Interview | Rosalux International - Cono Sur - Andenregion «Kriminelle Banden werden sich die Politik vornehmen»

Interview mit Fernando Carrion zu Gewalt und Drogen in Ecuador. Von Karin Gabbert

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Fernando Carrión ist Sozialwissenschaftler und hat ab 2017 ein Forschungsprojekt in acht lateinamerikanischen Ländern über Drogenhandel koordiniert. In diesen Tagen erscheint sein neues Buch über Gewalt in Ecuador und Lateinamerika: Lá producción social de la violencia en Ecuador y América Latina («Die soziale Produktion von Gewalt in Ecuador und Lateinamerika»).

Mit ihm sprach Karin Gabbert, Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Ecuador, Bolivien, Kolumbien und Venezuela in Quito.
 

Karin Gabbert: Herr Carrion, wie kam es zur Besetzung des ecuadorianischen Fernsehsenders TC?

Fernando Carrion: Das waren 13 Jungs, die wahrscheinlich eine Botschaft veröffentlichen wollten. Das haben sie jedoch nicht geschafft, niemand wurde verletzt, und sie wurden festgenommen. Aber diese Bilder gingen um die Welt, weil Medien auf Bilder anspringen und weil es sich um einen Fernsehsender handelte. Zur gleichen Zeit wurden mindestens 200 Personen in den Gefängnissen als Geiseln genommen, auch davon gab es Bilder. Wieso haben die internationalen Medien die nicht verbreitet? Die Geiseln in den Gefängnissen interessierten sie nicht.

Warum explodiert die Gewalt in Ecuador?

Man muss dafür zeitlich etwas zurückschauen. Es gibt zwei Schlüsselmomente. Einer ist der Plan Colombia, der 1999 von den USA und Kolumbien unterzeichnet wurde und die Drogenkartelle mit Militär bekämpfte. Deswegen strukturierten sie sich um. Vorher gab es das Medellín-Kartell von Pablo Escobar und das Cali-Kartell. Sie kontrollierten den gesamten Prozess der Kokainproduktion: den Kokaanbau, den Transport in die USA und den Verkauf dort. Nach 1999 änderte sich das. Es entstanden die von der US-Drogenbehörde so genannten «kriminellen Banden» in Kolumbien, die sich auf bestimmte Teile des Drogengeschäfts spezialisierten. Das Drogengeschäft wurde arbeitsteilig. Außerdem hat sich der Drogenhandel internationalisiert. Das nennt man den «Kakerlakeneffekt». Man bekämpft das Ungeziefer konzentriert, und danach taucht es überall auf. Ab circa 2006 wurde ein großer Teil der Kokainproduktion in andere Länder wie Ecuador und Venezuela verlagert.

Ecuador ist doch kein Produktionsland für Kokain, sondern nur ein Transitland, oder?

Das behauptet sogar die ecuadorianische Polizei. Aber das ist seltsam, denn sie selbst heben die Drogenlabore im Land ja aus. Im Jahr 2000 führte Ecuador den US-Dollar als Landeswährung ein. Seither ist es ein bevorzugtes Land für Geldwäsche und von diesem Moment an beginnt es Kokain zu produzieren und zu transportieren. Ecuador betritt also den Raum des internationalen Drogenhandels als Konsequenz der US-Militärstrategie Plan Colombia.

Und was ist der zweite Schlüsselmoment?

9/11. Nach den Terroranschlägen erklärten die USA den Krieg gegen drei Feinde: Terroristen, Migranten und Drogenhändler. Und sie riegeln den Seeweg und Luftweg für Drogen nach Florida ab. Dadurch wird die Grenze nach Mexiko wichtig. Die mexikanischen Kartelle treten auf den Plan und die internationale Arbeitsteilung der Narcos beginnt. Einige Gruppen kontrollieren den Anbau in Kolumbien, Peru und Bolivien, andere die Produktion in vielen Ländern und andere übernehmen andere Aufgaben. Ich nenne das ein globales kriminelles Netzwerk, ein transnationales Unternehmenskonglomerat. Ein Beispiel dafür ist das Sinaloa-Kartell, das in 51 Ländern der Welt an 3700 Unternehmen beteiligt ist. Das größte kolumbianische Kartell, der Golf-Clan, ist in 24 Ländern auf der ganzen Welt vertreten. Während früher Pablo Escobar oder Rodríguez Gacha alle Aktivitäten des Drogenhandels in der Hand hielten, gibt es heute Gruppen in Costa Rica und Guatemala, in Mexiko, Peru und so weiter. Was gerade in Ecuador passiert, ist nicht isoliert von all dem, sondern ein Teil davon.

In Ecuador existieren laut Regierung 22 kriminelle Gruppen, die für die Kartelle arbeiten. Wie mächtig sind sie?

