Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Israel - Krieg in Israel/Palästina Ein Fünkchen Hoffnung

Die Sicht einer Deutsch-Palästinenserin in Deutschland

Solidaritäts-Demonstration am 2. Dezember 2023 in Berlin: Frau hält Schild hoch auf dem steht: "Hört auf wegzuschauen. Deutschland hat eine Vernatwortung."
Solidaritäts-Demonstration am 2. Dezember 2023 in Berlin Foto: picture alliance / Anadolu | Halil Sagirkaya

Der 7. Oktober 2023 hat vieles verändert, Gegensätze verstärkt und Fronten verhärtet. Nicht nur das Leben der Menschen in Israel/Palästina hat sich schlagartig verändert, auch für die Menschen in der Diaspora sind die Auswirkungen des Krieges unmittelbar spürbar. Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach Christoph Dinkelaker am 5. Dezember mit einer Deutsch-Palästinenserin, deren Namen wir aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen. Der Name ist der Redaktion bekannt.

1948 flüchteten ihre Großeltern aus ihrem Dorf in Palästina, um der Gewalt und den damals wütenden Massakern zu entkommen. Diese Vertreibung und Flucht ist auch als Nakba (arabisch Katastrophe) bekannt. Sie lebten fortan als Flüchtlinge im Libanon, der von politischen und militärischen Unruhen geplagt war. Nachdem ihre Familie 1976 ein Massaker im Libanon überlebte, flüchteten sie 1977 nach Berlin.
 

Christoph Dinkelaker: Inwiefern hat sich Dein Leben in Deutschland durch die Geschehnisse seit dem 7. Oktober verändert?

Dominante Stimmen deutscher Politiker und Medien vermittelten offen, dass man als Palästinenser und Muslim in Deutschland nicht willkommen ist. Der zunächst verbalen Reaktion auf die Gewalteskalation folgten bald Verordnungen. Dies war der in Deutschland lebenden palästinensischen Gesellschaft gegenüber diskriminierend und abweisend. Unabhängig von unserer Haltung schlug uns Verachtung und Hass entgegen, so als seien wir minderwertig. Als ein in Berlin sozialisierter Mensch, der sich sowohl als Deutscher als auch als Palästinenser fühlt, haben mich die verbalen Entgleisungen und das Verbot palästinensischer Symbole, wie der Fahne oder der Kufiya (dem «Palästinensertuch») anfangs getroffen und gelähmt. Überlegungen, die versuchten, die massive Gewalteskalation im Rahmen des gesamten historischen palästinensisch-israelischen Kontextes zu verstehen, wurden schlagartig tabuisiert. So etwas kennt man eher aus diktatorischen als aus demokratischen Ländern. Glücklicherweise gab es auch andere Stimmen, die sich differenziert und besonnen mit der wahrlich komplizierten Thematik auseinandersetzten.

Bedauerlicherweise blendet die deutsche Politik die palästinensischen Opfer bzw. ihr Recht auf ein normales Leben aus.

Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten. Doch in den letzten Tagen wurde ich eines Besseren belehrt, sie gelten offensichtlich nicht für alle Menschen. Für die israelischen Opfer gab es im Bundestag eine Schweigeminute, für die palästinensischen Opfer nicht. Das hat es auch zuvor noch nie gegeben. Die uneingeschränkte Solidarität und das Recht auf Selbstverteidigung sprachen deutsche Politiker Israel zu, wohl wissend, dass die Kriegsführung asymmetrisch ist. Bei den israelischen Opfern zeigen Politiker und Medien zu Recht Empathie und Betroffenheit. Aber, jedes Opfer, egal auf welcher Seite, ist eines zu viel. Bedauerlicherweise blendet die deutsche Politik die palästinensischen Opfer bzw. ihr Recht auf ein normales Leben aus. Ich finde diese Haltung verstörend.

Wie nimmst Du den Diskurs in Deutschland, vor allem den medialen Umgang zur Gewalteskalation in Palästina und Israel wahr?

Um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten, nutze ich sowohl die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland als auch arabisch- und englischsprachige Medien und soziale Netzwerke. Es ist nicht einfach, weil man die Nachrichten verifizieren und immer nachfragen muss: Kann das sein oder sind das Fakenews?

