Nachricht | Libanon / Syrien / Irak - Krieg in Israel/Palästina Starke Anspannung im Libanon

Laute Rhetorik, unterschiedliche Erwartungen und die Taktik der Hisbollah

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Pro-iranische Hisbollah-Kleriker bei einer Militärausstellung in der ostlibanesischen Stadt Baalbek im Bekaa-Tal
«Der Krieg im Gazastreifen hat die komplexen und widersprüchlichen Strukturen offenbart, die das Verhalten und die Interessen des Iran im Nahen Osten bestimmen.» 26. August 2023: Pro-iranische Hisbollah-Kleriker bei einer Militärausstellung in der ostlibanesischen Stadt Baalbek im Bekaa-Tal, Foto: picture alliance/dpa | Marwan Naamani

Der gebannte Libanon zwischen kämpferischer Spannung…

Am Montag nach dem brutalen Massaker der Hamas an 1.200 Israelis berichtete die libanesische Tageszeitung Al-Akhbar intensiv über die Ereignisse. Die politische Interpretation der Zeitung, die der Hisbollah nahesteht und auch in das politisch linke Milieu ausgreift, war eindeutig: Die «al-Aksa[1]-Flut» (arabisch: Taufan al-Aksa), wie der Angriff der Hamas auf Israel in der arabischen Welt genannt wird, sei ein Erfolg, da die «Achse des Widerstands Israel die rote Linie» aufgezeigt habe. Die Zeitung zeichnete das Bild einer politischen, aber auch emotionalen Zeitenwende im Libanon und äußerte Genugtuung und Freude angesichts der Erfolge der Hamas und der Verluste Israels. Der Mythos von der unbesiegbaren, israelischen Armee sei gebrochen.

Bernhard Hillenkamp ist ein Islamwissenschaftler und Politologe mit 15 Jahren Erfahrung in der wissenschaftlichen Forschung sowie der Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen im Libanon. Er bekleidete die Position des Landesdirektors des forumZFD in Beirut von 2015 bis 2020. Das forumZFD engagiert sich für die Unterstützung lokaler Akteure der Zivilgesellschaft, die sich für zivile Konflikttransformation einsetzen.

Seit Oktober ist sowohl die Situation an der südlichen Grenze als auch die politische Diskussion im ganzen Land sehr angespannt. Akteure sind vor allem die Hisbollah mit verbündeten Gruppen auf der einen Seite und die Regierung mit der christlichen Opposition auf der anderen. Bei den ersten Zusammenstößen an der israelisch-libanesischen Grenze drangen Mitglieder der Miliz Islamischer Dschihad aus dem Libanon nach Israel ein. Zwar behauptete Hisbollah, mit dem Angriff nichts zu tun zu haben. Dass jemand ohne das Wissen der Hisbollah die Grenze erreicht oder gar überquert, ist allerdings unwahrscheinlich. Hisbollah beschränkte sich ihrerseits am Anfang des Konflikts auf Angriffe auf die israelischen Stellungen in dem vom Libanon beanspruchten Gebiet der Shebaa Farms. Anders als 2006, nach der Entführung der israelischen Soldaten, eskalierte die Situation jedoch nicht. Im Laufe des Monats November griff die Hisbollah dann auch israelische Kampfjets und Artillerie-Einheiten außerhalb der Shebaa Farms an und bedrohte die Grenzregion auf israelischer Seite. Die Stationierung eines US-Flugzeugträgers im östlichen Mittelmeer war zudem ein deutliches Zeichen dafür, dass auch die USA die Gefahr einer Eskalation der Situation sahen und diese verhindern wollte. Einige Libanes*innen und ein viele Ausländer*innen sind am Anfang der Auseinandersetzungen ausgereist. Ein Großteil der Bewohner*innen haben ihre Dörfer im Süd-Libanon verlassen. Der Libanon hat eine große Diaspora, und normalerweise kommen viele Auslandslibanes*innen zu Weihnachten zu Besuch, viele haben nun ihre Reise in den Libanon abgesagt. Der wirtschaftliche Preis der begrenzten militärischen Auseinandersetzungen scheint bereits hoch zu sein. Dazu kommen noch die Bombardierung vieler Gebiete im Süd-Libanon, die Zerstörung von Häusern und Waldbrände, sowie mehr als 120 Tote auf libanesischer Seite bislang, zumeist Hisbollah-Kämpfer, aber auch drei Journalisten und 17 Zivilist*innen.

Erst fast einen Monat nach Beginn der Auseinandersetzungen, am 3. November 2023, sprach der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, zum ersten Mal öffentlich zu seinen Unterstützer*innen. Er sagte, dass alle Optionen auf dem Tisch lägen. Konkrete Eskalationsschritte nannte er nicht. In seiner zweiten Rede am 11. November bekräftigte Nasrallah seine Taktik, dass die Zeit für einen Kriegseintritt der Hisbollah noch nicht gekommen sei. In der Bevölkerung kehrte eine verhaltene Gelassenheit ein, die Eskalation schien abgewendet.

