Die Erfahrung des gequälten Leibes unter der Folter und in Auschwitz sind zentrale Bezugspunkte im Werk Jean Amérys. Es waren Essays wie An den Grenzen des Geistes und Die Tortur, in denen Améry ebendiese Erfahrungen literarisch verarbeitet, die ihn Mitte der 1960er-Jahre berühmt machten. Doch Amérys Werk umfasst auch eine Vielzahl politischer sowie philosophischer Essays. Das nun kürzlich bei Klett-Cotta erschienene Bändchen Der neue Antisemitismus enthält sieben zwischen 1969 und 1978 entstandene Essays über die Linke und den Antizionismus.
Es ist jedoch nicht die erste Sammlung dieser Art: 2021 gab Marlene Gallner bereits Jean Amérys Essays on Antisemitism, Anti-Zionism, and the Left heraus. Diese englischsprachige Sammlung enthält drei weitere Texte, darunter den wichtigen Essay Zwischen Vietnam und Israel: Das Dilemma des Engagements, den Klett-Cotta leider nicht mit aufgenommen hat. Ein Verlust, da dieser Text Amérys frühe Auseinandersetzung mit dem linken Antizionismus noch vor dem Sechstagekrieg 1967 zeigt, der in der politischen Debatte häufig als «Auslöser» des linken Antizionismus verantwortlich gemacht wird.
Lea von der Hude, Zeithistorikerin. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (mehr). Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah, Antisemitismus, Erinnerung und Gedächtnis in Deutschland und Österreich.
Diese Rezension erschien zuerst am 26.1. 2024 in der Tageszeitung Der Standard.
Aktualisierung von Judenhass
Der 1912 in Wien geborene Améry verstand sich stets als politisch linksstehend. Umso bestürzender war es für ihn als Linken und Überlebenden, nach 1945 beobachten zu müssen, wie die Linke zur stärksten Verfechterin des Antizionismus wurde. In der Mobilmachung gegen Israel erkannte Améry «die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je».
Charakteristisch für den Antizionismus ist bis heute, dass seine Verfechter sich vom Antisemitismus abzugrenzen suchen, indem sie behaupten, man habe ja nichts gegen Juden, lediglich gegen den Staat Israel. Seit jeher reklamiert die Linke den Marx’schen Imperativ für sich, wonach es gelte, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist». Eine Linke jedoch, die sich selbst nach Auschwitz noch nicht an die Seite der Juden und des jüdischen Staates stellt, wenn dieser sich gegen seine Angreifer zu verteidigen sucht, ist für Améry «eine Linke, die sich selber vergisst».
Dieser linke Moralismus, dem die Palästinenser lediglich als Strohmänner ihrer antisemitischen Regungen dienen, mache den alten Antisemitismus von einst moralisch «ehrbar». Was der ehrbare Antisemit fordere, sei schließlich nicht die Vernichtung von Juden, sondern lediglich die Zerstörung eines Staates. Dass die Zerstörung eines explizit jüdischen Staates die erneute millionenfache Vernichtung seiner jüdischen Bewohner bedeuten würde, liegt auf der Hand. Dabei verspricht der Antizionismus auch die scheinbare Entlastung von der großen historischen Schuld der Shoah, so Améry: «Die Millionen jüdischer Brandopfer (...) sind abbezahlt. Nun mögen diese ewigen sich doch ruhig verhalten, man hat andere Sorgen. (...) und die Welt wird, gleich Pontius Pilatus, ihre Hände in Unschuld waschen. Der Antisemitismus im Kleide des Anti-Zionismus wurde ehrbar.»
Keine Frage der Wahl
Aus Amérys Essays geht nur allzu deutlich hervor, dass die «existenzielle Bindung» an den Staat Israel nach Auschwitz auch für ihn in der Diaspora keine Frage der Wahl, sondern eine pure «Sache der Existenz» ist: «Der aufrechte Gang jener ist nicht möglich ohne die Existenz dieser.» Unklar bleibt vor diesem Hintergrund eine Passage des von Klett-Cotta verfassten Klappentextes, in der es heißt, «seine Solidarität ist jedoch nicht bedingungslos». In seinen Texten kritisierte Améry immer wieder israelische Regierungsmaßnahmen, Kritik an Realpolitik war jedoch nie etwas, das seine existenzielle Bindung an Israel hätte beeinflussen können. Die «Aufkündigung des Solidaritätspaktes ist a priori auszuschließen» schreibt er 1978.
Améry skizziert in seinen Essays mit der ihm eigenen Nachdrücklichkeit die existenzielle Bedeutung Israels nach Auschwitz. Angesichts der barbarischen Angriffe der islamistischen Terrormiliz Hamas vom 7. Oktober 2023 und einer internationalen Linken, die die antisemitischen Mörder noch zu Befreiungskämpfern und Revolutionären stilisiert, ist Amérys Urteil von vor 46 Jahren aktueller denn je: Eine solche «Linke, die sich selber vergisst», zeigt einmal mehr, dass die Existenz des jüdischen Staates für die Sicherheit aller Juden nicht verhandelbar ist.