Nachricht | Krieg / Frieden - Westasien - Iran - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Irans Rolle im Gaza-Krieg

Teheran profitiert vom Krieg zwischen Israel und der Hamas und spielt zugleich mit dem Feuer

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Hamid Mohseni,

Iranische Demonstranten verbrennen auf einer Kundgebung israelische und US-amerikanische Flaggen, um ihre Solidarität mit dem Volk von Gaza zu zeigen. (Teheran, 18.11.2023) Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Die Islamische Republik Iran (IRI) verfolgt seit ihrer Gründung im Jahr 1979 eine ausgeprägte Strategie der Stellvertreter-Kriegsführung. Hierbei setzt sie gezielt auf nichtstaatliche und substaatliche Gruppen in der «Achse des Widerstandes» gegen die USA und Israel, um ihre politischen Interessen in der Region durchzusetzen. Dabei möchte sie jedoch einen Krieg vermeiden, da dieser am Ende insbesondere angesichts der militärischen Stärke der USA viel zu gefährlich für die eigene Existenz wäre.

«Islamische Revolution» als Exportmodell

Ayatollah Khomeini, erster «Revolutionsführer» der IRI, legte bereits 1971 den missionarischen Grundstein, als er die Konzeption einer «Islamischen Regierung» skizzierte. Diese Ideen sollten die Grundlage seiner Herrschaft als Oberster Rechtsgelehrter und somit des Hauptprinzips der Islamischen Republik Iran (IRI) bilden. Im Gegensatz zu anderen Geistlichen betrachtete Khomeini den (schiitischen) Islam stets als hochpolitisch und revolutionär. Seine Schriften und Reden richteten sich explizit an schiitische Muslim*innen in der gesamten Region, nicht ausschließlich im Iran. Unmittelbar nach der Machtübernahme 1979 im Iran erklärte sich Khomeini, der über zehn Jahre im irakischen Najaf im Exil unter dem sunnitischen Saddam Hussein verbracht hatte, auch als Revolutionsführer der irakischen Schiit*innen und rief zur Rebellion gegen Saddam Hussein auf.

In den ersten beiden Jahren nach der Gründung der IRI wurde das «Büro für islamische Befreiungsbewegungen» unter der Leitung der Revolutionsgarde Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC) ins Leben gerufen. Dieses Organ hatte das klare Ziel, das Modell der IRI über die Grenzen des Irans hinaus zu exportieren. Auf diese Weise entstanden 1982 die bis heute erfolgreichsten Proxies der IRI, nämlich die Badr-Kräfte im Irak und die Hisbollah im Libanon. Weitere Bemühungen in dieser frühen Phase der IRI fanden, mehr oder weniger erfolgreich, in Bahrain, Kuwait, Pakistan und Saudi-Arabien statt.

Khomeinis gelegentlich überhebliche Politik des Exports der «Islamischen Revolution» stieß auch innerhalb der IRI auf Widerspruch. Schließlich trugen seine ausdrücklichen Aufrufe und Agitationen in Richtung Irak maßgeblich zur Eskalation bei, die im Angriff des Irak auf den Iran im September 1980 und dem darauf folgenden achtjährigen Krieg gipfelte. Dieser Krieg stärkte im Nachhinein die IRI, da es ihr durch die Ablenkung ihre vielfältige und robuste Opposition durch Festnahmen, Folter und Massenhinrichtungen zu eliminieren und sich dadurch fest etablieren. Dennoch brachte der Krieg die junge IRI in existenzielle Gefahr, und sie musste lernen, dass sie verwundbar ist. Eine Erkenntnis daraus war, dass sie ihr Modell des islamischen Gottesstaates nicht gleichzeitig und flächendeckend exportieren kann, sondern ihre Ziele strategisch auswählen muss.

Die Auswahl der Ziele basiert nicht allein auf der Dichotomie «Schiitisch vs. Sunnitisch», wie es oft im allgemeinen Diskurs vereinfacht dargestellt wird. Neben dem zweifellos bedeutenden ideologischen Konflikt um die Auslegung des Islam hat die IRI stets auch pragmatisch und realpolitisch gehandelt. Im libanesischen Bürgerkrieg der 1980er Jahre unterstützte sie beispielsweise die sunnitische Fatah-Bewegung von Jassir Arafat und nicht die schiitischen Amal; die anti-israelische Haltung der Fatah wurde für das große Ganze als bedeutender eingeschätzt als der engstirnige Fokus der Amal auf ein schiitisches Libanon. Aktuelle Beispiele hierfür sind die Verbindungen zum Assad-Regime und zu den Huthi-Rebellen, die eher geopolitischer Natur entspringen als reinen ideologischen Schnittmengen zu folgen.

