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Was ist notwendig für eine sozial und ökologisch gerechte Mobilitätswende?

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#wirfahrenzusammen: Gemeinsamer Warnstreik bei der BVG in Berlin, 2. Februar 2024
«Gemeinsame Streiktage, wie die von ver.di und Fridays for Future markieren einen wichtigen Schritt hin zu einer gemeinsamen sozial-ökologischen (Klassen-)Praxis.» #wirfahrenzusammen: Warnstreik bei der BVG in Berlin, 2. Februar 2024

Die Mobilitätswende kommt spät, vielleicht zu spät. Alle Klimaziele im Mobilitätsektor werden wiederholt gerissen, zuletzt so deutlich wie in keinem anderen Sektor. Denn die Art von Mobilitätswende, die von der Ampel und von vorherigen Bundesregierungen vorangetrieben wurde und wird, trägt kaum zur Verbesserung bei: Millionen Verbrenner-Autos einfach durch Millionen Elektro-Autos zu ersetzen ändert wenig am erheblichen Naturverbrauch des Autoverkehrs. Doch das ist nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem. Denn Mobilität ist eine Klassenfrage, und das gleich im vierfachen Sinne.

1. Die Auto-Mobilität belastet vor allem Menschen mit wenig Geld

In den Städten leiden besonders die Bewohner*innen benachteiligter Stadtviertel unter Umwelt-Ungerechtigkeiten: schlechte Luft, Lärm, zu engen Wohnverhältnissen an viel befahrenen Straßen und eine mangelhafte Nahverkehrsanbindung. In dünn besiedelten, ländlichen Gegenden haben ganze 40 Prozent der Einwohner*innen keinen ausreichenden Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), das zeigt unsere Studie zur Mobilitätswende in ländlichen Räumen. Gleichzeitig hängen die mit dem Auto zurückgelegten Kilometer viel stärker vom Klassenhintergrund ab als vom Wohnort. Die stetig wachsende Verkehrsleistung geht weit überproportional auf die privilegierten Klassenmilieus auf dem Land zurück. Beim Fliegen zeigt sich die ungleiche Klimabilanz noch viel deutlicher.

Menschen mit geringen Einkommen können sich mehrheitlich ohnehin kein Auto leisten. Aber viele Geringverdienende sehen sich angesichts des mangelnden ÖPNV-Angebots auf dem Land gezwungen, die vergleichsweise hohen Kosten eines eigenen Autos in Kauf zu nehmen und müssen an anderen Dingen sparen. Auf die Frage, unter welchen Bedingungen sie öfter den ÖPNV nutzen würden, gibt es klare Antworten: bessere Taktzeiten, ein besseres Liniennetz und vor allem bezahlbare Preise. Das 9-Euro-Ticket hat gezeigt, wie viele den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr schon unter den gegebenen Bedingungen nutzen würden. Leider ist nicht einmal die Finanzierung des aktuellen 49-Euro-Tickets auf Dauer gesichert. Entsprechend ist der massive Ausbau des öffentlichen Verkehrs als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge mit günstigen Tickets bis hin zum entgeltfreien Nahverkehr der Schlüssel auf dem Weg zu einer sozial gerechten Mobilitätswende.

2. Die Mobilitätswende wird auf dem Rücken der Beschäftigten in der Autoindustrie ausgetragen

Allein mit der – durchaus sinnvollen – Umstellung auf Elektroautos gehen mindestens 220.000 Jobs bei Herstellern, Zulieferern und Werkstätten verloren, hat der Thinktank Agora Verkehrswende ausrechnen lassen. Seit Jahren werden Stellen abgebaut, weil die deutschen Automobilkonzerne den Umstieg auf Elektromobilität verschlafen haben und hinter die internationale Konkurrenz vor allem durch chinesischen Hersteller zurückfallen. Diese drängen über kurz oder lang auch in den europäischen und US-amerikanischen Markt. Bisher haben die deutschen Automobilkonzerne auf hochpreisige Modelle mit Verbrennungsmotor gesetzt. Diese Konzernstrategie führen sie nun im Elektrosegment fort und produzieren bevorzugt große, schwere, hoch motorisierte Elektro-SUV. Mit dieser kapital-, aber nicht in gleichem Maße arbeitsintensiven Produktion erzielen sie (noch) Rekordprofite – unter massiven Auswirkungen in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern, in denen die hohen Rohstoffbedarfe der Industrieländer zu sozialen und ökologische Krisen führen. Gleichzeitig ist die Beschäftigungskrise bei den Kolleg*innen in der Produktion und besonders bei den Zulieferern hierzulande längst angekommen. Zurecht fragen sich viele: «Und was ist jetzt mit meinem Job?»

