Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Kapitalismusanalyse - Gesellschaftstheorie Ein politischer Aktivist, der Geschichte schrieb

E.P. Thompson (1924 – 1993) und seine erstaunlich aktuellen Überlegungen zu Dynamiken der Klassenformierung

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Edward P. Thompson bei einer Rede zu atomarer Abrüstung in London, 2. September 1981
Edward P. Thompson bei einer Rede zu atomarer Abrüstung in London, 2. September 1981 Foto: IMAGO / United Archives International

Activist-as-historian – so charakterisierte der Historiker Eric Hobsbawm seinen Kollegen Edward Palmer Thompson.[1] Teils anerkennend, teils mit der kritischen Distanz, die diese beiden prominenten Vertreter der «British Marxist Historians» zeitlebens verband, beschrieb er Thompson als «kraftvollen, manchmal besessenen Forscher mit erstklassigem Intellekt», als intuitiven Dichter, als Verfasser brillanter Polemiken und als Prima Donna. Er habe über «the looks, the voice, the presence, the brains, and the charm» verfügt, sei leidenschaftlich und witzig gewesen und völlig frei von jedem Sinn für (akademische) Karriere oder institutionelle Loyalität («nobody was less of an organization man»). Seine «spektakuläre Unfähigkeit», bei Schriften Längenvorgaben einzuhalten, sei legendär: Das mehr als achthundertseitige Hauptwerk (The Making of the English Working Class) sollte eigentlich die Einleitung zu einem kompakten Handbuch werden – doch auch dies, so Hobsbawm, «fortunately, got out of hand». Thompson habe seinen Garten geliebt und von Utopia geträumt. Seine politischen Projekte – von der Kommunistischen Partei, die er 1956 (anders als Hobsbawm) verließ, über die Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung der 1980er Jahre, deren führender Repräsentant er in Großbritannien war, bis hin zu den wiederholten Versuchen, eine politische Kraft links der Labour-Party zu etablieren – seien sämtlich erfolglos gewesen. Aber sie inspirierten ihn zu Büchern, die Thompson zu einem der einflussreichsten und umstrittensten Historiker seiner Zeit und zu einer zentralen Gestalt der Linken gemacht hätten. «Nobody who has read him will forget him». 

Politischer Einfluss statt akademischer Meriten

E.P. Thompson wurde 1924 als Sohn eines methodistischen Missionarspaares geboren, das in Indien für die Unabhängigkeitsbewegung aktiv war. Nach der Rückkehr nach England (der Vater wurde Dozent für Bengali in Oxford), startete Edward (anders als sein Bruder Frank, der im Zweiten Weltkrieg die Unterstützung bulgarischer Partisanen als britischer Verbindungsoffizier mit dem Leben bezahlte) nicht in eine steile bildungsbürgerliche Karriere. Statt auf eine renommierte public school wurde er auf eine methodistische Schule geschickt, wo er umgehend in die politische Agitation einstieg. Er studierte ein Jahr an einem (nach Hobsbawms Einschätzung, dem ein gewisser akademischer Snobismus nicht fremd war) mittelmäßigen, konservativen College (Corpus Christi) in Cambridge, wo er Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und, nach Unterbrechung durch den Militärdienst, 1942 bis 1945, schnell einen vorzeitigen Abschluss erwarb, um Zeit für freie Lektüre zu haben. 1946 gründete Thompson zusammen mit Christopher Hill, Eric Hobsbawm und anderen die Communist Party Historians Group, die ab 1952 die einflussreiche sozialhistorische Zeitschrift Past & Present herausgab, aus deren Umfeld wiederum die von Perry Anderson u.a. edierte New Left Review hervorging. Anstatt das prestigereiche akademische Hamsterrad zu besteigen, entschied Thompson sich dafür, nach einem kurzen Solidaritätsarbeitseinsatz in Titos Jugoslawien in der Erwachsenenbildung tätig zu werden: Abendkurse für Arbeiter*innen und politische Aktivitäten, die ihn (wie Hobsbawm süffisant bemerkt) von Geschichte und Theorie ablenkten, schienen Thompson offenbar attraktiver als der gepflegte Austausch mit (angehenden) Oxbridge-Dons. Siebzehn Jahre lang arbeitete Thompson, der 1948 seine Genossin Dorothy (später selbst eine prominente Historikerin) geheiratet und mit ihr drei Kinder hatte, in der «dritten Reihe» des akademischen Kosmos, als staff tutor für Geschichte und Literatur in Yorkshire. Es folgten (ab 1965) sieben Jahre, in denen er das Centre for the Study of Social History an der jungen Universität Warwick etablierte. Doch Thompson verließ die Position mit 48 Jahren, um seiner Frau eine akademische Laufbahn zu ermöglichen – und um als freier Schriftsteller konsequenter seinen politischen und intellektuellen Interessen nachgehen zu können.

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen.