Der Alleinvertretungsanspruch für den schiitischen Islam war für die IRI lange Zeit nicht immer erfolgreich, wie am Beispiel der schiitischen Hazaras in Afghanistan deutlich wird. Während des afghanischen Bürgerkriegs von 1989 bis 2001 unterstützte die IRI die Hazaras gegen anti-schiitische Kräfte, und anfangs nahmen die Hazaras diese Hilfe dankend an. Später jedoch wehrten sich diese gegen eine als übergriffig empfundene ideologische Einflussnahme der IRI (Hafizullah Emadi: «Exporting Iran’s Revolution: The Radicalization of the Shiite Movement in Afghanistan,» Middle Eastern Studies, Vo. 31. No. 1. 1995).

«Krieg gegen den Terror» und Bürgerkrieg in Syrien als Zäsuren

Eine Zäsur für den Einfluss der IRI und ihres Proxy-Netzwerks war der sogenannte Krieg gegen den Terror, insbesondere im Irak. Das von den USA geführte Vorgehen veränderte die Region nachhaltig und hinterließ ein Machtvakuum, das zu Chaos, Unübersichtlichkeit und Radikalisierung unter vielen schiitischen Gruppen führte. In dieser instabilen Situation suchten viele Gruppen Unterstützung von außen, wobei die IRI mit ideologischer Rückendeckung sowie finanzieller und militärischer Hilfe aufwartete.

Die langjährigen Investitionen der IRI und ihr Einfluss im Irak zeigen sich deutlich in den 2014 gegen den «Islamischen Staat» (IS) gegründeten Volksmobilisierungskräften (PMF). Bis zu 50 Prozent der Kämpfer bzw. über 40 der 67 Milizen der PMF haben enge Verbindungen zum IRGC und streben eine Staatsform nach dem Vorbild der IRI an. Der bei einem US-Drohnenangriff getötete Mahdi Al-Mohandes, ehemaliger Kommandeur der iranischen Proxy Kataib Hisbollah und de facto Anführer der PMF, betonte, dass diese Organisation ohne die IRI nicht existieren würde.

Eine weitere Zäsur der Proxy-Bemühungen der IRI ist der Bürgerkrieg in Syrien seit 2011. Die IRI verfolgte seit jeher das Ziel, die Regierung von Bashar al-Assad zu stabilisieren und zu unterstützen. Ein zusätzliches Merkmal der Stellvertreter-Kriegsführung der IRI, das hier sichtbar wird, ist die Internationalisierung in der von ihr orchestrierten «Achse des Widerstands». Die meisten iranischen Kräfte fungierten in Syrien als Berater und Ausbilder. Die Kämpfenden stammten vornehmlich aus dem Irak, Pakistan und Afghanistan, obwohl der Iran die mit Abstand größte Bevölkerung in der Region hat.

Die Proxy-Kriegsführung ist von einer Dialektik bestimmt. Einerseits verfolgen diese Organisationen zwar unmittelbar bestimmte Ziele für die IRI, andererseits verselbstständigen sie sich jedoch im Laufe der Zeit und entwickeln eigene Interessen oder legen andere ab. Ein Beispiel hierfür ist die Hamas, von der Teile mittlerweile eine Zwei-Staaten-Lösung oder eine nationale Übergangslösung für Gaza akzeptieren. Die Hisbollah integriert sich in den säkularen libanesischen Staat, obwohl sie dies zuvor, als sie noch stärker an die IRI gebunden war, streng abgelehnt hatte. Trotz dieser Integration hat die Hisbollah allerdings mehr Macht gewonnen und ist nun der maßgebliche politische Faktor im Libanon. Dies verdeutlicht, dass die von Iran unterstützten Gruppen langfristig nicht in einer Machtteilungskonstellation verharren werden, weswegen auch Szenarien einer Konstellation mit einer eingehegten Hamas im Gazastreifen wenn überhaupt nur von kurzer Dauer wären.

