Vom 28.-30. November stimmten die ÄgypterInnen zum ersten Mal frei über die Zusammensetzung ihres Parlaments ab. Erste Berichte gehen von einem überwältigenden Sieg der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, die Partei der Muslimbrüder, bzw. ihrer Wahlliste, die auch anderen Parteien und individuelle Kandidaten umfasst, aus. Dies ist keine Überraschung. Die salafistische Nur-Partei und die Liste „Ägyptischer Block“ schnitten ebenfalls erfolgreich ab. Andere Parteien und Wahllisten konnten jedoch Achtungserfolge erzielen. So wird auf Facebook bereits der Sieg von Amr Hamzawy (Freiheitspartei), der als individueller Kandidat in Kairo antrat, gefeiert. Hamzawys Partei ist Teil der linken Wahlliste „Die Revolution geht weiter“.
In dieser ersten Etappe der Parlamentswahlen von insgesamt sechs fand der Urnengang in neun der insgesamt 27 Gouvernorate Ägyptens statt. Zur Wahl standen KandidatInnen für die Volksversammlung, eine von zwei Kammern des Parlaments (mehr zum Ablauf der Wahlen bis März siehe unten). Die Wahl begann mit Berichten über Unregelmäßigkeiten wie zu spät gelieferte Wahlunterlagen, Gewalt an drei Wahllokalen und einem Polizisten, der mehrere Wahlzettel ausfüllte. In den letzten beiden Fällen wurden die Lokale geschlossen.
Die erste Stufe der Parlamentswahl war zunächst auf den 28. November angesetzt. Vor kurzem wurde aufgrund des abzusehenden WählerInnenandrangs die Abstimmung jedoch auf zwei Tage ausgedehnt. Und am 29. November wurde erklärt, dass die Wahllokale so lange offen blieben, bis alle WählerInnen ihre Stimmen abgegeben hätten.
Die wichtigsten Wahllisten und Parteien
(Nicht alle der aufgeführten Parteien sind registriert. Ihre KandidatInnen stellen sich individuell zur Wahl.)
- Liste „Die Revolution geht weiter“. Ein linker Zusammenschluss mit einem Fokus auf soziale Gerechtigkeit und, großteils, Säkularismus. Der Liste gehören an: Partei Sozialistische Volksallianz[i] (Führung muss noch gewählt werden. Schlüsselpersonen sind u.a.: Emad Atiyya, Khaled Al Sayed, Wa´el Gamal, Abdel Ghaffar Shukr), Sozialistische Partei, Ägyptische Freiheitspartei (mit Amr Hamzawy an der Spitze), Ägyptische Strömungspartei (ein Teil der Muslimbrüderjugend), Revolutionäre Jugendkoalition und andere.
- Liste „Freiheit und Gerechtigkeit“ mit der Partei Freiheit und Gerechtigkeit (Muslimbrüder, Führungspersonen: Mohammad Mursi, Saad Al Katatni), die Partei Al Ghad al Thaura (der Morgen der Revolution), der Arbeitspartei, die Partei Al Karama und anderen. Die Partei stellt KandidatInnen für fast alle Parlamentssitze. Das ist ein wichtiger Punkt angesichts anfänglicher Diskussionen innerhalb der Muslimbrüder, höchstens eine knappe Mehrheit im Parlament anzustreben. Diese Rechnung ginge in Ägypten relativ unproblematisch auf, da, nachdem die gewünschte Anzahl in den ersten Wahletappen erreicht ist, Kandidaten in später zur Abstimmung schreitenden Gouvernoraten von ihrer Kandidatur zurücktreten könnten.)
- Liste „Ägyptischer Block“ mit der Partei Freie Ägypter (des prominenten Geschäftsmanns Nagib Sawiris), der Sozialdemokratischen Partei (Schlüsselpersonen: Mohammad Abul Ghar, Farid Zahran, Hazem Biblawi) und der Tagammu-Partei.
