Nachricht | Südasien Die Sprache der Tyrannen

Die indische Linke ringt um Multipolarismus – Premier Modi hält sich Putin und Biden warm

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Britta Petersen,

Der indische Premierminister Narendra Modi, der stellvertretende russische Premierminister Juri Borissow, der Vorstandsvorsitzende von Rosneft, Igor Setschin, und der russische Präsident Wladimir Putin betrachten das Modell eines nuklear angetriebenen Eisbrechers vom Typ Leader bei einem Besuch der Zvezda-Werft in der Stadt Bolschoi Kamen, etwa 30 km östlich von Wladiwostok, Russland, am 4. September 2019.
Narendra Modi und Wladimir Putin betrachten das Modell eines nuklear angetriebenen Eisbrechers bei einem Besuch der Zvezda-Werft, 30 km östlich von Wladiwostok. Foto: picture alliance/EPA-EFE | MICHAEL KLIMENTYEV/SPUTNIK/KREML

Kavita Krishnan, eine bekannte indische Feministin, hat sich mit der Partei überworfen, der sie schon als Studentin beigetreten war und mehr als zwei Jahrzehnte als Mitglied des Zentralkomitees diente: der Communist Party of India (Marxist-Leninist) Liberation.

Wie der komplizierte Name nahelegt, hat die Partei eine bewegte Geschichte von Zerwürfnissen und Spaltungen hinter sich und ist heute nur noch in zwei Landtagen in Indien vertreten. In der Lok Sabha, dem Bundesparlament in Neu-Delhi, hat die CPI (ML) Liberation schon lange keine Sitze mehr. Doch das ist nicht der Grund dafür, dass Krishnan im vergangenen Jahr alle ihre Parteiämter niederlegte.

Es geht um das große Ganze, um Geopolitik, China, Russland und die Position der indischen Linken in der neuen Welt(un)ordnung. Der Streit ist auch ein Lehrstück für die globale Linke, denn noch ist keineswegs klar, wer oder was eigentlich die «Monster» (Gramsci) sind, die das Ende der US-dominierten Weltordnung und der Aufstieg Chinas auf der Weltbühne hervorbringen.

Krishnan wirft ihren Genoss*innen vor, autoritäre Regime zu unterstützen, indem sie unkritisch dem Multipolarismus das Wort redeten. «Alle Strömungen der Linken in Indien und weltweit setzen sich seit langem für eine multipolare Welt ein, im Gegensatz zu einer unipolaren, die von den imperialistischen USA dominiert wird», schreibt Krishnan in einem programmatischen Artikel von Dezember 2022. Doch zugleich sei Multipolarität «ein Schlachtruf für Despoten, der dazu dient, ihren Krieg gegen die Demokratie als einen Krieg gegen den Imperialismus zu tarnen.»

Auslöser für Krishnans Empörung war der Angriff Russlands auf die Ukraine und Wladimir Putins Rechtfertigung des Krieges. «Mit seiner Behauptung, die westlichen Regierungen hätten kein moralisches Recht, sich einzumischen», habe Putin «extrem rechten, weiß-suprematistischen, rassistischen, antifeministischen, homophoben und transphoben Bewegungen in der ganzen Welt» signalisiert, die Invasion sei Teil eines Projekts, das für sie von Vorteil sei: die «unipolare Hegemonie» universeller Werte der Demokratie und der Menschenrechte zu stürzen.

Das sehen traditionell Moskau-freundliche Linke erwartungsgemäß anders. «Kavita Krishnan scheint über den Marxismus verwirrt zu sein», belehrt S. Ramachandran Pillai, auch «Genosse SRP» genannt, ein Veteran der Communist Party of India (Marxist). Die Kritik an Russland und China müsse «im weiteren Kontext des US-Imperialismus» gesehen werden. Doch das lässt Krishnan kalt: «Was haben die USA mit den Verbrechen Chinas gegen die uigurischen Muslime zu tun?», fragt sie. «Ich bin seit drei Jahrzehnten Kommunistin. Freiheit ist nicht verhandelbar.»

Britta Petersen leitet ab März 2024 das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi. Zuvor war sie Journalistin, Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit und Senior Fellow beim indischen Think-Tank Observer Research Foundation (ORF).