Schmerzlicher Verlust: Qasem Soleimani

Derzeit unterhält die IRI mindestens zwölf verbündete Organisationen in Westasien, genauer gesagt in Bahrain, im Irak, im Libanon, in den Palästinensischen Gebieten, in Syrien und im Jemen. Im Jahr 2020 belief sich die jährliche Unterstützung für die Hisbollah auf 700 Millionen Dollar und für die Hamas auf 70 bis 150 Millionen Dollar, trotz Terrorlistung und Sanktionen gegen den IRGC sowie gegen Proxies und speziell gegen ihre Anführer. Insgesamt hat die IRI nach Angaben des US-Außenministeriums allein zwischen 2012 und 2020 schätzungsweise 16 Milliarden Dollar ausgegeben, vor allem für den Erhalt des Assad-Regimes in Syrien.

Wie wirkungsmächtig diese Gruppen agieren, zeigt das Beispiel Kataib-Hisbollah im Irak. Es war ein Raketenangriff dieser Gruppierung, die am 27. Dezember 2019 einen US-Amerikaner tötete und ein halbes Dutzend Soldaten verwundete. Dieser Angriff traf die USA so sehr, dass sie als Vergeltungsschlag im Januar 2020 u.a. Qasem Soleimani, Anführer der Qods-Brigaden des IRGC und Architekt des Proxy-Netzwerks der IRI, durch einen US-Drohnenschlag in Bagdad töteten und dabei einen Krieg riskierten.

Trotz der Eliminierung führender Köpfe aller vom Iran unterstützen Organisationen - Hamas, Hisbollah, PMF und selbst der eigenen IRGC - baut der Iran sie immer wieder auf und lässt sie nie ganz verschwinden. Allerdings sind manche Verluste nicht zu ersetzen, vor allem nicht Soleimanis. Erstens galt er innerhalb der IRI-Rangfolge trotz fehlender islamischen Gelehrtenkarriere als möglicher Nachfolger des alternden Khamenei. Hisbollah-Führer Nasrallah betonte anlässlich des jüngsten Todestages Soleimanis dessen Bedeutung und Unverzichtbarkeit, die auch dazu führte, dass die Hisbollah unabhängig agieren konnte, aber in steter Absprache mit der IRI – zwischen den Zeilen lässt sich interpretieren, dass die IRI die einstige Kontrolle, die sie mit Soleimani auf die Hisbollah hatte, nun nicht mehr genießt.

Es steht viel auf dem Spiel: Der aktuelle Krieg zwischen Israel und der Hamas

Das Ziel der IRI und der «Achse des Widerstandes» in der Region bestand zuletzt darin, eine Annäherung von Saudi-Arabien und Israel sowie anderen arabischen Staaten und Israel zu verhindern – denn dieses Zusammenrücken galt als lebenswichtig für die Interessen der USA. Zu diesem Zweck sucht der Iran bewusst die Zusammenarbeit mit Akteuren, die er erreichen kann, und eskaliert die Konfrontation gegenüber Israel und anderen. Das Signal lautet: Schließt euch uns an, habt Handel und Frieden, oder geht zu Israel und habt Krieg. Um diesen Keil zwischen die arabischen Staaten weiterzutreiben, instrumentalisiert der Iran die Hamas.

Nach dem Anschlag gab es von Seiten der IRI durchweg Gratulationen und Glückwünsche. Der Tenor war, dass man die Aktion und das dahinterliegende Anliegen der Hamas unterstütze. Innerhalb weniger Tage änderte sich jedoch der Ton, wobei deutlich defensiver betont wurde, die Palästinenser seien selbst für den Anschlag verantwortlich. Dies könnte als Reaktion darauf verstanden werden, dass die USA und Israel den Iran mehr als deutlich gewarnt hatten (die USA verlegte zwei Flugzeugträgergruppen ins östliche Mittelmeer), sich nicht militärisch in den Konflikt einzumischen.