Die Antwort lautet: Ein Spurwechsel, die Transformation der Mobilität und der dazugehörigen industriellen Produktion, braucht unglaublich viel Arbeitskraft. Wenn die von der Bundesregierung anvisierten Zahlen ernst genommen würden, müssten die Fahrgastzahlen im öffentlichen Nah-, Regional- und Fernverkehr um das 2,5-fache steigen. Dafür bräuchten wir jede Menge Straßenbahnen, Regionalzüge, Elektrobusse, Oberleitungsbusse, Spezialfahrzeuge, Kleinbusse für weniger bevölkerte Ecken des Landes, Leitsysteme, Gleise, ja vielleicht auch eine Flotte selbstfahrender Fahrzeuge für den ländlichen Raum. Das muss alles produziert werden. Mobilitätsindustrie ist eben mehr als Autoproduktion. Sie schließt auch die Schienenfahrzeug- und Busindustrie mit ein – gewerkschaftlich hoch organisierte und tariflich gut entlohnte Arbeit. Um diese Bedarfe zu bedienen bräuchte es 314.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Setzen wir eine kurze Vollzeit für alle an, die zwischen 30 bis 32 Stunden kreist, wie sie von der Partei Die Linke und in den Tarifauseinandersetzungen der Stahlindustrie gefordert wird, kämen wir sogar auf über 436.000 zusätzliche Jobs. Der Umbau in der Autoindustrie könnte damit abgefedert oder sogar überkompensiert werden.

In ihrer gemeinsamen Erklärung Verkehrswende braucht Zeitenwende forderten kürzlich die Gewerkschaften IG Metall und EVG, der Automobilverband ADFC, das Bündnis Allianz pro Schiene und der Branchenzusammenschluss Zukunft Fahrrad, dass mindestens 50 Prozent der von öffentlichen Verkehrsunternehmen angeschafften Fahrzeuge in Deutschland hergestellt werden sollen. Das würde für mehr Planungssicherheit bei den Herstellern sorgen. Nötig wäre aber auch ein Eingreifen der öffentlichen Hand, wenn private Unternehmen nicht mehr Willens sind, Standorte in der Bus- oder Schienenfahrzeugindustrie zu erhalten und sie für die Transformation fit zu machen. Entsprechend wären staatliche Kapitalhilfen für die Transformation schon jetzt als Hebel zu nutzen, um Druck in Richtung einer alternativen Produktion aufzubauen und um eine Beteiligung am Eigentum sicherzustellen. Perspektivisch sollten öffentliche Zuschüsse die volle Vergesellschaftung von Unternehmen ermöglichen. Der Markt wird die Transformation selbst nicht bewältigen. Wo nötig, sollten öffentliche Unternehmen geschaffen werden, um diese dringenden Produktionsbedarfe zu realisieren.

3. «Wir fahren zusammen» - Die Mobilitätswende braucht gute Arbeitsbedingungen

Schon jetzt fehlen mehr als 100.000 Arbeitskräfte in den Nahverkehrsbetrieben. Allein die Berliner BVG sucht aktuell 10.000 neue Leute. Schon die Aufrechterhaltung der aktuellen Verkehrsleistung geht auf die Knochen der Beschäftigten: anstrengende Arbeitsbedingungen, stressige und oft aggressive Verkehrssituationen, hohe Krankenstände und damit dauerndes Löcherstopfen sind Alltag – und das bei geringer Bezahlung. «Nur die harten kommen in den Garten» ist keine sinnvolle Beschäftigungsstrategie. Mehr als die Hälfte der Jobanfänger und Auszubildenden schmeißen wieder hin.

Für den Ausbau braucht es also bessere Arbeitsbedingungen. Zugleich fragten sich Aktive der Klimabewegung, wie sie wirkungsvoller ihre Ziele verfolgen und sich dabei zugleich breiter in der Bevölkerung und insbesondere in der Arbeiter*innenklasse verankern können. So entstand innerhalb des linken Flügels von Fridays for Future und ver.di die Idee, die im Jahr 2020 anstehende bundesweite Tarifrunde Nahverkehr gemeinsam zu bestreiten – ein Brückenschlag zwischen Gewerkschaft und Klimabewegung, nicht nur auf dem Papier, sondern ganz praktisch und konkret. Statt der Differenzen wurden die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gerückt: Bessere Bezahlung, mehr Personal, Ausbau des ÖPNV – das ist auch fürs Klima gut. Fridays for Future und ver.di haben über ein Jahr gemeinsame Diskussionen geführt und Aktionen geprobt, bis schließlich 2020 die Tarifrunde als Praxis gemeinsamer ökologische Klassenpolitik anstand. Die Broschüre Mein Pronomen ist Busfahrerin dokumentiert diesen Prozess.

