Das Scheitern des rechten Verfassungsentwurfs im Dezember 2023 zeugt von einer Pattsituation, in der keines der politischen Lager sein Programm durchsetzen kann. Für die nächste Phase ist es notwendig, eine politische Kraft zu schaffen, die vereint vorgeht.
von Franck Gaudichaud und Pablo Abufom
Zum zweiten Mal innerhalb von etwas mehr als einem Jahr stimmten die Chilen*innen am 17. Dezember 2023 über einen neuen Verfassungswurf ab, der das Ende der während der Diktatur von Augusto Pinochet im Jahr 1980 erlassenen Verfassung bedeutet hätte: «Dafür» oder «Dagegen»? Das Referendum fand vier Jahre nach der großen Sozialrevolte von 2019 statt, welche die neoliberale Hegemonie erschüttert hatte, die seit fünf Jahrzehnten in dem Andenland herrscht. Es fand zugleich zwei Jahre nach der Wahl von Gabriel Boric statt, dem jungen Präsidenten der progressiven Linken.
Den langen - inzwischen gescheiterten - Weg Chiles zu einer Verfassungsreform haben wir in unserem Dossier Eine neue Verfassung für Chile begleitet.
Im Gegensatz zu dem anti-neoliberalen Verfassungsentwurf von 2022 wurde der Text, über den die Chilen*innen im Dezember 2023 abstimmten, im Verfassungsrat von einer rechtsextremen Mehrheit unter Führung der Republikanischen Partei ausgearbeitet, die das politische Regime der Verfassung von 1980 weiter verschärfen und die sozialen Rechte einschränken wollte.
Im Wahlergebnis spiegeln sich die sozialen Klassen
55,8% lehnten den neuen Verfassungstext ab, wobei 15% der Wähler*innen trotz Wahlpflicht nicht an die Urnen gingen. Einmal mehr waren die Wahlentscheidungen in der Hauptstadt und im Rest des Landes von der sozialen Klasse der Wähler*innen abhängig. Während die drei reichsten Gemeinden des Landes für den Entwurf stimmten, sprachen sich die ärmeren Gemeinden im Süden und Westen der Hauptstadt mit über 60%, manchmal sogar 70%, dagegen aus. Nur zwei Regionen stimmten mehrheitlich für das rechte Verfassungsprojekt. Dennoch haben das Großkapital und seine Medien mehr als 130 Millionen Pesos in die Kampagne investiert, um einen Verfassungsentwurf zu verteidigen, der jegliche Gesetzgebung zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verunmöglicht hätte, das kapitalgedeckte Rentensystem schützte, die Kommerzialisierung von Wasser, Bildung und Gesundheit verfestigt hätte und gleichzeitig das Verbot branchenweiter Tarifverhandlungen vorsah, während er eines der reaktionärsten Streikrechte Lateinamerikas eingeführt hätte.
Eine Niederlage für die rechtsextreme Partei von Antonio Kast
Der zweite Reformanlauf stand zudem unter viel stärkerer Kontrolle der Parteien und des Parlaments und stützte sich auf «technische Zulässigkeitsausschüsse» und «Expertenkommissionen». Die im März 2023 gewählten 50 Mitglieder des Verfassungsrates wurden von einer relativen Mehrheit der Republikanischen Partei von José Antonio Kast angeführt. Es handelt sich um eine neue extreme Rechte, die in den letzten drei Jahren erstarkt ist. Mit einem offen rassistischen, anti-migrantischen, patriarchalen Law-and-Order-Diskurs haben sie sich als politische Kraft einer «Rückkehr zur Ordnung» gegen den sozialen Aufstand vom Oktober 2019, gegen die starke feministische Bewegung und gegen die Regierung Boric positioniert.
