Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Südasien - Feminismus «In jeder Unterdrückung steckt auch Widerstand»

Über Repression und Hoffnung in Sri Lanka

Die vergangenen fünf Jahre waren eine äußerst schwierige Zeit für Sri Lanka: Die Terroranschläge an Ostern 2019, eine Reihe von Bombenanschlägen in Hotels und Kirchen, die undemokratische Übernahme des repressiven Regimes von Präsident Gotabaya Rajapaksa im selben Jahr, eine verheerende Wirtschaftskrise und schließlich die COVID-19-Pandemie haben das ganze Land in Mitleidenschaft gezogen und insbesondere die ärmsten und am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen getroffen. Doch die Menschen erheben sich in Massen und in verschiedenen Gruppen und Formen des nationalen und lokalen Protests und Aktivismus.

Manimekalai ist Historikerin, Lehrerin, Forscherin, Theaterkünstlerin, Übersetzerin, Aktivistin und Therapeutin für intermediale Kunsttherapie. Sie lebt und arbeitet in marginalisierten Gemeinschaften in Batticaloa im Osten Sri Lankas. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit ihr über vielfältigen Widerstand, die Organisierung von Frauen, Hoffnung und Wandel.
 

RLS: Wie ist die sozioökonomische und politische Situation in Sri Lanka?

Manimekalai: Wenn von Sri Lanka die Rede ist, muss unterschieden werden, wie sich die staatliche Politik und der Bürgerkrieg (1983 bis 2009) auf den Norden und den Osten der Insel, auf die überwiegend singhalesischsprachigen Gebiete im Süden sowie auf die Menschen in den Plantagen in den Bergen in der Mitte der Insel ausgewirkt haben. Auch wenn selbst diese regionalen Verallgemeinerungen schwierig sind, kann man doch sagen, dass diese Gebiete in den letzten vier Jahrzehnten eine unterschiedliche sozioökonomische und politische Geschichte hatten.

Das Plantagengebiet war und ist das ärmste Gebiet mit dem schlechtesten Zugang zu jenen Dienstleistungen, die in Sri Lanka normalerweise verfügbar sind, wie z. B. öffentliche Gesundheit und Bildung. Im Norden und Osten führen Familien von durch Krieg und politische Verfolgung Verschwundenen ihren Kampf um Wahrheit und Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen fort und werden regelmäßig von den staatlichen Militärs und durch drakonische «Anti-Terror»-Gesetze unterdrückt. Beispielsweise sind Gedenkfeiern für die im Krieg Gefallenen verboten. In Tausenden von Haushalten leben Menschen mit kriegsbedingten Behinderungen, die keine Unterstützung erhalten und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Im Süden traten viele Männer aus armen ländlichen Verhältnissen in das Militär ein, oft um sich einen Arbeitsplatz bei der Regierung zu sichern. Tausende junger Frauen aus ländlichen Gebieten arbeiteten in Bekleidungsfabriken in den Freien Exportzonen, wo sie die Devisen erwirtschafteten, mit denen die enormen Militärausgaben des Staates finanziert wurden.

In den letzten Jahren hat die Reaktion des Staates auf die Bombenanschläge an Ostern 2019 und die COVID19-Pandemie eine zuvor latent vorhandene Islamfeindlichkeit im sri-lankischen Staat und der Gesellschaft offenbart – sowohl der singhalesischen als auch der tamilischen Gemeinschaften. Zunächst wurden viele einfache Muslime unter den «Anti-Terror»-Gesetzen verhaftet und saßen im Gefängnis, dann wurde der muslimischen Gemeinschaft durch die Zwangsverbrennung der Opfer der Pandemie weiterer Schaden zugefügt.

Wurden diese gesellschaftlichen Spaltungen durch die Wirtschaftskrise ab 2021 noch verschärft?

Eher im Gegenteil: Als die Wirtschaftskrise im Jahr 2021 ausbrach, kam das ganze Land zum Stillstand. Alle Menschen außer den Superreichen standen für das Nötigste wie Benzin, Speiseöl, Lebensmittel usw. in langen Schlangen an – und das oft wochenlang. Im Laufe des Jahres 2021 gab es viele lebenswichtige Güter nicht mehr zu kaufen, selbst wenn man das Geld dazu hatte und die Preise stiegen in astronomische Höhen. Daraufhin erhoben sich Tausende von Menschen und leisteten Widerstand. So wurde auch GotaGoGama (GGG) gegründet, ein Protestdorf aus Zelten im Herzen des Finanz- und Geschäftsviertels von Colombo. Das war ein Höhepunkt dieses Prozesses: die Arbeiter*innen des Landes waren in dieselbe Notlage geraten – und zwar in allen Regionen und über alle Ethnien hinweg, auch wenn die singhalesisch sprechende Mehrheit die Proteste anführte. Die bestehenden Spaltungen der Gesellschaft – sozioökonomische, ethnische usw. – spielten in diesem Protest kaum eine Rolle.

