Nachricht | Südliches Afrika - Krieg in Israel/Palästina «Eskalation der Entfremdung»

Henning Melber über die Klage Südafrikas gegen Israel und die Bedeutung für afrikanische Staaten

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Henning Melber, The Nordic Africa Institute
«Man könnte etwas ernüchternd konstatieren, dass es in der internationalen Politik immer Doppelstandards gibt. Aber das Ausmaß an Doppelstandards, mit dem die Welt heute konfrontiert wird, ist in meiner Wahrnehmung neu.»
Henning Melber Foto: The Nordic Africa Institute

Ende Dezember 2023 hatte Südafrika Klage gegen Israel vor dem Internationalem Gerichtshof (IGH) eingereicht. In dem Eilantrag wirft das afrikanische Land Israel Völkermord an den Palästinenser*innen im Gazastreifen vor und fordert ein sofortiges Ende aller militärischen Operationen. Am 26. Januar 2024 wurde dem Antrag Südafrikas teilweise stattgegeben, u.a. muss Israel Maßnahmen ergreifen, um einen Völkermord zu verhindern. Das Land wurde jedoch nicht aufgefordert, den Krieg gegen die Hamas einzustellen.

Mitte Februar lehnte das IGH einen weiteren Antrag Südafrikas angesichts des geplanten Angriffes auf Rafah ab, betont aber, dass Israel weiterhin verpflichtet ist, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens zu schützen. Während die Mehrzahl der Kommentator*innen auf die Richtersprüche blicken, bleiben die Interessen der Kläger*innen, das Agieren von afrikanischer Ländern und die Auswirkungen auf das deutsch-namibische Verhältnis oft unberücksichtigt.

Andreas Bohne, Leiter des Afrika-Referats des Zentrums für Internationale Zusammenarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach dazu mit dem deutsch-namibischen Politikwissenschaftler Henning Melber, Fellow am Nordic Africa Institute, Extraordinary Professor an der University of Pretoria und der University of the Free State (Südafrika).
 

Andreas Bohne: Zu Beginn eine allgemeine, doch umfassende, Frage: Wie bewerten Sie die Klage Südafrikas und die Entscheidung des IGH?

Henning Melber: Ich halte die Klage für eine völkerrechtlich sehr relevante Angelegenheit und bin dankbar, dass Südafrika diese Initiative ergriffen hat. Gerade auch in Ermangelung einschlägiger Initiativen, die ich mir eigentlich aus westlichen Ländern erwünscht hätte, die jedoch weiterhin mit ihrer Scheuklappen-Mentalität so agieren, als ob in Gaza nichts stattfindet, was gegen die Charta der Vereinten Nationen verstößt. Und das bringt eigentlich schon eine generelle Herausforderung an das internationale System und an das internationale Recht zum Vorschein: Dass es sehr häufig nur selektiv wahrgenommen und angewendet wird.

Dass Südafrika, ähnlich wie Gambia gegen Myanmar, jetzt eine Klage gegen Israel – also keinen Staat des «klassischen Globalen Norden» vor dem IGH vorbringt, ist für mich sehr begrüßenswert. Letztendlich wird es unter anderem zeigen, inwieweit das Völkerrecht noch Relevanz besitzt. In diesem Zusammenhang finde ich die vorläufige Beurteilung der Klage durch den IGH, dass die Kriegsführung Israels die Formen eines Völkermordes annehmen könnte, nicht nur diplomatisch, sondern auch in seiner Sensibilität wichtig. Wir werden sehen, wie der IGH befindet, nachdem die Vier-Wochen-Frist abgelaufen ist und Israel zu Auflagen Stellung nehmen muss und dann Südafrika diese kommentiert.

Aktuell gibt es weitere Verhandlungen im Gerichtshof, und wenn zum Beispiel das Plädoyer von dem renommierten Völkerrechtler Philippe Sands verfolgt wird, dann wird deutlich, dass Israel seit der Erstverhandlung ständig den Beweis erbringt, dass diese Klage berechtigt ist.

Warum geht Ihrer Meinung nach Südafrika voran – internalisiertes Unrechtsempfinden aufgrund der Apartheid-Erfahrungen, innenpolitisches Kalkül des ANC angesichts der anstehenden Wahlen oder außenpolitisches Interesse als afrikanisches Schwergewicht?