Mit dem Ergebnis des zweiten Referendums erlitt die Republikanische Partei eine deutliche Niederlage. Insbesondere, weil sich Kast bereits als Präsidentschaftskandidat mit realistischen Siegeschancen bei den Wahlen 2025 verstand. Die Stimmung ist angespannt zwischen der konservativ-neoliberalen traditionellen Rechten (Chile Vamos) um Figuren wie Evelyn Matthei (UDI) und der Führungsriege der Republikanischen Partei. So schiebt man sich gegenseitig die Schuld für die verlorene Verfassungsabstimmung zu. Es zeigen sich auch Streitigkeiten innerhalb der extremen Rechten, wo einige führende Persönlichkeiten wie etwa der wirtschaftslibertäre Autor Axel Kaiser versuchen, eine «libertäre Partei» zu schaffen, die noch radikaler sein will als Kast und sich am Modell von Javier Milei in Argentinien orientiert. Diese Unterschiede und Spannungen innerhalb des rechten Lagers dürften in den kommenden Monaten an Bedeutung gewinnen und eine mögliche politische Chance für die soziale und politische Linke eröffnen.
Eine Regierung ohne Initiative, ein Progressivismus ohne Reformen
In der Nacht nach dem Ergebnis sprach Präsident Boric erneut von nationaler Verständigung und bestätigte, dass der Prozess für eine neue Verfassung nach den beiden gescheiterten Referenden zu einem Ende gekommen sei. Die «drängenden sozialen Fragen» lägen nun anderswo. Anstatt diese Wahlniederlage der Rechten zu nutzen, hielt der junge Präsident eine selbstgeißelnde Rede über den vermeintlichen «Radikalismus» des ersten Verfassungsentwurfs, und lehnte jegliche «Polarisierung» des Landes ab.
Mehrere Mitglieder der Regierung erkennen an, dass dieses Ergebnis ein wenig «frischen Wind» in eine Exekutive bringt, die sich von Beginn an durch eine schwach ausgeprägte Fähigkeit zur Veränderung und zögerliche und widersprüchliche Reformen ausgezeichnet hat. Was die Regierung Boric vor allem kennzeichnet, ist ihr absoluter Unwille, in Konflikt mit den herrschenden Gesellschaftsschichten zu treten. Sie versucht nicht einmal, die breite Mehrheit der Bevölkerung «von unten» zu mobilisieren, während sie, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei, über keine wirkliche Verbindung zu den Arbeiter*innen und Ärmsten der Gesellschaft verfügt.
Weil Boric über keine parlamentarische Mehrheit verfügt, in der Logik des Parlamentarismus und der Verwaltung des Staatsapparats verhaftet ist und seine Steuerreform nicht durchsetzen konnte, ist er zunehmend auf die Sozialistische Partei und ihre Verbündeten angewiesen. Jene, die die neoliberale Politik seit 1990 mitgetragen haben, haben sich nun Einfluss im Regierungssitz La Moneda verschafft. Inmitten eines Korruptionsskandals (Caso Convenios) und unter dem Dauerbeschuss der kapitalistischen Medienmonopole, die die öffentliche Debatte auf Drogenhandel, Unsicherheit und Ablehnung von Migrant*innen einengen, ist die Regierung eher dazu verurteilt, die politische Tagesordnung leidend zu ertragen, als dass sie sie aktiv vorantreiben würde.
Entsprechend dieser Entwicklung und trotz des Protests vieler aufrichtiger Aktivist*innen oder der Kritik politischer Führungskräfte wie des kommunistischen Bürgermeisters Daniel Jadue hat die Regierung das Mapuche-Gebiet, bekannt als Wallmapu, weiter militarisiert und stellt sich schützend vor die Carabineros und die Verantwortlichen für die Repression im Oktober 2019. Gleichzeitig hat sie Gesetze eingebracht, die die Kämpfe für das Recht auf Wohnen kriminalisieren. Die Präsenz linker Personen wie der Ministerin und Regierungssprecherin Camila Vallejo ändert nichts an dieser allgemeinen Ausrichtung, die auch die Basis des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei demobilisiert.