Ich schätze, diese Gruppen haben 50.000 Mitglieder. Dem stehen 38.000 Soldaten und 60.000 Polizisten gegenüber. Das Verhältnis ist also etwa 1:2. Am wichtigsten ist ihr Einfluss in der Gesellschaft. Diese Gruppen sind einer der größten Arbeitgeber für junge Leute. 50.000 Menschen bekommen praktisch Gehalt von ihnen für Erpressung, für Morde, für Botendienste, Entführungen, Drogenverkauf.

Wie groß ist der Einfluss der Banden auf den Staat?

Sie unterwandern durch Korruption und Einschüchterung staatliche Institutionen. Aber wichtiger ist der ökonomische Einfluss. Der Umfang der Geldwäsche in Ecuador beträgt etwa 3,5 Milliarden US-Dollar, knapp 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Wahrscheinlich ist die ecuadorianische Wirtschaft wegen dieser Drogengelder nach der Pandemie nicht völlig abgestürzt. 3,5 Milliarden Dollar müssen in den legalen Markt investiert werden – von Luxustourismus wie Reisen nach Galapagos bis zu Autohäusern. Große Unternehmen bekommen billige Kredite – und werden damit Teil der kriminellen Strukturen. Die legale Wirtschaft ist unterwandert.

Also hat die Regierung kein Interesse daran, die Geldwäsche zu bekämpfen?

Nein, angesichts der schwachen ecuadorianischen Wirtschaft kann die Regierung sich das nicht leisten. Und das gilt für ganz Lateinamerika. Ohne die circa 400 Milliarden Dollar, die die globale Kriminalität pro Jahr zur Wirtschaft in Lateinamerika beisteuert, würden manche nationalen Ökonomien zusammenbrechen.

Präsident Daniel Noboa will das organisierte Verbrechen mit Militär besiegen. Kann das funktionieren?

Noboas Akzeptanz nach 100 Tagen Regierung war gering. Nach der Flucht von zwei Drogenbossen ist sie weiter gesunken. Also ruft er nicht nur den Ausnahmezustand aus, so wie es sein Vorgänger Lasso 22 Mal erfolglos getan hat, sondern geht weiter und erklärt den kriminellen Gruppen den Krieg. Eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt ihn. Das Parlament stellt sich einstimmig hinter ihn. Selbst Ex-Präsident Rafael Correa begrüßte seine Kriegserklärung. Noboa ist jetzt der Präsidenten der nationalen Einheit.

Da gibt es Parallelen zu anderen Ländern. Alvaro Uribe konnte sich in Kolumbien fast 20 Jahre als politischer Anführer halten – weil er diesen Kriegsdiskurs bediente. Erinnern Sie sich an die Volksabstimmung über das Friedensabkommen 2016? Die Regierung dachte, dass sie gewinnen würde, aber dann mischte sich Uribe ein und erreichte, dass die Abstimmung über den Frieden verloren ging, indem er die Kriegskarte spielte. Das ist einfach politisch profitabel.

In Ecuador wurden die Soldaten in der letzten Woche von Passanten bejubelt, wenn sie junge Männer festnahmen.

Ja, diese Stimmung breitet sich aus. Die Idee der Noboa-Regierung, Gefangene an die USA auszuliefern, spielt damit, dass es in den USA die Todesstrafe gibt, und das kommt gut an. Aktuell bringt El Salvadors Präsident, Nayib Bukele, mit seiner militarisierten Sprache 90 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Autoritäre Lösungen sind im Augenblick in Lateinamerika sehr populär. Das ist das Schlimmste: Noboas autoritäre Antwort taugt sachlich nichts. Denn nur mit Militär besiegt man die Narcos nicht. Aber sie verschafft ihm politisches Kapital.

Und was wäre eine Antwort auf globale Kriminalität?

Die Voraussetzung wäre eine lateinamerikanische Integration und damit eine eigenständige, abgestimmte Politik. Denn die Alternative ist, dass die Rolle der USA, von Internationalem Währungsfonds und Weltbank immer größer wird. Sie alle unterstützen die autoritären Politiken, noch mehr Militär, noch mehr Waffen. Leider sind die Aussichten auf eine Integration Lateinamerikas nicht gut. Der argentinische Präsident Milei wird wahrscheinlich auch noch die UNASUR, die Union Südamerikanischer Nationen, zerstören.

Es heißt, dass auch das Friedensabkommen von 2016 zwischen Regierung und FARC-Guerilla in Kolumbien die Drogenökonomie in Ecuador angeheizt hat. Stimmt das?

Ja. Im Friedensabkommen steht, dass die FARC-Guerillas abgezogen und in speziellen Gebieten untergebracht werden müssen. Auch das Militär zog ab. Und dann gab es umkämpfte Territorien. Im Fall von Nariño an der Grenze zu Ecuador konkurrierten zwölf kolumbianische kriminelle Gruppen. Die mexikanischen Kartelle Jalisco Nueva Generación und Sinaloa versuchten beide, mehr Gruppen auf ihre Seite zu ziehen. Guacho, ein Ecuadorianer, der bei den FARC aktiv gewesen war, eröffnete eine Front, die das große Geschäft mit Drogen in Ecuador eröffnete.