Ich glaube der eindeutig überwiegende Grund ist die Solidarität der südafrikanischen Regierung und damit auch des ANC mit dem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes von Palästina. Die Geschichte von PLO und ANC geht zurück bis in die 1960er und 1970er Jahre – also noch vor den Zeiten der Hamas. Nelson Mandela ist kurz nach seiner Amtsübernahme als Präsident nach Palästina gefahren und hat sich mit Yasser Arafat getroffen. Da gibt es so viele Gemeinsamkeiten. Einerseits, sich als besetztes Land zu empfinden, denn Südafrika wurde ja bis 1994 von einem weißen Minderheitsregime regiert. Andererseits die Parallele einer empfundenen Apartheid. Und wenn auch dieser Begriff von vielen im Westen immer noch vehement bis empört zurückgewiesen wird, gibt es nun hinreichende Belege, dass die israelische Politik als eine Form der institutionalisierten Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe eingestuft werden kann, wie es auch westliche Einrichtungen und jüdische agencies tun. Diese Komponenten sind meines Erachtens absolut entscheidend gewesen. Weder ein innenpolitisches, noch ein außenpolitisches Kalkül haben nach meiner Einschätzung eine auch nur annähernd ähnliche Rolle gespielt. Es war in der Tat eine Frage der Empathie, nämlich des Mitgefühls, der Solidarität mit dem, was die Menschen in Gaza zu erdulden und zu erleben haben.

Immer wieder fallen im Zusammenhang der jüngeren Kriege – in der Ukraine und in Gaza, aber nicht nur dort, – das Wort der «Doppelstandards». Gehören nun einmal Doppelstandards leider zum politischen Geschäft, um eigene Interessen durchzusetzen? Entspricht daher aus Ihrer Sicht die Klage zwar einem politischen Kalkül, ermöglicht aber eine neutralere, weil juristische, Bewertung?

Wie erwähnt, ich kann kein ausgeprägtes politisches Kalkül bei der Klage erkennen, es sei denn, man nimmt als politisches Kalkül, was Südafrika jetzt sagt: «Wir lassen uns vom Westen nicht mehr vorschreiben, was völkerrechtlich akzeptabel und was inakzeptabel ist.» Als politisches Kalkül kann es nur gewertet werden, dass Südafrika sich in außenpolitischer Hinsicht als Vertreter einer Menschenrechtspolitik profiliert. Bezogen auf andere Fälle entspricht sie dem Verhalten ja hingegen eher nicht, wie die Zurückhaltung gegenüber einer Verurteilung der Invasion Russlands in der Ukraine und auch die Abstinenz was die Unterdrückung der Uiguren in der VR China betrifft. Dass verdeutlich, dass Doppelstandards keinesfalls nur ein Privileg westlicher Länder sind, wie das Agieren westlicher Mächte in Syrien oder das Ignorieren des Krieges im Sudan. Doppelstandards sind ein globales Phänomen und man könnte etwas ernüchternd konstatieren, dass es in der internationalen Politik immer Doppelstandards gibt. Aber das Ausmaß an Doppelstandards, mit dem die Welt heute konfrontiert wird, ist in meiner Wahrnehmung neu.

Ich glaube, dass die südafrikanische Initiative zumindest auch noch einen Solidarisierungseffekt hatte, z.B. auf Seiten Algeriens oder vor allem Namibias, das sich als Third Party für Südafrika, in Abgrenzung zu Deutschland erklärt und am 23. Februar vor dem IGH eine Stellungnahme abgab. Ebenso hat der brasilianische Präsident Lula mit seiner Stellungnahme sehr deutlich Position bezogen. Im westlichen Lager bestehen ebenso Widersprüche, wenn Irland als Reaktion auf den Entzug von Zuwendungen an die Hilfsorganisation UNRWA zusätzliche 20 Millionen Euro bereitstellt. Es gibt also innerhalb des EU-Blocks auch unterschiedliche Positionierungen, was internationales Recht ist und was normative Wertvorstellungen sind. Hier sehen wir, dass die Trennlinie in der gegenwärtigen Bewertung eben nicht zwischen Nord und Süd verläuft, in dem Fall auch nicht zwischen oben und unten, also aus klassenspezifischer Sicht erfolgt.