Angesichts der Solidarität einiger Libanes*innen mit den Palästinenser*innen in Gaza ist ein gewisser Druck der Straße, dass sich die Hisbollah stärker engagieren sollte, nicht von der Hand zu weisen. Nasr Eldin, ein politischer Aktivist, wird im ND zitiert: «Die Menschen hier verstehen, was in Palästina passiert, als einen glorreichen Akt des Widerstandes nach Jahrzehnten israelischer Unterdrückung.» Die Erwartungen vieler Aktivist*innen, sowohl im islamistischen als auch in Teilen des linken Milieus, sowie der Palästinenser*innen im Libanon waren hoch, dass die Hisbollah gemeinsam mit palästinensischen Gruppen vom Süd-Libanon aus den Druck auf Israel erhöhen und militärisch agieren würde. Erwartungen, die bis jetzt nicht erfüllt wurden.

…und Schockstarre - die Entwicklungen bis Anfang Dezember 2023

Dagegen schien der «offizielle» Libanon in einer Schockstarre zu verharren, und die Angst vor einer Eskalation war sehr real. Die dosierte Gewalt an der Grenze hätte ein Vorbote des libanesischen Flächenbrands sein können. Der geschäftsführende[2] Premierminister Najib Mikati versuchte die Wogen zu glätten, die verschiedenen Gruppen zu beruhigen und eine Eskalation der militärischen Auseinandersetzungen zu verhindern. Der Regierungschef entwickelte sogar einen (allerdings wenig beachteten) Friedensplan.

Die christlichen Oppositionsgruppen und vor allem Samir Geagea, der Vorsitzende der libanesischen Partei Lebanese Forces (LF), sind lautstarke Kritiker. Geagea kritisiert die militärische Aufrüstung und die Kämpfe der Hisbollah und ihrer Alliierten. Er beschränkte sich aber nicht auf die Hamas und die Hisbollah. Der LF-Vorsitzende bedauerte auch die Tatsache, dass die libanesischen Behörden, insbesondere der Premierminister Najib Mikati, der Verteidigungsminister und der Innenminister, angesichts der Lage an der südlichen Grenze und den Äußerungen der Hamas keine konsequente Haltung gegen die militärischen Operationen an der Grenze zu Israel eingenommen hätten.

Der Grund für die ausgesprochen starke Anspannung liegt vor allem, aber nicht nur, in der Geschichte des Süd-Libanon. In den sechziger und vor allem in den siebziger Jahren war dort die Basis der PLO für ihre Angriffe auf Israel. Nach Fatah, der größten Organisation der PLO, wurde der Süd-Libanon Fatahland genannt. Aber auch die für den Libanon verheerenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah in 2006 ließen viele Libanes*innen glauben, dass der regionale Flächenbrand nicht mehr zu verhindern sei. Darüber hinaus herrscht seit 2019 im Libanon ein politischer Stillstand mit einer nicht agierenden Regierung. Viele Libanes*innen sind erschöpft, da keine politischen Kompromisse geschlossen werden und die Suche nach Lösungen bis heute blockiert ist. Es herrscht eine komplexe Stimmung im Land vor, ein Gefühl der Unsicherheit, ob es zu einem Krieg kommen wird oder nicht.

Hisbollah, der Iran und ihre Interessen

Aber sie sind nicht die Einzigen, die die Folgen eines Flächenbrandes in der Region fürchten. Eine Destabilisierung der Region ist auch für das iranische Regime gefährlich, das ohnehin durch jahrelange innenpolitische Unruhen bereits unter Druck steht. Es sieht nicht so aus, als ob der Iran eine Deeskalation anstrebt, aber das Regime der Mullahs eskaliert auch nicht. Sie würden die Situation eher eindämmen, weil es ihnen in erster Linie um das eigene Überleben geht. Ein regionaler Krieg würde den Iran gefährden. Kim Ghattas, Journalistin aus Beirut, formuliert es so: «Irans Priorität ist das Überleben des Regimes und der Hisbollah als einer wichtigen Bastion in der Region … Das Regime will nicht in eine Situation geraten, in der es diese Karte für die Palästinenser*innen verspielt.» Der Konflikt im Gazastreifen hat «die komplexen und widersprüchlichen Strukturen offenbart, die das Verhalten und die Interessen des Iran im Nahen Osten bestimmen, die sowohl ideologisch als auch pragmatisch motiviert sind», so Sina Toossi. In diesem Sinne will der Iran wahrscheinlich seine Stärke und Abschreckungsfähigkeit nicht nur gegenüber Israel und den USA demonstrieren, sondern auch eine direkte Konfrontation vermeiden. Aspekte, denen auch die aktuelle Taktik der Hisbollah Rechnung trägt.