- Liste „Al Nur“ (das Licht) mit der Partei Al Nur und anderen salafistischen Parteien und KandidatInnen.
- Al Wasat-Partei (die Mitte), geführt von Abul Ela Madi). Sie ging bereits 1996 aus den Muslimbrüdern hervor, erhielt ihre Lizenz jedoch erst nach der Revolution vom 25. Januar 2011.
- Al-Wafd-Partei (die Delegation), geführt von Al Sayed Al Badawi. Sie wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen die britische Besatzung Ägyptens gegründet. Die Partei ist sehr gut verankert und stellt KandidatInnen für über 80 Prozent der verfügbaren Parlamentssitze.
Parteien, die aus der bis zur Revolution vom 25. Januar regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) hervorgingen, treten ebenfalls zur Wahl an und stellen teilweise KandidatInnen für alle Parlamentssitze. Diese Parteien umfassen die Freiheitspartei, die Nationale Partei, die Konservative Partei, die Partei des Anfangs usw. Ihnen werden jedoch keine großen Chancen zugesprochen, obwohl einzelne Ex-NDP-Angehörige in einigen Wahlkreisen offenbar Stimmenmehrheiten verbuchen konnten.
Der Ablauf der Parlamentswahlen in Ägypten
Das ägyptische Parlament besteht aus der Volksversammlung (Majlis ash-Sha´ab) und der Shura (Majlis ash-Shura). Die beiden Häuser werden getrennt und in jeweils drei Etappen gewählt. In jedem dieser Urnengänge stimmen die Wahlberechtigten in neun der insgesamt 27 Gouvernorate Ägyptens ab. Nachwahlen sind für jeweils sieben Tage nach den individuellen Abstimmungen anberaumt, falls keiner der KandidatInnen über 50% der Stimmen erhält.
Die Volksversammlung
In den Wahlen zur Volksversammlung wird zum ersten Mal in einem gemischten Verfahren gewählt. Zwei Drittel der Sitze werden durch Verhältniswahl vergeben, ein Drittel durch Stimmenabgabe für individuelle KandidatInnen.
Die Wahltermine sind anberaumt für 28./29. November (u.a. in Kairo und Alexandria) und 14./15. Dezember 2011 (u.a. in Giza und Suez) sowie am 3./4. Januar 2012.
Die Volksversammlung umfasst 508 Sitze. Davon werden 498 durch Wahl besetzt, 10 durch den Präsidenten, bzw. aktuell durch den regierenden Militärrat bestimmt. An die 600 Parteien oder Wahllisten konkurrieren um die 332 durch Verhältniswahl zu besetzenden Mandate. Über 6.500 individuelle KandidatInnen bewerben sich auf die über Mehrheitswahl zu füllenden 166 Parlamentssitze.
Die Qual der Wahl
Jede/r Wahlberechtigte hat die Möglichkeit, für eine Partei oder Wahlliste zu stimmen, sowie zwei Stimmen für individuelle KandidatInnen abzugeben. Individuelle KandidatInnen treten in zwei Kategorien an: Berufszugehörigkeit und ArbeiterInnen/Bauern. Die Wähler können sich für zwei Kandidaten einer Kategorie oder für jeweils einen entscheiden. Die Verfassung garantiert 50% der Sitze für „Arbeiter und Bauern“.
Die Shura
Die Wahltermine für die Shura sind am 29. Januar, 14. Februar und 4. März 2012.
Die Shura besteht aus 270 Mitgliedern, von denen 190 durch Wahl bestimmt, 80 weitere vom Präsidenten bzw. aktuell vom Militärrat nominiert werden. 130 der 190 Sitze werden durch Verhältniswahl, 60 durch Mehrheitswahl besetzt.
[i] Zur Sozialistischen Volksallianz siehe außerdem das Interview mit Akram Ismail in der jungen welt vom 22.11.2011, http://www.jungewelt.de/2011/11-22/058.php.