Die Berichterstattung im deutschen Fernsehen war in den ersten Tagen sehr einseitig. Selbst in Talkshows und Sondersendungen wurden und werden überwiegend proisraelische Standpunkte vertreten, obwohl es genügend Experten gibt, die auch die palästinensische Sicht auf den Konflikt hätten darstellen können. Selbst global denkende Menschen kommen nicht zu Wort und werden öffentlich kritisiert. Zum Beispiel werden kritische jüdische Stimmen inzwischen als «so genannte jüdische Stimmen» bezeichnet.

In den Äußerungen, die an die palästinensische Gesellschaft in Deutschland gerichtet wurden, fand keine Differenzierung statt, vielmehr gab es überwiegend feindselige und vorurteilsbeladene Aussagen. Wenn die Gewalt seitens der Palästinenser beschrieben wird, die es auch tatsächlich gibt, fallen Worte wie barbarisch, bestialisch und sogar Zivilisationsbruch. Sie werden mit großer Empörung ausgesprochen. Diese Worte kommen ausgerechnet aus Deutschland, dem Land, in dem Gräueltaten an Juden verübt wurden, und von Israelis, deren Armee gerade in etwa eineinhalb Monaten über 15.000 Palästinenser[*] getötet hat.  

Was die Wortwahl zur Beschreibung der israelischen Gewalt angeht, so wird versucht, diese Kriegsführung möglichst human erscheinen zu lassen. So werden beispielsweise depersonaliserende Beschreibungen wie «Terroristen neutralisieren/eliminieren» oder rechtfertigende Beschreibungen der israelischen Kriegsverbrechen wie «Selbstverteidigung Israels» verwendet. Ungeachtet dessen, dass sowohl Israel ein Recht auf Selbstverteidigung hat als auch die Palästinenser ein Recht auf Widerstand nach dem Völkerrecht haben, bedeuten die genannten Worte de facto aber nichts anderes als das Töten von Menschen, die Inkaufnahme des Todes von Zivilisten, das Bombardieren und Zerstören von Infrastruktur, das Entziehen/Verweigern von Wasser, Strom, Treibstoff und Lebensmitteln. All diese Gewalt soll gegen die Hamas gerichtet sein, trifft aber vor allem die Zivilbevölkerung Gazas, die fast zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen besteht. Ein weiteres sprachliches Beispiel: Israel forderte die Palästinenser in Gaza auf, vom Norden in den Süden zu gehen und nannte diese Route einen «humanitären Fluchtkorridor». Da wähnt man sich doch in Sicherheit, aber nein, auch dieser wurde bombardiert. Da hier «humanitär» als Adjektiv verwendet wird, fragt man sich, wo die Humanität bleibt. Außerdem impliziert das Wort «Flucht» in «Fluchtkorridor» eine Aktivität der Palästinenser, nämlich, dass sie fliehen. Aber für mich als Palästinenserin ist dieser sogenannte «humanitäre Fluchtkorridor» nichts anderes als eine Vertreibungsroute und erinnert mich an die Nakba von 1948. 

Wohl wissend, dass der Krieg noch viele Tote und Leid auf beiden Seiten bringen wird, verließ ich den Saal mit einem Fünkchen Hoffnung.

Wie sind Deine Erfahrungen mit linken Akteur*innen (Partei, Bewegungen, Organisationen) in Bezug auf den gegenwärtigen Krieg?

Auf der sehr gut vorbereiteten und professionell durchgeführten Veranstaltung «Gegen die Logik der Gewalt» der Rosa-Luxemburg-Stiftung fand ein Gespräch mit den Büroleitungen Gil Shohat aus Tel Aviv/Israel und Karin Gerster aus Ramallah/Palästina statt. Nach dem beängstigenden, hetzerischen und kriegstreiberischen Vokabular, das bis dahin zwölf Tage in den Medien vorherrschte, überraschte die Veranstaltung durch ihre Ausgewogenheit. Es wurden beide Perspektiven beleuchtet. Mit Respekt sowohl für die israelische als auch die palästinensische Position informierten die Podiumsteilnehmer aus erster Hand und beantworteten die Fragen des Publikums. Wohl wissend, dass der Krieg noch viele Tote und Leid auf beiden Seiten bringen wird, verließ ich den Saal mit einem Fünkchen Hoffnung, dass die Vernunft noch nicht ausgestorben ist. So sagte Gil Shohat: «Die einzige Lösung ist Frieden und Sicherheit für Israel und für Palästina.» Und Karin Gerster sagte: «Viele Palästinenser gehen davon aus, dass ein gemeinsames Leben in Würde mit gleichen Rechten und Freiheiten – für alle – möglich ist.»

