Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - Osteuropa Serbien: Der Anschein von Demokratie

Präsident Vučić dominiert das politische Geschehen, der Westen lässt ihn gewähren

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Lily Lynch ,

Präsident Aleksandar Vučić bei der Stimmabgabe (17.12.2023). Bild: IMAGO / Xinhua

Nach den Wahlen in Serbien vom 17. Dezember 2023 wirkte die Pressekonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wie eine Beerdigung. Eine Reihe ernst dreinblickender Amtspersonen verlas eine Liste der Unregelmäßigkeiten, die bei den Wahlen beobachtet worden waren, und davon gab es reichlich. Bereits in den vergangenen Jahren erinnerten Wahlen in Serbien an Nikolai Gogols «Tote Seelen», angesichts der Stimmen, die von längst verstorbenen Wähler*innen abgegeben wurden, und anderen Fällen von Wahlbetrug. Doch dieses Mal waren die Ausmaße andere. Die OSZE kam zu dem Schluss, dass die Wahl in einem Klima der Einschüchterung durchgeführt worden sei, mit Gewalt, gekauften Stimmen, fragwürdigen Wahlregistern, Mehrfachstimmabgabe, Druck auf Staatsangestellte und «mehrfachen Anschuldigungen», es seien massenhaft Menschen aus dem benachbarten Bosnien mit Bussen herangekarrt worden, um für die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić zu stimmen.

Lily Lynch ist Chefredakteurin des Magazins «Balkanist».

Selbst unter Berücksichtigung der betrügerischen Praktiken fuhr die Partei auf Landesebene mit 47 Prozent der Stimmen einen überzeugenden Sieg ein, während der liberale Oppositionsblock Serbien gegen Gewalt (SPN) mit knapp 24 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz landete. Die SNS dürfte von den 250 Sitzen im Parlament die absolute Mehrheit erhalten: mit 147 Sitzen und nur 63 für SPN. Zwar behauptet die Opposition, die Ergebnisse hätten anders ausgesehen, wenn die Medienlandschaft nicht so stark von der Regierung dominiert würde; dennoch übertraf Vučić alle Erwartungen. In den meisten Fällen scheinen die Wahlmanipulationen das Endergebnis nicht signifikant geändert, sondern sein Mandat lediglich gestärkt zu haben. Eine wichtige Ausnahme jedoch stellte die Wahl der Stadtversammlung von Belgrad dar, bei der in 14 Prozent aller Wahllokale Unregelmäßigkeiten beobachtet wurden. SPN ist überzeugt, der eigentliche Wahlsieger in der Hauptstadt zu sein.

Das Bündnis SPN war aus den Massenprotesten in Reaktion auf zwei unmittelbar aufeinander folgende Amokläufe im Mai 2023 hervorgegangen. Die Demonstrierenden machten für die Morde eine Kultur der Gewalt- und Kriminalitätsverherrlichung verantwortlich, die sie in der imposanten Gestalt von Vučić verkörpert sehen. Der Präsident soll enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen unterhalten, von denen einige bis in die Unterwelt der Kriegszeit der 1990er Jahre zurückreichen. Damals war Vučić Informationsminister unter Milosević und für seine Skrupellosigkeit im Umgang mit Medien und Regierungskritiker*innen bekannt – ein Ruf, den er sich bis heute bewahrt hat.

Vučić dominiert das politische Geschehen in seinem Land und präsentiert sich als Garant für Stabilität und Kämpfer für die Interessen Serbiens in einer feindlich gesinnten Region. Seit seine Partei 2012 an die Macht kam, brachte er die Sicherheitsbehörden des Landes vollständig unter seine Kontrolle und trieb eine Boulevardisierung der Medien voran, die er für Kampagnen gegen seine Kritiker*innen benutzt. Im Vorfeld der letzten Wahl war aus der Wohnung eines SPN-Mitglieds ein Computer gestohlen worden, auf dem sich ein privates Sexvideo befand, und in der Woche vor der Wahl strahlten die regierungstreuen Sender die eindeutigen Szenen im Frühstücksfernsehen aus.

Eine neue «Farbenrevolution»?

Das Bündnis SPN besteht aus mehreren Parteien und politischen Gruppen, darunter die Grün-Linke Front, die nominell mitte-links verortete Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die liberale Bewegung Freier Bürger und die konservative Serbische Volksbewegung. Der Wahlkampf konzentrierte sich auf Korruption, die Repression gegen Politik und Medien sowie Umweltprobleme.