Mit Beginn des Ukraine-Krieges wurde insbesondere aufgrund der Enthaltung und Gegenstimmen der afrikanischen Länder in der UN-Vollversammlung von einer Entfremdung zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden gesprochen. Nun kam diese «Entfremdung» nicht aus dem heiteren Himmel wie oftmals propagiert wird, sondern ist ein längerer Prozess. Sehen Sie in der Bewertung des Israel-Gaza-Krieges eine ähnliche «Entfremdung»?

Erst einmal würde ich den Begriff der Entfremdung in einen historischen Kontext stellen. Seit den Zeiten des Sklavenhandels und des Kolonialismus ist das Nord-Süd-Verhältnis durch die asymmetrischen Machtverhältnisse entfremdet. Die Menschen im sogenannten Globalen Süden haben sich ja nicht freiwillig unterwerfen und ausbeuten lassen. Die globalen politischen Machtkonstellationen, insbesondere durch den Kalten Krieg, haben die neuen unabhängigen, völkerrechtlich souveränen Staaten danach dazu geführt sich positionieren zu müssen – also prowestlich, prosowjetisch oder blockfrei. Aber auch das war immer noch ein entfremdetes, pragmatisches Allianzverhältnis. Also, Entfremdung gab es immer, nur ist diese durch die Vertiefung globaler Machtrivalitäten verstärkt worden. Die Ukraine wurde ein wesentlicher neuer Bezugspunkt. Aber deutlich verschärft nochmals durch das, was seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas ihren grausamen Terrorakt ausführte, bei dem über 1.000 Menschen brutal ermordet wurden, in Israel und in Gaza passiert ist. Wir sehen eine Eskalation der stets abrufbaren Entfremdung.

Mir scheint es übertrieben von einer dichotomen Blockbildung zu sprechen, denn weder der Globale Süden, noch der Norden, erscheint mir als monolithisch in seiner Bewertung – politisch und gesellschaftlich, das hatten Sie angedeutet. Kann die Klage zwar als ein Zeichen globaler Bedeutungszuwächse – gerade auch afrikanischer Länder – gewertet werden, aber nicht als globale Machtverschiebungen?

Es gibt zwei Aspekte, die meines Erachtens da ins Spiel kommen. Das eine ist die Positionierung jedes einzelnen Landes entlang normativer Grundwerte und da gibt es auch innerhalb des Globalen Südens erhebliche Unterschiede. Das ist keine homogene Masse und die nicht paktgebundenen Staaten sind auch keine homogene Allianz. Das Abstimmungsverhalten zu einzelnen Fragen in den Vereinten Nationen dokumentiert das stets aufs Neue. Ein prominentes Beispiel ist, dass gerade für die Länder des sogenannten Globalen Südens mit ihrer kolonialen und dekolonialen Geschichte völkerrechtliche Souveränität und territoriale Integrität quasi sakrosankt sind. Ungeachtet dieser Prinzipien, die teilweise auch in den Verfassungen an vorderster Stelle stehen, erfolgte nicht zwangsläufig eine Verurteilung der russischen Invasion.

Ja, ich sehe die Klage als ein Ausdruck von neuem Selbstbewusstsein eine aktive Rolle zu spielen. Es gibt erkennbare Anzeichen für globale politische Verschiebungen. Inwieweit diese sich durchsetzen ist eine offene Frage für mich, denn viele Länder sind weiterhin auf starke Wirtschaftsbeziehungen zu den USA, zu Japan und zu der EU angewiesen. Und diese werden als Druckmittel verwendet, wenn die wachsende Anzahl von Stimmen im US-amerikanischen Abgeordnetenhaus und Senat fordern, Südafrika von der Liste der amerikanischen Initiative African Growth and Opportunity Act (AGOA)-Länder zu streichen. Damit würde der vergünstigte Zugang zum US-amerikanischen Markt wegfallen. Das wäre für die südafrikanische Volkswirtschaft fatal, denn es wird geschätzt, dass die Folgen ein ungefährer Rückgang von zehn Prozent der jährlichen volkswirtschaftlichen Leistung wären.

Angesprochene Stichworte «Doppelstandards», «Entfremdung» und «monolithische Blöcke» nochmals aufgreifend: Aufgrund der antikolonialen und antiimperialen Erfahrungen in Afrika, ist die Solidarität mit den Palästinenser*innen stark ausgeprägt; gleichwohl haben 44 von 54 afrikanischen Ländern die Staatlichkeit Israels anerkannt und Israel besitzt Beobachterstatus in der Afrikanischen Union (AU). Kann die AU auch aufgrund eigener Geschichte und Gegenwart vermittelnd wirken? Auf dem kürzlich im Februar stattgefundenen AU-Gipfel hat sie das Verhalten Israels harsch kritisiert.