Die taktische Zurückhaltung der Hisbollah hat auch eine innenpolitische Dimension. Palästina bzw. die Befreiung Palästinas und der Widerstand gegen Israel sind sicherlich die wichtigsten identitätsstiftenden Forderungen der Hisbollah. Die außenpolitische Orientierung des Libanon und das Verhältnis zu Israel war eine Priorität für die Realpolitik der Gruppe. Gleichwohl ist ein Pragmatismus in Bezug auf Allianzen innerhalb des konfessionell geprägten politischen Systems des Libanon zu beobachten. Die Hisbollah nimmt bis zu einem gewissen Grad Rücksicht auf das Gesamtgefüge der libanesischen Gesellschaft und ist Teil des libanesischen Konfessionalismus. Die seit 2006 existierende Kooperation mit der zweiten großen christlichen Partei des Libanon, der Freien Patriotischen Bewegung (FPB), ist dafür ein Beispiel. Angesichts der fragilen Situation im Libanon scheint es für die Hisbollah angebracht zu sein, Koalitionen über konfessionelle Grenzen hinweg einzugehen. Die FPB haben sich offen gegen die militärische Eskalation durch die Hisbollah ausgesprochen. Der Süd-Libanon soll kein Hamasland werden Der Parteivorsitzender der FPB, Gebran Bassil, ein Verbündeter der Hisbollah, formulierte es so: «Der Libanon hat Rechte und sein ‹nationaler Widerstand› gegen Israel befähigt ihn, sich zu verteidigen, aber die Schaffung eines Hamaslandes im Süden schwächt ihn». Auch diese politische Karte, das Bündnis mit einer der beiden großen christlichen Gruppierungen im Libanon, so die Taktik der Hisbollah, soll durch einen Krieg gegen Israel nicht gefährdet werden.

Hamas und die Palästinenser*innen im Libanon

Laut einem Zensus von 2017 leben zirka 190.000 Palästinenser*innen ständig im Libanon . Die Zahl der offiziell von der UNRWA registrierten Geflüchteten beläuft sich derzeit allerdings auf fast 490.000. Ihre Geschichte im Libanon ist komplex und die Rolle der PLO und der Palästinenser*innen durch den Bürgerkrieg umstritten. Die Hamas steht in direkter Konkurrenz zur PLO. Sie ist sehr präsent und erfreut sich einer relativ hohen Popularität. Durch die «al-Aksa-Flut» ist ihre Beliebtheit auch noch gestiegen und sie ist mutiger geworden. Das Verhältnis zwischen Hamas und Hisbollah ist nicht so geradlinig und harmonisch, wie es uns einige heute glauben machen wollen. Die Differenzen zwischen ihnen und auch anderen vom Iran unterstützten Gruppen brachen vor allem ab 2011 während des syrischen Bürgerkriegs immer wieder auf. Die Hamas unterstützte mehrheitlich die sunnitischen Oppositionsgruppen in Syrien. Doch letztendlich und trotz dieser Differenzen «haben sich die Beziehungen in den letzten fünf Jahren schnell verbessert», so Qassim Qassir, ein libanesischer Analyst, der der Hisbollah nahesteht. Die Annäherung lief weitestgehend über den Libanon. Es soll der seit 2003 in Beirut ansässige Hamas Aktivist Saleh al-Arouri gewesen sein, der den Kontakt und die (militärische) Kooperation intensivierte. Der aus dem Westjordanland stammende Arouri war auch der Gründer der Izzedine al-Qassam Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas.

Nichtsdestotrotz waren viele Palästinenser*innen enttäuscht über das zurückhaltende Engagement der Hisbollah an der Grenze. Viele, vor allem junge Männer, waren bereit, vom libanesischen Territorium aus gegen Israel zu kämpfen und waren davon ausgegangen, dass die Hisbollah den Krieg gegen Israel ausrufen würde. Anfang Dezember 2023 kündigte Hamas im Libanon die Gründung der «al-Aksa-Flut-Jugend» an. Dies sorgte für große Aufregung. Gebran Bassil erklärte, er lehne die Gründung dieser Einheit durch die Hamas kategorisch ab und sagte: «Wir glauben, dass jede bewaffnete Aktion aus dem Libanon ein Angriff auf die nationale Souveränität ist». Auf seinem X-Account prangerte er die Schwächung des Libanon zugunsten eines Hamaslandes im Süden an. Der Hamas-Vertreter im Libanon, Ahmad Abdel Hadi, ruderte schnell zurück und sagte, es handele sich nicht um eine militärische Einheit. Auch hier scheint die Hisbollah die Hamas gebremst zu haben.

Die Rhetorik ist laut, die Erwartungen sind hoch. Doch die Situation an der Grenze und die komplexe Struktur des Libanon, aber auch in der Region, scheinen eine militärische Eskalation zu verhindern. Nur ein extremer Zwischenfall an der Grenze oder auch eine aggressive israelische Angriffsstrategie im Libanon könnten die Hisbollah dazu bewegen, diese Taktik aufzugeben.


[1] Al-Aksa Moschee ist die drittwichtigste Stätte im Islam, die sich auf dem Tempelberg/ Al-Haram asch-Scharif in Jerusalem befindet und immer wieder ein Ort der Konfrontation zwischen Israelis und Palästinenser:innen ist.

[2] Die Regierung ist geschäftsführend, da sie eigentlich zurückgetreten ist, aber keine neue Regierung die Regierungsgeschäfte übernommen hat.