Europa hat die USA als Hauptkonsumentenmarkt für Kokain abgelöst, auch weil die Droge Fentanyl in den USA extrem billig ist. Gibt es noch andere Gründe?

Die Dynamik des Marktes. Ein Grund ist die Überproduktion von Kokain. Im Jahr 2021 verdoppelten Kolumbien und Peru die Produktion fast. Guatemala, Honduras und Paraguay stiegen in die Produktion ein. Deshalb sank der Preis für Kokain extrem. In Kolumbien lag er im Jahr 2020 bei 980 Dollar pro Kilo, ein Jahr später nur noch bei 200 Dollar. Deshalb ändern die kriminellen Unternehmen ihre Geschäftslogik. Sie bauen einen Konsumentenmarkt in Lateinamerika auf, der vorher praktisch nicht existierte. Und sie expandieren nach Europa. Dadurch kommen kriminelle Netzwerke aus Italien, dem Balkan und Brasilien ins Spiel. Sie heißen überall anders: Kartelle in Mexiko, Mafia in Italien, Kommandos in Brasilien. Aber es ist eine kriminelle globale Unternehmensstruktur, die ihre Zuarbeit auslagert, so wie hier nach Ecuador.

In Ecuador ist die Mordrate wegen der Drogenkriminalität und der Bandenkriege extrem gestiegen...

Es gibt in Lateinamerika den Spruch: Im Norden machen sie das Geld, und hier sterben wir dafür. Nach einer Studie der OEA, der Organisation Amerikanischer Staaten, bleibt vom Gewinn des Kokainhandels in Kolumbien ein Prozent, in den Transitländern wie Ecuador 24 Prozent und in den Konsumentenländern 75 Prozent. Das ist eine brutale Struktur mit absurden Auswüchsen. Wie die «Paradiese für Kokskonsumenten»: Wer in New York eine große Kokain-Party veranstaltet, muss für ein Kilo 120.000 Dollar zahlen. Viel Geld. Also laden sie ihre Freunde nach Montañita ein, einen angesagten Party- und Surf-Ort in Ecuador. Sie zahlen die Flüge und kaufen ein Kilo Kokain für 2000 Dollar. Am Ende haben sie viel Geld gespart. Solche Orte gibt es überall in Lateinamerika.

Wie wird es in Ecuador weitergehen?

Ich glaube, die kriminellen Gruppen werden sich erstmal zurückziehen. Denn die Konfrontation mit dem Staat ist schlecht fürs Geschäft. Ihre Angriffe werden zyklisch sein. Ich glaube, dass sie sich die Politik vornehmen werden. 2023 war ein Wahljahr und es war das gewalttätigste politische Jahr in der Geschichte Ecuadors. Bei den Kommunalwahlen töteten sie drei Bürgermeisterkandidaten, bei den Präsidentschaftswahlen einen Präsidentschaftskandidaten, einen Kandidaten fürs Parlament und sogar einen Bürgermeister. Aber das ist erst der Anfang. Am 9. Februar beginnt die Vorbereitung auf den nächsten Wahlkampf, die Parteien stellen sich auf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Anfang 2025. Kolumbien zeigt, wie die kriminellen Gruppen die Politik unterwandern. Bei den vorletzten Kommunalwahlen waren 14 Prozent der Kandidaten direkte Vertreter der kriminellen Gruppen.

Kann der Staat etwas dagegen tun?

Eines der großen Probleme, die wir haben, ist der Abbau des Staatsapparates seit 2017. Wir hatten ein Ministerium für die Koordinierung der Sicherheit, ein Innenministerium, ein Justizministerium, das für die Gefängnisse zuständig war, ein Gremium, das die Anti-Drogen-Politik definierte, und so weiter, all das wurde abgebaut. Und genau das hat Milei in Argentinien auch vor. Sie erinnern sich an das wahnsinnige Video aus dem Wahlkampf, in dem er die meisten Ministerien von einer Pinnwand abriss? Wenn er die wirklich auflöst, dann bekommen wir alle ein Problem. In der argentinischen Provinz Rosario verbinden sich Kokain produzierende Gruppen aus Bolivien und Peru mit der dort ansässigen Gruppe, die Los Monos genannt wird. Die wiederum ist mit dem Kommando in Brasilien und damit dem globalen kriminellen Netzwerk verbunden. Wenn Argentinien mit seinen 47 Millionen Einwohnern von diesen globalen Unternehmen unterwandert wird, hat das viel größere Auswirkungen als das kleine Ecuador.
 

Eine gekürzte Fassung dieses Interviews erschien am 24. Januar in der «taz – die tageszeitung».