Der Beobachterstatus sollte von der AU auf ihrem jährlichen Gipfeltreffen entzogen werden. Eine konzertierte Aktion der israelischen Regierung, auch durch die Botschaften in AU-Ländern, hat dies in letzter Minute verhindert. Dennoch ist es eine wichtige Entwicklung. Die AU ist trotz unterschiedlicher Tiefe in den Beziehungen zu Israel – schließlich unterhalten mehrere afrikanische Länder sicherheitspolitische Kooperationen – für eine solche Konsequenz bereit gewesen. Dennoch wird die AU, sollte sie diesen Beschluss aufgrund der Kampagnen pro-palästinensischer afrikanischer Gruppierungen noch fassen, nicht darüber hinaus aktiv werden. Sie ist auch gegenüber Russland und Ukraine nicht aktiv geworden, die «afrikanische Initiative» war eine Initiative von vier oder fünf Ländern.

Gerade aus Namibia, der früheren Kolonie Deutsch-Südwestafrika, regt sich immense Ablehnung über Deutschlands Intervention am IGH zur Unterstützung Israels. Der vor kurzem verstorbene namibische Präsident Hage Geingob kritisierte mit scharfen Worten die deutsche Position. Unterstützung erhielt er von Vertreter*innen der OvaHerero und Nama, die vormals die Verhandlungsführung von Geingob und ihren eigenen Ausschluss an den Verhandlungen kritisierten. Welchen Wirkungen haben aus Ihrer Sicht die IGH-Klage, die Positionierung Deutschlands und das - bisher noch nicht bestätigte – final ausgehandelte Addendum zum 2021 abgeschlossenen deutsch-namibischen Versöhnungsabkommen («joint declaration»)?

Die deutsche Haltung zu Israel hat die namibische Regierung brüskiert und Geingobs – man   kann fast schon sagen – undiplomatischen Wutausbruch provoziert. Was er über X als offizielle Stellungnahme verbreitete, war alles andere als eine wohlformulierte Zurückweisung. Das zeigt die persönliche Verletzung, die viele im Land teilen. Geingob hat durch die Bank Unterstützung bekommen, auch aus Bevölkerungsgruppen der Ovaherero und Nama, die die namibische Regierung massiv kritisiert haben, ob ihres Ausschlusses aus diesen bilateralen Verhandlungen.

Allerdings haben sie dies gleichzeitig auch zur Forderung genutzt, dass Namibia Deutschland vor den IGH in der Frage des Völkermords in der deutschen Kolonie Südwestafrika bringt. Ich bin kein Jurist, aber meine erste Reaktion war, dass der IGH sich dafür nicht zuständig erklären wird. Völkerrechtler*innen oder Rechtsexpert*innen sind da vielleicht anderer Meinung. Aber die Reaktion in Namibia auf die deutsche Positionierung verdeutlicht, wie tiefgehend namibische Gefühle verletzt wurden. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die ehemaligen Kolonisatoren die Sicht der ehemals Kolonisierten nicht hinreichend respektieren und nachempfinden können.

Was das Abkommen betrifft: Nangolo Mbumba, der neue Präsident als Amtsverwalter bis zum 21. März 2025, war als Vizepräsident mit der Beaufsichtigung der bilateralen Gespräche betraut. Er hat sich selbst Ende 2022 kritisch gegenüber dem unzureichenden, bis dahin ausgehandelten Ergebnis geäußert. Auch hat er vergeblich versucht, die Ovaherero und Nama in Gespräche einzubeziehen. Ob nach den neuesten Entwicklungen eine Einigung erschwert ist oder unmöglich wird, kann im Moment kaum prognostiziert werden. Die noch nicht zu beantwortende Frage bleibt, ob Nangolo Mbumba aus den Erfahrungen der bilateralen Verhandlungen gelernt hat. Meine Hoffnung ist, dass er unter den gegebenen Umständen eine Chance sieht, ein neues Kapitel aufzuschlagen und Neuverhandlungen zu fordern, bei denen die Herero und die Nama mit am Verhandlungstisch sitzen.