Auch in der aktuellen Tarifrunde Nahverkehr haben ver.di und Fridays for Future gemeinsame Streikaktionen unter dem Motto #wirfahrenzusammen angekündigt. Der globale Klimastreik am 1. März und die zweitägigen Warnstreiks bei der Berliner BVG ab dem 29. Februar 2024 sind ein Brückenschlag zwischen Gewerkschaft und Klimabewegung. Die Beschäftigten mit ihren Streiks und ihrer Organisationsmacht können den öffentlichen Betrieb stören und Druck für Investitionen aufbauen. Allerdings treffen die Streiks jene, für die man eigentlich da sein möchte: die Fahrgäste, die zur Arbeit müssen oder das Kind abholen. Schon deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es nicht um partikulare Lohnforderungen geht, sondern um den gesellschaftlich notwendigen Ausbau des ÖPNV für alle. Die Klimabewegung kann hier ihre Diskursmacht einsetzen, um den Streiks Legitimation zu verschaffen und weitergehende Forderungen mit den Beschäftigten zusammen zu artikulieren. Wichtig ist beiden dabei, Nutzer*innen einzubeziehen und für die Ziele zu gewinnen, ebenso wie Fahrgastverbände und Mobilitätsinitiativen. Die Streiks sollten nicht mit Erwartungen überladen werden. Die Hürden sind hoch, es handelt sich «nur» um eine Tarifrunde, oft mit klammen Kommunen als Gegenüber. Doch die Streiks sind Praxisraum zur Erprobung neuer Allianzen, darin liegt das große Potenzial der Kampagne «Wir fahren zusammen».

4. Keine Mobilitätswende ohne Umverteilung

Eine gerechte Mobilitätswende kostet Geld. Der Ausbau des Nah- und Schienenverkehrs, gute Arbeitsbedingungen, bezahlbare Fahrpreise sowie neue Produktionskapazitäten brauchen erhebliche Investitionen und finanzielle Mittel. Doch die Schuldenbremse und die Sparpolitik der aktuellen und vergangenen Regierungskoalitionen sorgen für eine sehr ungleiche Verteilung in der Ausgabenpolitik: wenig etwa für eine Kindergrundsicherung und die Mobilitätswende – viel für Rüstung und fossile Industrie. Wer eine gerechte Mobilitätswende will, muss daher viel stärker auch die Frage der Umverteilung oder besser gesagt, des «Rückverteilens» stellen.

Die Bundesländer könnten dafür neue Finanzierungsquellen erschließen, etwa eine Unternehmensabgabe für den Nahverkehr. Das alleine kann die viel zu geringen, sogenannten Regionalisierungsmittel des Bundes als Hauptquelle für den Umbau aber nicht auffangen. Mindestens 20 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionsmitteln bräuchten die Kommunen jedes Jahr zum ÖPNV-Ausbau und für eine angemessene Personalbemessung. Demgegenüber summieren sich die umweltschädlichen staatlichen Subventionen für den Auto- und Flugverkehr jedes Jahr auf etwa 29 Milliarden Euro. Diese in den Ausbau des Umweltverbundes, also in den Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr umzulenken, wäre eine Möglichkeit; die Finanzierung durch Kreditaufnahmen wäre eine weitere. Doch die Schuldenbremse blockiert den Weg in eine Transformation für die Zukunft. Um diese zu realisieren, müssten auch die einkommensstärksten Haushalte wieder mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden, etwa durch die überfällige Wiedereinführung einer Vermögenssteuer für Reiche und einer echte Übergewinnsteuer zur Abschöpfung von Krisen- und Kriegsgewinnen der Konzerne , wie sie auch von Mehrheiten in der Bevölkerung befürwortet werden. Auf die Frage, was mit zusätzlichen Steuermitteln prioritär finanziert werden sollte, plädieren insbesondere Bezieher*innen geringerer Einkommen neben dem Bau von Sozialwohnungen vor allem für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.

Für die Durchsetzung einer sozial und ökologisch gerechten Mobilitätswende nutzen gefühlte, durch Umfragen gestützte Mehrheiten nur begrenzt. Auch viele durchaus sinnvolle gemeinsame Erklärungen von Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden dienen zwar der Verständigung, sind aber eher geduldiges Papier als gemeinsame Praxis. Es gilt Machtressourcen praktisch zu bündeln. Ein Schritt in diese Richtung wäre eine Allianz für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und seine Finanzierung, die auch die EVG und die IG Metall, ebenso wie den BUND, den Paritätischen Gesamtverband etc. umfasst. Sie sollte nach gemeinsamen Praxisformen suchen, Forderungen und Streikmaßnahmen der Bündnispartner unterstützen und – wo möglich – gemeinsam angehen sowie einen Nahverkehrsgipfel der Bundesregierung anstelle von immer neuen Autogipfeln einfordern.

Gemeinsame Streiktage von ver.di und Fridays for Future sowie die Aktionen vieler Unterstützer*innen aus Mobilitätsinitiativen, Linken aus Parteien und Bewegungen und aus der kritischen Wissenschaft markieren einen wichtigen Schritt in diese Richtung einer gemeinsamen sozial-ökologischen (Klassen-)Praxis.