In der Außenpolitik versuchte sich die liberale Opposition klar vom Kurs der Regierung abzugrenzen. Während Vučić einen bewusst ambivalenten Kurs fährt – Zusicherung militärischer Neutralität sowie Aufrechterhaltung der Beziehungen sowohl zu Russland als auch zum Westen –, kritisierte SPN die Regierung dafür, sich den EU-Sanktionen gegen Moskau nicht angeschlossen zu haben. Vielleicht mit Blick auf seine wichtigste Unterstützergruppe, die gebildete, urbane Mittelklasse, konzentrierte sich das Oppositionsbündnis in seinem Wahlkampf nicht auf die rasante Inflation der Lebensmittelpreise, die in Serbien derzeit die zweithöchste in Europa ist. Vučićs Unterstützer*innen hingegen kommen eher aus ländlichen Gebieten, sind konservativ und gehören der Arbeiterklasse an.

Die Proteste gegen die Wahlergebnisse begannen bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale, als das SPN-Bündnis die Wahlkommission aufforderte, die Ergebnisse in Belgrad für ungültig zu erklären. Eine Woche später kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, nachdem im Gebäude der Stadtversammlung ein Fenster eingeworfen worden war; mindestens 38 Protestierende wurden festgenommen. Seitdem blockieren Studierende einige der Hauptverkehrsadern von Belgrad mit Zelten auf den Straßen. Am Nachmittag des 30. Dezember versammelten sich Zehntausende Protestierende im Stadtzentrum, um die Reden der jungen Künstler- und Intellektuellengruppe ProGlas zu hören, die eine Demokratiereform fordert. (Der Name ist ein Wortspiel, das sowohl «Proklamation» als auch «pro Wählen» bedeutet.) Ein Mensch schwenkte eine verblasste, abgenutzte EU-Flagge, die er bereits bei den Anti-Milosević-Demonstrationen der 1990er Jahre getragen hatte. Anwesend war auch eine sichtlich geschwächte Marinika Tepić, eine der SPN-Führungsfiguren, die nach der Wahl in einen Hungerstreik getreten war. Nachdem das Hauptanliegen der Proteste zunächst die hart umkämpfte Belgrader Kommunalwahl gewesen war, fordert SPN jetzt eine Annullierung sämtlicher Wahlen auf kommunaler wie nationaler Ebene.

Auf beiden Seiten des politischen Grabens werden Parallelen zur «Farbenrevolution» gezogen, die seinerzeit Milosević gestürzt hatte. Vertreter*innen Serbiens und Russlands warfen dem Westen vor, einen «Serbischen Maidan» anzustreben – ein Slogan, den sich einige der Protestierenden daraufhin auf ihre Transparente schrieben. Der russische Botschafter, Alexander Bozan-Chartschenko, äußerte gegenüber der Presse, Serbien werde ins Visier genommen, weil es keine Sanktionen gegen Russland verhängen wolle. Oberflächlich betrachtet ähneln die Unruhen früheren Farbenrevolutionen insofern, als sie zwei Gruppen gegeneinander ausspielen: eine äußerlich pro-westliche Fraktion und eine eher auf Russland orientierte (wenn auch nicht ausschließlich). Doch das fehlende Element ist entgegen Vučićs offiziellem Narrativ eine starke politische, finanzielle sowie logistische Unterstützung der Opposition durch den Westen.

Für viele Serb*innen ist das von besonderer Bedeutung, seit die USA im Jahr 2000 eine so übergroße Rolle dabei gespielt hatten, das Blatt gegen das Regime Slobodan Milosevićs zu wenden. In den Monaten vor seinem Sturz investierte Washington 80 Millionen US-Dollar in sogenannte «demokratiefördernde Initiativen» und leistete der Opposition immense logistische Unterstützung. Damals versprach der Westen Serbien eine leuchtende demokratische Zukunft. Jetzt spiegelt sich in Vučićs anhaltender Macht wider, wie sehr sich die Welt seit der Jahrtausendwende verändert hat. Westliche Regierungen finanzieren zwar noch Nichtregierungsorganisationen für die Wahlbeobachtung, halten sich aber mit Kritik am jüngsten Urnengang oder dem Präsidenten selbst weitgehend zurück. US-Botschafter Christopher Hill wird in der Region als allzu entgegenkommend gegenüber der derzeitigen serbischen Regierung wahrgenommen. Kurz nach der Wahl ließ er verlautbaren, dass er sich «wirklich darauf freut», die Zusammenarbeit mit dem Amtsinhaber fortzusetzen, und kritisierte die Protestierenden wegen angeblicher Gewalttätigkeit. Er sagte, um mögliche Unstimmigkeiten bei den Wahlen sollten sich Serbiens eigene Behörden kümmern. Dies ist kein Maidan. Diesmal wird keine «Demokratie-Kavallerie» zur Rettung eilen.