Welche Konsequenzen ziehst Du daraus (vor dem Hintergrund der letzten Fragen)?

Mich beunruhigt, dass die Gewalteskalation zwischen Israelis und Palästinensern in der hiesigen Medien- und Politiklandschaft offenbar für unterschiedliche Interessen genutzt wird. Die einen wollen darin ihre rassistischen Vorurteile bestätigt sehen. Sie schüren Ängste und tragen zu einer von Vorurteilen geprägten Stimmung bei, die das Zusammenleben erschwert. Die anderen wollen sich auf dem Rücken der Palästinenser von historischer Schuld reinwaschen und haben den Nahostkonflikt und das Zusammenleben hier gar nicht im Blick. Beides finde ich besorgniserregend.

Deutschland steht in einem besonderen Verhältnis zu Israel, das wird in der Politik und in den Medien immer wieder betont. Gleichzeitig hat Deutschland aber auch die Menschenrechte zum Leitfaden seiner Innen- und Außenpolitik erklärt. Dennoch gibt es eine ungleiche Behandlung der hier lebenden Menschen. Zum Beispiel haben jüdische Eltern Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken, weil sie sich bedroht fühlen. Das wird thematisiert und man empört sich zu Recht. Das ist schlimm, denn alle Kinder sollten sich sicher in der Stadt bewegen können. Aber was ist mit palästinensischen Schülern, die Angehörige in Gaza verlieren oder das Leid der Palästinenser in Gaza in Bild und Ton sehen? Wo bleiben der Aufschrei und die Forderung nach besonderer Betreuung dieser zum Teil traumatisierten Kinder?

Es ist sehr wichtig, den eigenen Kompass nicht aus den Augen zu verlieren.

Inzwischen beobachte ich auch andere Stimmen und Entwicklungen. Fahnen sind nicht mehr verboten und in manchen Schulen werden Schweigeminuten für alle Opfer abgehalten. Einige Menschen denken mit und zeigen ihre Menschlichkeit. Davon brauchen wir mehr. Ich hoffe auf mehr faire und humanistische Stimmen in diesem Land. 

Mein Fazit nach den letzten Wochen ist: Es ist sehr wichtig, den eigenen Kompass nicht aus den Augen zu verlieren.

Was wünschst Du Dir von progressiven Kräften in Deutschland im Umgang mit der aktuellen Gewalteskalation?

Ich wünsche mir mehr versöhnliche Stimmen, Menschen und Veranstaltungen, die beide Perspektiven darstellen und endlich ein Ende der reflexartigen empörten, verurteilenden und geradezu mundtot machenden Kommunikation. Denn Hass und Unverständnis fördern die Spaltung der Gesellschaft. Politiker, die es mit der Integration ernst meinen, sollten aufhören uns undifferenziert zu betrachten. Entscheidend ist, die Ignoranz und Überheblichkeit gegenüber unserer Herkunft und Religion abzulegen und uns auf Augenhöhe zu begegnen. 

Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung schreibt den Schülern vor, welche Haltung sie zum Krieg zwischen Israelis und Palästinensern einnehmen sollen. Stattdessen wünschte ich mir, dass den Schülern vorgelebt wird, wie man sich für Frieden und ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen, für Menschenrechte und Gleichberechtigung für alle Menschen einsetzt, wie man Konflikte löst, z.B. sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und Friedensverhandlungen zu führen, und wie man den Nahostkonflikt multiperspektivisch und unter Berücksichtigung des asymmetrischen Machtverhältnisses vermittelt.

Wenn die Senatsverwaltung/Schulen wollen, dass auch die palästinensischen Schüler ihnen vertrauen und sich unterrichten lassen, dann sollten sie fair sein und nicht auf einem Auge blind.


[*] Der aktuelle Stand der Todesopfer lag am 18.12.2023 laut UNWRA in Gaza bei 19,453 und im besetzten Westjordanland bei 291 (www.unrwa.org/resources/reports/unrwa-situation-report-54-situation-gaza-strip-and-west-bank-including-east-Jerusalem; Zugriff: 20.12.2023)