Die genaue Rolle Irans für den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 bleibt unklar. Einige Indizien könnten auf eine aktive Beteiligung hinweisen, z.B. der Einsatz von Geiselnahmen als strategisches Mittel, das die IRI gut beherrscht. Außerdem existieren nicht verfizierbare Videos, in denen Farsi-sprechende Personen am Angriff beteiligt sein sollen. Nach Berichten des Wall Street Journal und der Washington Post soll die IRI umfassend an der Planung beteiligt gewesen sein und grünes Licht gegeben haben. Sprecher der IDF (Israel Defence Forces) und des US-Sicherheitsrats können dies jedoch nicht bestätigen. Ein Sprecher der Hamas gab an, dass die Operation von Hamas geplant war und die Beteiligung der IRI und der Hisbollah nur im Falle eines Vernichtungskrieges gegen Gaza erfolgen würde. Fakt ist, dass die genaue Rolle der IRI bei diesem Angriff am 7. Oktober nicht klar ist, aber es scheint, dass eine Hamas ohne die Unterstützung der IRI nicht in der Lage wäre, eine solche Aktion durchzuführen.

Die IRI zieht zwei unmittelbare Vorteile aus dem jüngsten Konflikt:

Erstens hat der Konflikt die «Palästina-Frage» wieder auf den Tisch gebracht, was Saudi-Arabien daran hindert, die Beziehungen zu Israel weiter auszubauen und das Verhältnis zu normalisieren. Seit dem 7. Oktober ist die Beliebtheit des Irans unter Araber*innen stark gestiegen – das ist elementar für das iranische Proxy-Netzwerk und setzt Saudi-Arabien hinsichtlich zukünftiger Annäherung an Israel massiv unter Druck.

Zweitens dient der Konflikt als Ablenkung von innenpolitischen Problemen und ermöglicht den Ausbau von anti-amerikanischer und anti-israelischer Propaganda, um innenpolitische und wirtschaftliche Herausforderungen zu überdecken. Dass die IRI selbst seit Jahren von einem «revolutionären Prozess» (Politologe Ali Fathollah-Nejad) bedroht wird, wird seit dem 7. Oktober kaum noch thematisiert.

Gleichzeitig spielt die IRI derzeit mit dem Feuer:

Einerseits ist die aktuelle Eskalationsspirale gefährlich. In den letzten Tagen haben sich die Ereignisse überschlagen: Hochrangige Mitglieder der IRGC und der Hamas sterben bei israelischen Luftangriffen; ein IS-Anschlag tötet im Iran über 100 Menschen und markiert damit den schwersten Terroranschlag in der Geschichte der IRI. Solche Ereignisse in so kurzer Zeit sorgen für eine extreme Anspannung, vor allem wenn man bedenkt, dass die Kontrolle der IRI über die Hisbollah seit Soleimanis Tod nachgelassen hat und diese bereits 2006 gegen den Willen der IRI in einen Krieg gegen Israel verwickelt wurde.

Andererseits orientiert sich der Iran geopolitisch an China und Russland, die Ayatollahs sehnen sich nach einer «neuen Weltordnung» entlang des Dreiecks Peking, Moskau, Teheran. Auch wenn Russland vom 7. Oktober alleine deshalb profitiert, weil die Aufmerksamkeit vom Ukraine-Krieg abgelenkt wird, so dürfte der andere wichtige Partner ganz und gar nicht erfreut sein: China bemüht sich zaghaft um Annäherung und Deeskalation in der Region, vor allem durch den Iran-Saudi-Deal, doch spätestens die Angriffe der IRI-gestützten Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe sorgen bereits jetzt für globale Konsequenzen auf dem Weltmarkt. Die IRI liebäugelt sogar mit dem Gedanken, diese Angriffe auszuweiten.

Es bleibt festzuhalten: die IRI stellt sich als einer der Gewinner der jüngsten Eskalationsstufe dar; die «palästinensische Frage» ist wieder auf der Tagesordnung, die Unterbrechung und möglicherweise auf Jahre ausgesetzte Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel ist wertvoll. Doch der unmittelbare Preis ist hoch: eigenes, ranghohes Personal der IRGC wurden bereits getötet, weitere könnten folgen. Vor allem aber ist der Terroranschlag in Kerman eine Zäsur, die die innenpolitisch bedrohte IRI und deren kaum noch vorhandene Legitimität noch mehr unter Druck setzt. Dieser Druck wird sich, wie jüngst bei der «Frau, Leben, Freiheit»-Bewegung wieder Bahn brechen. Diese Situation nehmen schließlich auch die iranischen Proxies wahr, es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich dadurch der Griff auf sie (siehe Hisbollah) noch weiter lockert.