Vučićs Balanceakt zwischen Washington und Moskau

Zum Teil liegt das daran, dass Vučić seine Wahlschikanen und die Angebote an Moskau mit Aktionen aufwiegt, die dem Westen gefallen sollen. Hier lässt sich eine Kluft zwischen Politik und Medienmeinung erkennen. Die Redaktionen des Guardian sowie der Washington Post veröffentlichten vernichtende Anklagen gegen Vučić, in denen sie das heutige Serbien einen «Lehrbuchfall von Staatsübernahme durch private Interessengruppen» nennen und die Wahlen als gefälscht ablehnen. Die aktuelle Strategie der Vereinigten Staaten bezeichnen sie als Appeasement und fordern einen neuen Ansatz, wobei sie eine Annäherung von Belgrad an Moskau andeuten. Allerdings halten sie sich verdächtig bedeckt, was Vučićs fortgesetzte Kooperation mit der NATO angeht, darunter auch eine erst Ende November abgehaltene gemeinsame Pressekonferenz mit Jens Stoltenberg. Serbien hat unter Vučić an mehr Militärübungen mit dem Atlantikbündnis teilgenommen als mit Russland. Auch befeuert durch die Regenbogenpresse, bleibt der Vorwurf westlicher Putschpläne nach wie vor fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses im Land; doch in Vučićs Serbien liefen stets auch leisere, westlich orientierte Aktionen im Schatten der populistischen, pro-russischen Rhetorik ab.

Selbst als Vučić Washington und Brüssel vorwarf, Massenproteste gegen ihn zu schüren, signalisierte er gleichzeitig, dass er weiterhin mitspielen würde. Am 25. Dezember, einen Tag nachdem Dutzende Demonstrierende festgenommen worden waren und die Wut über die Wahl ihren Höhepunkt erreicht hatte, verkündete seine Regierung, von nun an kosovarische Nummernschilder in Serbien zuzulassen: ein kontroverser Schritt, auf den der Westen schon lange gedrängt hatte. Die EU lobte die Entscheidung als Zeichen des «Fortschritts», das angeblich für Vučićs Bereitschaft stehe, das Kosovoproblem lösen zu wollen – ein Thema, zu dem das SPN-Bündnis intern gespalten und oft auffallend schweigsam ist.

Dass sich das Verhalten der USA in naher Zukunft signifikant ändern wird, ist unwahrscheinlich. Angesichts der vielen Kriege und geopolitischen Krisen, in die Washington zurzeit verwickelt ist, sind Wahltricks in Serbien ein vergleichsweise geringes Problem. Liberaler Interventionismus und ausgeprägte Demokratieförderung in den Balkanländern erscheinen nun als ein Luxus des unipolaren Moments. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen in den USA steht zu vermuten, dass ein Sieg Trumps noch freundlichere Beziehungen zwischen den beiden Ländern einläuten könnte. Die Trump-Regierung hatte keinen Hehl aus ihrer Antipathie gegen Kosovos Ministerpräsidenten Albin Kurti gemacht, und Vučić hofft zweifellos darauf, dass ein republikanisch geführtes Weißes Haus seinem Land in den langwierigen Verhandlungen mit Pristina die Oberhand verschaffen wird.

Ebenfalls unwahrscheinlich ist, dass die Krise im Nachgang der Wahl eine unmittelbare politische Veränderung in Serbien bewirken wird. Die Opposition hat kaum eine Chance, tatsächlich Neuwahlen durchzusetzen. SPN gab zwar bekannt, die regulären Protestaktionen wöchentlich fortzusetzen, und Demonstrationen mit Straßenblockaden gehören inzwischen in Belgrad zum Alltag. Doch ohne einen mächtigen westlichen Schutzpatron hat solcher Aktivismus hauptsächlich therapeutische Wirkung. Das Ausmaß der Proteste ist über die Weihnachtsfeiertage bereits zurückgegangen. Selbst das am ehesten erreichbare Ziel der Opposition, eine Neuwahl der Stadtversammlung, erscheint von Woche zu Woche weniger wahrscheinlich. Sollte diese doch noch zustande kommen, könnte dabei das Beste für alle Beteiligten herausspringen: Eine siegreiche Opposition könnte sich legitimieren, indem sie auf kommunaler Ebene regiert, Vučić könnte weiterhin behaupten, Serbien sei eine Demokratie, und der Westen könnte weiterhin den Anschein vermitteln, eine solche zu unterstützen.

Deutsche Erstveröffentlichung des Textes «Democratic Pretence», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von Cornelia Röser und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.