Ein neuer politischer Zyklus und Perspektiven für die sozialen Bewegungen
Das Ergebnis des zweiten Referendums stellt unweigerlich das Ende eines politischen Zyklus dar. Paradoxerweise lassen sich Kontinuitäten zum Referendum von 2021 und sogar zur sozialen Revolte vom Oktober 2019 aufzeigen. Ganz offensichtlich begleiten uns die Hegemoniekrise, die Ablehnung der politischen «Elite» und die Unzufriedenheit über das Fehlen von Lösungen für die wichtigsten Forderungen der Bevölkerung noch immer. Sie äußern sich jedoch auf unterschiedliche Weise. Wenn man vom tiefgreifenden Einfluss der Medien und sozialen Netzwerke auf die Wahlergebnisse beider Referenden absieht, kann man dennoch feststellen, dass die Stimmen «Gegen etwas» mehr Gewicht haben als die Stimmen «Für etwas». Dies zeugt von einer politischen Pattsituation, in der keiner der konkurrierenden Akteure sein Programm durchsetzen oder die Bevölkerung von seinen Vorschlägen zur Bewältigung der Krise überzeugen kann. Weder der Aufstand vom Oktober 2019, noch die antineoliberale Mehrheit der Verfassungsgebenden Versammlung von 2021, noch die fortschrittliche Regierung seit 2022, noch die pinochetistische Mehrheit des Rates von 2023: Keine dieser Formen, in denen sich die Krise ausgedrückt hat, bot einen Ausweg.
Die stärkste Bedrohung für die ärmeren Bevölkerungsschichten wäre in dieser Situation der Aufstieg einer extrem rechten Kraft, der es gelingt, aus den Niederlagen all dieser Akteure ihren Vorteil zu ziehen. Der Sieg von Milei in Argentinien gibt hierbei Anlass zur Sorge. In einem Szenario der politischen Polarisierung, in dem eine progressive Regierung nicht in der Lage war, ihr Programm umzusetzen, ist es keinesfalls abwegig, sich auch in Chile eine nächste Regierung der Rechten/extremen Rechten vorzustellen. Das erklärt, warum die Präsidentschaftskandidaten, die heute in den Umfragen führen Kast und die rechte UDI-Politikerin Evelyn Matthei sind.
Angesichts dieser unheilvollen Aussichten müssen die Linke und die sozialen, feministischen und populären Bewegungen strategische Lehren aus den letzten vier Jahren ziehen.
Einerseits hat die Regierung Boric mit ihrer programmatischen Mäßigung ihre Wählerbasis enttäuscht und verzichtet gleichzeitig darauf, breite gesellschaftliche Schichten gegen die parlamentarische Blockade der Opposition zu mobilisieren. Wenn es die Regierung im Angesicht einer hartnäckigen Opposition vorzieht, ihre eigenen Ansprüche auf gesellschaftliche Veränderung aufzugeben und dazu übergeht, Gesetzesvorhaben «erfolgreich» zu beschließen, die ihres ursprünglichen Inhalts beraubt sind, sendet das eine klare Botschaft: In Krisenzeiten gibt es keine Alternative zur programmatischen Kapitulation.
In dieser Logik ist kein Platz für ein Programm des sozialen Wandels, das sich auf eine breite gesellschaftliche Basis stützen kann und diese zu mobilisieren vermag. In diesem Sinne hat die Regierung das Wenige aufgegeben, was sie in Zeiten der Krise und des parlamentarischen Boykotts noch tun könnte: Ihren kleinen Anteil an Macht zu nutzen, um eine offene Konfrontation über das politische Programm zu erzwingen und damit die Positionen der verschiedenen Akteure deutlich zu machen. Stattdessen hat sie es vorgezogen, wieder einmal zu einer von der Bevölkerung abgeschirmten «Politik der Vereinbarungen» zwischen den politischen Eliten überzugehen.