Der undemokratisch an die Macht gekommene Präsident ließ jedoch innerhalb weniger Monate Tausende von Demonstrierenden verhaften. Diesmal waren es überwiegend singhalesisch sprechende, arme Arbeiter*innen, die angegriffen wurden. Die Unterdrückung demokratischer Opposition geht derzeit mit alten und neuen Methoden weiter, einschließlich gewaltsamer Angriffe auf Demonstrierende und der Verabschiedung von Gesetzen, die die Demokratie beschneiden. Es gibt regelmäßig gewerkschaftliche Proteste, die vom Staat angegriffen und unterdrückt werden.

Der staatlichen Repression und insbesondere der weiteren Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards zum Trotz geht der friedliche Widerstand der Bevölkerung aber in kleinen bedeutsamen Schritten weiter. 

Welche Auswirkungen haben diese Proteste im aktuellen Kontext?

Zunächst sind die Proteste von 2021 in einer historischen Linie mit früheren großen Protesten zu verstehen, mit denen in singhalesischen Gebieten der 1970er Jahre, mit den anhaltenden Landkämpfen der Menschen im ganzen Land, mit den langjährigen Kämpfen der Mütter der Verschwundenen im Norden und Osten, mit den mehr als 100 Jahre währenden Kampf für die Rechte der Arbeiter*innen in den Plantagen und mit anderen Kämpfe, die lange vor GotaGoGama begannen und auch danach weitergegangen sind.

Um ein Beispiel zu geben: An dem Tag, an dem der große Protestplatz von GotaGoGama von der Regierung brutal angegriffen wurde, haben wir in Batticaloa, einer Stadt im Osten der Insel, beschlossen, den Batticaloa Justice Walk zu starten. Wir waren nur wenige und dachten, wir würden eine Woche lang laufen. Über das Land war ein Notstandsgesetz verhängt worden, weswegen eine Ausgangssperre bestand, die jegliche Proteste verbot. Trotzdem taten wir das, was Frauen aus den Familien der Verschwundenen seit Jahrzehnten in dieser Stadt tun: Wir marschierten ruhig im Gänsemarsch mit Plakaten auf denen unsere Slogans, Aussagen, Forderungen, Wünsche und Gebete standen. Am 12. Mai 2024 wird der Batticaloa Justice Walk zwei Jahre alt. Wir gehen nach wie vor jeden Morgen von einer Marienstatue am Straßenrand zur Gandhi-Statue in der Stadtmitte – eine Strecke von 2 km.

Die Wanderung ist zu einem Treffpunkt für verschiedene Gemeinschaften und Bewegungen geworden. Von den lokalen Frauengruppen aus den umliegenden Dörfern bis hin zur aufkommenden Queer-Bewegung in diesem Teil des Landes. Behinderte Frauen marschieren regelmäßig mit uns, ebenso wie Schüler*innen im Alter von 16 bis 25 Jahren, die immense Verluste und Traumata erlebt haben und Teil unseres pädagogischen Programms sind. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehen mit uns, wenn sie nicht in der Schule sind. Die Wanderung hat in ihrem Verlauf auch Kunst hervorgebracht – Lieder, Poesie und Theater – genug, um ein ganzes Festival zu veranstalten!

Sind noch weitere Gemeinschaften oder Bewegungen dazugekommen?

Einmal hat sich uns eine Gruppe von 30 Sexarbeiterinnen aus sechs verschiedenen Bezirken des Landes angeschlossen. Sie waren nach Batticaloa gekommen, um an einem Schulungsprogramm zur Durchführung einer Befragung unter 300 ihrer Kolleg*innen aus verschiedenen Teilen des Landes teilzunehmen. Die gesammelten Informationen flossen in den ersten Bericht über den Status von Sexarbeiterinnen in Sri Lanka ein, der 2022 um den 1. Mai herum veröffentlicht wurde. Dieser bahnbrechende Bericht wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als Sexarbeiterinnen als eine der am stärksten marginalisierten und unsichtbar gemachten Gemeinschaften des Landes gezwungen waren, zusammen mit ihren Kindern zu hungern, weil sie während der COVID19- und der Wirtschaftskrise ihren Beruf nicht ausüben konnten. Auch wenn sie weiterhin unter diesen prekären Bedingungen leben und sich im öffentlichen Raum nicht immer vollständig zu erkennen geben können, war der von ihnen recherchierte und veröffentlichte Bericht ein wichtiger Moment in der fortlaufenden Organisierung dieser Gemeinschaft auf der ganzen Insel, einschließlich des vom Krieg zerrütteten Nordens, um Würde, Selbstachtung und kollektive Stärke aufzubauen, um zusammenzustehen und grundlegende Menschenrechte zu fordern. Und es gibt noch viele weitere Beispiele für Widerstand.