Richard Detje ist Mitarbeiter des Forums Gewerkschaften und Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die arbeitende Klasse, die sich selbst erschafft: Lehren für die Gegenwart 

Politik und Wissenschaft gehörten für E.P. Thompson untrennbar zusammen. Dies belegt auch sein viel diskutiertes, heftig kritisiertes und im wörtlichen Sinne global rezipiertes Werk The Making of the English Working Class, laut Hobsbawm Ausdruck von deep passion und commitment to a cause. Doch was Leser*innen bis heute fasziniert, löste beim historischen Establishment einiges Naserümpfen aus. Bemerkenswert an diesem Buch, das 1963 erschien und die Periode von 1790 bis 1830 behandelt, ist vor allem seine Aktualität. Wer sich für Prozesse von Klassenformierung heute interessiert, findet hier vielfältige substanzielle Anregungen. Zwar betrachtet Thompson eine ganz spezifische, weit zurückliegende Konstellation: Die Entwicklung Englands in einer Phase, in der sich die kapitalistische Logik der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft mit Macht verbreitete, in der – im Zeichen von Freihandel und beschleunigter Anhäufung ökonomischen Kapitals – diese neue Form von Ausbeutung für immer mehr Menschen direkter spürbar wurde, seit sie ihres Gemeinschaftseigentums (etwa an Land) und ihrer Gewohnheitsrechte beraubt worden waren. Eine Phase, in der (im Gefolge der Französischen Revolution von 1789) auch jenseits des Ärmelkanals ein Regime der Repression wütete; Gefängnis oder Deportation nach Australien waren oft der Preis für politisches oder soziales Engagement. Zugleich skizziert Thompson jedoch einen fruchtbaren Weg, wie man sich einer arbeitenden Klasse, die permanent «in the making ist», analytisch annähern kann. Der Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital, den wir in Klassenstrukturen (wie Bourdieu später sagte: «auf dem Papier») nachzeichnen können, ist das Strukturmerkmal der neuen Gesellschaft, die damals entstand und uns bis heute begleitet – doch es schlägt sich in ganz unterschiedlichen Dynamiken von Klassenformierung nieder, die zunehmende Spaltung oder Solidarisierung beinhalten können. Dies wirft Fragen an unsere eigene Gegenwart auf, in der die Existenz und Brutalität der Klassengesellschaft, die speziell in der Bundesrepublik viele Jahrzehnte lang als überwunden galt, nicht länger zu leugnen ist.

Die da oben – wir hier unten

Wenn um 1800 Handwerker, landlose Tagelöhner*innen, Männer und Frauen in Heimarbeit, die Bewohner*innen von Städten und Dörfern, Beschäftigte von ersten Fabriken, Bergleute und Putzmacherinnen zu der Einsicht gelangen konnten, dass sie Teil einer, wenn auch in sich differenzierten, arbeitenden Klasse waren, so resultierte dies aus «gemeinsamen Erfahrungen», die dazu betrugen, dass Menschen «die Übereinstimmung ihrer Interessen untereinander» wahrnahmen, die sich von denen anderer Menschen unterschieden und meist sogar in Gegensatz dazu standen.[2] Warum sollten wir heute, in einer Situation, in der (etwa in Deutschland) ca. 90 Prozent der Erwerbstätigen (lohn-)abhängig Beschäftigte sind, nicht ebenfalls von einer arbeitenden Klasse ausgehen? Zwischen wem besteht eine solche «Interessenübereinstimmung» (identity of interests), woran machen sich Gefühle gemeinsamer Betroffenheit fest, und wie kann dieses «Wir» erweitert werden? Immerhin verorten sich viele Beschäftigte aktuellen Studien zufolge im gesellschaftlichen «Unten» und haben wenig Zweifel daran, dass ihnen in Gestalt von «Wirtschaft» und «Politik» andere, mächtige Interessen gegenüberstehen. Muss dies notwendig zu Demobilisierung und Rechtsruck führen? Thompson zeichnet ein anderes Bild.

Klassenformierung als Prozess

Wenn es zutrifft, dass «Klasse» ein soziales Verhältnis ist, das von Menschen gemacht wird, indem sie ihre eigene Geschichte leben, kann man Verschiebungen in ökonomischen Strukturen, sozialen Beziehungen und in den Köpfen nur über längere Zeit hinweg wahrnehmen. Jedes «Anhalten der Geschichte» führt dazu, so Thompson, dass nur noch Individuen mit vielfältigsten Erfahrungen sichtbar sind, aber nicht jene Muster in deren Beziehungen, Ideen und Institutionen, die Klasse letztlich ausmachen.[3] Entsprechend kommt es auch heute darauf an, Veränderungen der (Arbeits‑)Welt möglichst genau zu untersuchen: Welche Erfahrungen verbreiten sich, wenn immer mehr Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen (müssen), um die eigene Existenz zu sichern, wenn sie dabei fremden Reichtum mehren und in vielen Teilen der Arbeitswelt immer weniger Einfluss darauf haben, unter welchen Bedingungen sie dies tun? Welche Spaltungslinien durchziehen heute die arbeitende Klasse – und inwiefern können solche Unterschiede an Bedeutung verlieren, etwa weil sich die Arbeits- und Lebensbedingungen von Männern und Frauen (die einen immer größeren Teil ihres Lebens in Erwerbsarbeit verbringen) oder von Arbeiter*innen und Angestellten (deren Tätigkeiten sich als deutlich anfälliger für Rationalisierung erweisen als angenommen) im Zeitverlauf ähnlicher werden?

