwiespältigkeit auszuhalten, gehört zum Leben. Gleichzeitig können Ambivalenzen nicht ewig auf morgen verschoben werden. Aber angesichts dessen, was in Gaza passiert, scheint der Zeitpunkt für diese Gespräche schlechter denn je. Deshalb muss das noch warten. Aber irgendwann werden wir uns auch hier in Deutschland mit diesen Fragen befassen müssen. Die Integrität, mit der ich gegen Unrecht aufstehe, gilt gegen alles Unrecht.

Ich ziehe keine neuen Konsequenzen. Ich versuche weiterhin, zu Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen, die zwischen Mittelmeer und Jordan leben, beizutragen. Im Moment frage ich mich: «Mit wem kann ich das tun? Wer akzeptiert mich nicht nur als Jüdin, sondern auch als Israelin»?

 Was wünschst du dir von progressiven Kräften in Deutschland im Umgang mit der aktuellen Gewalteskalation?

Ich wünsche mir, dass es möglich ist, Dinge klar anzusprechen, wenn die Gewalt dominiert wie es derzeit in Gaza und im besetzten Westjordanland der Fall ist. Ich wünsche mir, dass die deutsche Politik nicht in dieser Solidarität mit der ultrarechten israelischen Regierung und der bedingungslosen Solidarität mit Israel als Staat verharrt und gleichzeitig wünsche ich mir, dass die progressiven Kräfte in Deutschland nicht in die Unterkomplexität verfallen, die wir den deutschen Institutionen und der Politik vorwerfen.

Alle, die nicht direkt mit Israel und Palästina zu tun haben, sollen sich die Frage stellen: Warum bewegen mich die Ereignisse? Warum engagiere ich mich?

Denn diese Positionierungspolitik (vor allem über soziale Medien aber auch in den Medien, Politik, Kunst- und Kulturinstitutionen, Hochschulen usw.) schafft und verschärft Fronten und hindert Menschen daran, sich Bewegungen anzuschließen, die für Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten.

Es gibt unterschiedliche israelische und palästinensische Erfahrungen im Raum, all diese Stimmen müssen gehört werden. Israelische Stimmen müssen als Teil des kritischen Diskurses akzeptiert werden. In der antirassistischen Arbeit müssen wir Brücken bauen. Es gibt Situationen, in denen ich nicht über meine Angst als Jüdin und Israelin in Deutschland spreche, da dies instrumentalisiert werden könnte. Und es gibt Situationen, in denen ich nicht nicht über meine Angst als Jüdin und Israelin in Deutschland spreche, weil das instrumentalisiert werden könnte. Ich bedaure jeden Tod und jeden Schmerz und jeden Verlust vor und nach dem 7. Oktober. Es muss ein Ende haben.