Gib uns gerne noch eines.

Eine lokale Frauenorganisation koordiniert zusammen mit einer progressiven kirchlichen Organisation ein informelles Bildungsprogramm für junge Menschen aus marginalisierten Verhältnissen – aus verschiedenen Orten des Landes und über die Religionen hinweg. Das Programm Ezhuval (dt: Sie wird aufstehen) besteht aus einem ganzheitlichen Kurs über Körper, Sexualität, Geschlecht, Feminismus, Patriarchat, Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft, der mit Mitteln einer fundierten Forschungsmethodik und multidisziplinärer Kunst unterrichtet wird. Am Ende des Intensivkurses erstellen die Teilnehmenden eine Forschungs- sowie eine künstlerische Arbeit. Der Kurs steht allen tamilisch sprechenden Frauen und Trans-Personen aus der ganzen Insel offen. Die Gruppen sind in Bezug auf Ort und Religion gemischt. Sie kommen alle aus wirtschaftlich marginalisierten Verhältnissen.

Vier Jahrgänge haben dieses Programm inzwischen schon durchlaufen und seine Auswirkungen sind für alle sichtbar. Es gibt ein Aufblühen, das so aussehen kann, dass ein Mädchen morgens aufwacht und überhaupt fähig ist, etwas zu tun, nach all der Gewalt und des Traumas, das sie erlitten hat. Ein anderes findet schließlich seinen Weg an der Universität, obwohl sie sich das noch vor wenigen Monaten nicht hätte vorstellen können. Ezhuval und die jungen Menschen, die dieses Programm durchlaufen, sind unser Plan für die Zukunft!

So sind die Straße, das Klassenzimmer, die Bühne, das Bild, das Video, der Bericht, die Forschungsarbeit, das Foto, das Gedicht, das Lied und das Theaterstück hier in unserer kleinen Stadt miteinander verbundene Räume des Widerstands.

Ist es das, was Dir Hoffnung und Beharrlichkeit für Deine Arbeit gibt?

Die Erfahrung apokalyptische Zeiten durchlebt und dabei Räume des Protests erhalten zu haben, die kollektiv bestärken, begründet meine Hoffnung. Dass jeden Tag einige von uns aufwachen, auch wenn es nur wenige sind, und durch diese Stadt laufen und Plakate über Dinge hochhalten, die uns an diesem Tag bewegen – von der Steuererhöhung bis zum Krieg in Palästina – ist Hoffnung. Auch wenn nur wenige von uns gehen, hat die Beständigkeit dieses gewaltfreien Protests einen kleinen Raum in dieser Stadt geschaffen, in dem die Grenzen zwischen denen, die protestieren, und denen, die ihrem Alltag nachgehen, verwischen. Der Marsch gibt jeden Tag Hoffnung, dass, auch wenn Leben Kampf ist und Kampf Leben, es möglich ist, dies auf eine fürsorgliche und somit nachhaltige Art zu tun.

Ich schöpfe Hoffnung aus der Geschichte. Dass wir nicht die Ersten oder die Einzigen sind. Dass wir aus einer langen Reihe von Frauen und Menschen stammen, die in allen menschlichen Gesellschaften und zu allen Zeiten der Geschichte aufgestanden sind, um zu protestieren. Die Brutalität der menschlichen Geschichte geht oft einher mit inspirierenden Beispielen und Prozessen des Widerstands. Selbst in dieser Stadt stehen wir auf den müden Schultern einfacher Frauen, die die Hölle des Krieges ertragen haben und dennoch konsequent gegen die Ungerechtigkeit protestiert haben und dies auch heute noch tun. Wie ich meinen Schüler*innen immer sage, gibt es in jeder Geschichte der Unterdrückung auch eine Geschichte des Widerstands. Wir müssen nur hinsehen!
 

Das Interview führte Naira Estevez