Damit begibt sie sich in ungewohnte Gesellschaft. Auch die USA und die EU hatten gehofft, Indien würde sich als Demokratie dem westlichen Lager anschließen, Putins Krieg gegen die Ukraine verurteilen und Boykott-Maßnahmen gegen Russland verhängen. Doch weit gefehlt. «Dies ist nicht die Zeit für Krieg», sagte Premierminister Narendra Modi von der Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Partei (BJP) kürzlich in Moskau. Weiter geht seine Kritik an Putin nicht.

Modi und sein eloquenter Außenminister S. Jaishankar, ein Karrierediplomat, versuchen bisher erfolgreich, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, und profitieren zugleich vom billigen russischen Öl. Nach Angaben der staatlichen Bank of Baroda importierte Indien 2022 rund 20 Prozent seines Rohöls aus Russland; vor Beginn des Ukrainekrieges 2021 waren es nur zwei Prozent gewesen. Washington und Brüssel sind darüber nicht begeistert, halten aber still, weil sie in Indien einen wichtigen asiatischen Verbündeten gegen die Dominanz Chinas sehen.

Dabei ist Indiens Beziehung zu Russland durchaus vielschichtig. Die ehemalige Regierungspartei, der sozialdemokratische Indian National Congress (INC), unterhielt gute Kontakte zur Sowjetunion. Lange bezog Indien seine Militärtechnologie fast ausschließlich aus Russland, auch heute noch kommen 80 Prozent der indischen Rüstungsgüter von dort. Zwischen Neu-Delhi und Moskau besteht noch immer ein Vertrauensverhältnis, auch wenn weder Putin noch Modi des Sozialismus verdächtig sind.

Sorge um die Macht Chinas

Schwerer in Neu-Delhis strategischem Kalkül wiegt jedoch die Sorge um die stetig wachsende Macht Chinas. Für das südasiatische Land ist China kein «systemischer Rivale», sondern ein übermächtiger Nachbar, gegen den es 1962 einen Krieg verloren hat und mit dem es sich an den umstrittenen Nordgrenzen regelmäßig militärische Scharmützel liefert. Auch unterhält China hervorragende Kontakte zum Erzfeind Pakistan.

«Ein schwacher Putin ist Indiens größter Albtraum», schreibt Mohamed Zeeshan, Autor des Buches «Flying blind: India’s Quest for Global Leadership». In der Tat fürchtet Neu-Delhi, dass Putin durch den westlichen Boykott immer weiter in die Arme Beijings getrieben wird – und damit eine neue Bipolarität mit den USA auf der einen und China auf der anderen Seite befördert. Dies läuft Indiens Hoffnung auf eine multipolare Weltordnung zuwider, in der auch Mittelmächte wie es selbst eine führende Rolle spielen könnten.

Diese Weltsicht hatte einst bereits Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru von der Kongress-Partei, formuliert, auch wenn die von ihm geprägte Philosophie der «Blockfreiheit» (also der Nichtzugehörigkeit zu einem der beiden Militärbündnisse in der Zeit des Kalten Krieges) inzwischen durch den Begriff der «strategischen Autonomie» ersetzt wurde. Nehru wollte Indien als Führungsmacht des globalen Südens etablieren und legte mit der von ihm mitinitiierten Bandung-Konferenz 1955 in Indonesien den Grundstein für die «Bewegung der blockfreien Staaten» und die weitere Dekolonisierung Afrikas und Asiens.

«Was bedeutet es, sich einem Block anzuschließen? Es kann doch nur eines bedeuten: die eigene Meinung zu einer bestimmten Frage aufzugeben, die Meinung der anderen Partei in dieser Frage zu übernehmen, um ihr zu gefallen», schrieb Nehru. «Unsere Außenpolitik besteht darin, uns von den großen Blöcken fernzuhalten, freundlich zu allen Ländern zu sein [...], uns nicht in irgendwelche Bündnisse zu verstricken [...], die uns in einen möglichen Konflikt hineinziehen könnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine engen Beziehungen zu anderen Ländern unterhalten.»