Andererseits sollten die Linke und die sozialen Bewegungen diesen Moment nutzen, um eine gründliche Selbstkritik vorzunehmen, was die organisatorische Zersplitterung angeht, die mit Kämpfen einhergeht, die sich auf einzelne gesellschaftliche Bereiche beziehen, ohne dass es einen gemeinsamen politischen Rahmen für das Ringen um die Macht auf Grundlage eines verbindenden Programms gegeben hätte, das die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse wahrt. Eine bemerkenswerte Ausnahme hiervon ist jener Feminismus, der aus dem den Generalstreik der Frauen hervorgegangen ist und der von der Coordinadora Feminista 8M vorangetrieben wurde, die versuchte, auf Grundlage des Feminismus eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwerfen, die programmatisch und organisatorisch alle Probleme des Landes angehen kann.
In klassischer Terminologie gesprochen werden sich die Linke und die sozialen Bewegungen in dieser neuen Phase mit den Fragen des Parteiaufbaus konfrontiert sehen, insofern es um die Entwicklung einer politischen Kraft geht, die in der Lage ist, vereint und in eine gemeinsame Richtung zuzuschlagen. Dies erfordert zunächst die Identifizierung der Gründe, warum der Aufstand im Oktober 2019 nicht aus eigener Kraft die Bedingungen für den Ausweg aus der Krise durchsetzen konnte und warum er sich in einen verfassunggebenden Prozess wandeln musste, der im Kongress ausgehandelt und entworfen wurde.
Bevor wir die «Verräter» in der Regierung beschuldigen, die Macht des sozialen Aufstands pervertiert zu haben, zwingt uns der Abschluss dieses politischen Zyklus dazu, über unsere eigenen Mängel nachzudenken: eine Zersplitterung sozialer Forderungen ohne roten Faden und ohne Bezug zu den gemeinsamen strukturellen Ursachen der Krise des chilenischen/globalen neoliberalen Kapitalismus, ein Archipel von Organisationen ohne gemeinsame Aktivität, abgesehen von der Mobilisierung auf der Straße, eine Trennung zwischen Kernaktivist*innen und der breiten mobilisierten Bevölkerung, und das Bestehen einfacher informeller Organisationsformen, die nicht in der Lage waren, den massiven und breiten Ausbruch des Aufstands zu nutzen, um sich als alternative politische Bezugspunkte landesweit zu etablieren.
Wenn die Hauptbedrohung für die breite Bevölkerung in Chile heute ein Aufstieg der extremen Rechten ist, dann muss jetzt auf der Tagesordnung stehen, alle Möglichkeiten aufzuzeigen, diesen regressiven Prozess zu stoppen und ihm Schritt für Schritt entgegenzutreten. Wir glauben, dass dies hauptsächlich durch Forderungen geschehen kann, die die Arbeiterklasse Chiles aus der zunehmenden Prekarisierung befreien können, sowie durch eine politische Kraft, die diese Lösungen mit einer Erzählung tiefgreifender Transformation verbindet, die bis an die gesellschaftlichen Wurzeln geht und mit dem bestehenden politischen und wirtschaftlichen System bricht.
Wenn Kast und andere neofaschistische Strömungen in Chile eine konservative, autoritäre und nationalistische Lösung für die Krise darstellen, die das herrschende Regime stärkt, dann muss der Weg für die Linken und die sozialen Bewegungen ein Weg des sozialen Kampfes und des Klassenkonflikts sein, der auf antikapitalistische, feministische und ökosozialistische Weise geführt wird. Dieser Weg zielt darauf ab, die Ursachen der Krise anzugehen, während gleichzeitig den unmittelbaren Symptomen kurzfristig mit materiellen Lösungen begegnet werden muss. Ohne diese Kombination wird die extreme Rechte weiterhin freie Bahn haben, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die fortschrittliche Regierung nicht auf ihrer Seite steht und die einzige Lösung in einem Programm besteht, das die Schwächsten im Wettbewerb gegeneinander ausspielt.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung des spanischen Originalartikels, der am 21.12.2023 in der lateinamerikanischen Ausgabe des Jacobin-Magazin veröffentlicht wurde.
Übersetzung: Nikolas Grimm