Von der «guten alten Zeit» zur besseren Zukunft: Arbeitende zwischen sozialem Konservatismus und utopischem Potential

Wenn Klassenformierung schließlich etwas mit «moralischer Ökonomie» zu tun hat, also mit eigensinnigen Vorstellungen von Arbeitenden darüber, wie Wirtschaft, Politik und Gesellschaft «eigentlich» organisiert sein sollten – dann liegt es nahe, in den Auseinandersetzungen unserer Zeit nach Ansatzpunkten für ein solches Aufbegehren zu suchen. Laut Thompson speist es sich nicht zuletzt daraus, dass man sich selektiv an die Vergangenheit erinnert, jene Aspekte verabsolutiert, die den eigenen Interessen entsprechen, und letztlich in der Überzeugung, frühere Standards zu verteidigen (die es real so nicht gegeben haben muss), utopische Energien entfaltet. Finden sich Hinweise auf eine solche «moralische Ökonomie» etwa in der Bewertung des «Normalarbeitsverhältnisses» (NAV)? Dieses war schon um 1985, als der Begriff erstmals verwendet wurde, in Erosion begriffen, es war nicht «selbstverständlich», sondern in langen Kämpfen erstritten worden, und es war alles Andere als «normal», denn viele Frauen und Migrant*innen hatten selbst in der Nachkriegszeit kaum Zugang zu dieser spezifischen Form politisch regulierter Lohnarbeit. Und doch markiert das NAV bis heute den Maßstab für gute, ordentliche, würdevolle Arbeit – daran konnten selbst vier Jahrzehnte neoliberaler Attacken auf dessen angeblich diskriminierende Wirkung und mangelnde Flexibilität wenig ändern. Als sich arbeitende Menschen im 18. Jahrhundert nach Missernten zur crowd formierten, den Schutz einer «gerechten Herrschaft» einforderten und Kornspeicher plünderten, bezogen sie sich auf «die gute alte Zeit», erhoben aber faktisch Anspruch auf eine bessere Zukunft. In ganz ähnlicher Weise mag heute die Forderung nach einer neuen «Normalarbeitszeit» wirken: Sie kommt konservativ daher, weil der Begriff an die 1950er Jahre erinnert. Sie erhält Schwung aus der moralischen Empörung von Menschen, deren Arbeitszeiten immer weniger zum Leben passen, weil sie entweder viel zu lang sind (wie im Falle vollzeitbeschäftigter Männer, die exzessiv Überstunden leisten) oder viel zu kurz (weil viele Frauen unfreiwillig in Teilzeit- oder gar Minijobs feststecken, seitdem es in manchen Branchen, wie dem Einzelhandel, kaum mehr Vollzeitarbeitsplätze gibt). Und sie kann als Basis für emanzipatorische, verbindende Klassenpolitik dienen, weil «kurze Vollzeit für alle» nicht nur sehr unterschiedliche Beschäftigtengruppen von ihrer identity of interests überzeugen dürfte, sondern in Verbindung mit Lohn- und Personalausgleich zu einer Neuverteilung von gesellschaftlicher Zeit und gesellschaftlichem Reichtum führen würde. Damit wird der Gegnerbezug sehr schnell deutlich.

Was würde Thompson dazu sagen?

Ist es legitim, eine historische Schrift auf diese Weise zu nutzen, um neue Perspektiven auf Dynamiken und Auseinandersetzungen der eigenen Gegenwart zu entwickeln? Für E.P. Thompson, den streitbaren Chronisten der Geschichte kleiner Leute und ihrer Kämpfe, wäre dies wohl das schönste Geschenk zum 100. Geburtstag. Die arbeitende Klasse ist stets schon da, wenn sie entsteht, würde der Jubilar uns polternd erinnern. Also: Erforscht sie und tretet für sie ein.
 

Wir danken Florian Weis für weiterführende Hinweise.


[1] Eric Hobsbawm: In Memoriam E.P. Thompson (1924-1993), in: International Labor and Working-Class History, Fall, 1994, No. 46, 2-6.

[2] «Class happens, when some men, as a result of common experiences (inherited or shared) feel and articulate the identity of their interests as between themselves, and as against other men whose interests are different from (and usually opposed to) theirs.» (E.P. Thompson: The Making of the English Working Class, London 1963, S. 9)

[3] «If we history at a given point, then there are no classes, but simply a multitude of individuals with a multitude of experiences. But if we watch these men over an adequate period of social change, we observe patterns in their relationships, their ideas, and their institutions.» (Thompson 1963, 10).

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