Das war freilich bevor China zu der wirtschaftlichen und politischen Supermacht aufstieg, die heute die alte Weltordnung herausfordert. Seitdem hat Indien sich vorsichtig den USA angenähert, bezieht Rüstungsgüter auch aus Frankreich und Israel, hält Militärmanöver mit Japan ab und versucht sich in einem breiten strategischen Spagat. Dabei betrachtet es «strategische Autonomie» als die Fähigkeit eines Staates, Entscheidungen unabhängig von äußerem Druck zu treffen. Der indische Journalist Sreemoy Talukdar definiert sie als «die Ausübung von Entscheidungen, die ausschließlich von souveränen Erwägungen und Interessen geleitet werden».

Neue Bündnisse

«Das Gefühl, dass wir unbeteiligt sein können, müssen wir hinter uns lassen», so Außenminister S. Jaishankar. Indien solle «die Welt aktiver gestalten, andere Akteure selbstbewusster einbinden, klarer erkennen, was unsere eigenen Interessen sind, und zu versuchen, sie voranzubringen». Sein multipolares Engagement gleicht derzeit einer Jonglage mit ungewissem Ausgang.

So engagiert sich Indien in überaus unterschiedlichen Foren wie dem Staatenbündnis BRICS, dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog (QUAD) und der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Die BRICS sind ein loses Bündnis der Namensgeber-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, dessen Mitglieder international mehr Einfluss gewinnen wollen. Kürzlich wurden auch Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate in die BRICS aufgenommen; Argentinien hat sich bereits wieder verabschiedet.

Die QUAD hingegen ist ein militärpolitisch ausgerichteter Zusammenschluss der Länder USA, Australien, Indien und Japan. Indiens Engagement ist hier auch Ausdruck der Sorge über Chinas Militärpräsenz im Indo-Pazifik. Die staatliche chinesische Zeitung «Global Times» bezeichnet den QUAD als «informelle Anti-China-Sicherheitsgruppe». Darüber hinaus ist Indien auch in der AIIB engagiert und hält mit acht Prozent nach China (27 Prozent) die zweitmeisten Anteile an der Entwicklungsbank.

Diese neuen Institutionen sind eine Reaktion darauf, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Bretton-Woods-Institutionen (die Weltbank und der Internationale Währungsfonds) sowie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch immer die Machtverhältnisse der damaligen Zeit widerspiegeln. Da Reformversuche, die darauf zielten, eine größere Zahl von Ländern in die globalen Entscheidungsprozesse einzubeziehen, scheiterten, haben diese sich nun neue Gremien der Zusammenarbeit geschaffen.

Samir Saran, Präsident der unabhängigen indischen Denkfabrik Observer Research Foundation, bezeichnet den UN-Sicherheitsrat als «letzte koloniale Institution». Die Ständige Vertreterin Indiens bei den Vereinten Nationen, Botschafterin Ruchira Kamboj, hält die derzeitige Struktur des Sicherheitsrats für einen Anachronismus, der sich nicht an die seismischen Veränderungen in den internationalen Beziehungen der letzten Jahrzehnte anpassen konnte.

Angesichts der Vielzahl neuer Formate und Initiativen stellt sich auch für die indische Linke die Frage, ob eine Fixierung auf den US-Imperialismus als Hauptgegner nicht ebenfalls veraltet ist und sie damit versäumt zu definieren, welche Interessen aus linker Sicht in der zukünftigen Weltordnung relevant sind. Diese sollten sich von denen der Hindu-nationalistischen Regierung unterscheiden.

«Diejenigen, die sich in Kämpfen auf Leben und Tod befinden, brauchen unseren Respekt für ihre Autonomie und Souveränität. Sie müssen selbst entscheiden können, welche Formen moralischer, materieller, militärischer Unterstützung sie fordern, akzeptieren oder zurückweisen. Der moralische Kompass der globalen und indischen Linken muss dringend neu eingestellt werden, damit sie ihren verhängnisvollen Kurs korrigieren kann, der sie dazu bringt, dieselbe Sprache wie die Tyrannen zu sprechen», schreibt Kavita Krishnan.

Applaus hat sie dafür bisher eher nicht erhalten.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.