Nachricht | International / Transnational - Nordafrika Neuer Aufschwung in der palästinensischen Jugend

Interview mit Herak Shababi Mustaqila, der unabhängigen Jugendbewegung in Palästina vom 15. November 2011

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Im Frühjahr 2011 erlebte politischer Aktivismus in der palästinensischen Jugend einen neuen Aufschwung. Nach einigen Solidaritätsaktionen mit der ägyptischen Revolution wandte man sich schnell internen palästinensischen Themen zu. Beispielhaft dafür steht die Abwandlung des populärsten Slogans des Tahrir-Platzes: Aus der Forderung nach dem Sturz des Regimes wurde der Ruf nach dem Ende der politischen Spaltung.

Im Zuge der Proteste des Frühjahrs hat sich Herak Shababi Mustaqila gegründet, eine neue palästinensische Jugendbewegung, die ihre Unabhängigkeit von den etablierten Parteien betont.

 

Ich möchte euch eine Frage stellen, die im palästinensischen Kontext naheliegt: Habt ihr einen Vorsitzenden oder einen Sprecher?

(Gelächter)

A: Nein, haben wir nicht. Wir sind keine Partei und haben auch nicht vor, eine zu werden. Jeder und jede von uns handelt nach seinem Wissen und Fähigkeiten. Wenn Y. Herak repräsentiert, dann vertraue ich ihr, dass sie das gut machen wird. Aber jeder von uns berichtet den anderen, wenn er etwas im Namen unserer Gruppe tut. Und wir haben Kommitees für unterschiedliche Aufgabengebiete, wie beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit.

B: Uns ist es aus unterschiedlichen Gründen wichtig, unabhängig von politischen Parteien zu sein: Es gibt in der Bevölkerung ein großes Misstrauen gegenüber den Entscheidungsträgern der etablierten Parteien und der Palästinensischen Autonomiebehörde. Wir wollen unabhängig von denen sein, die ihren eigenen Parteiprogrammen nicht folgen, wenn sie denn überhaupt eins haben. Parteien gibt es schon genug! Wir brauchen etwas anderes. Wir, die Herak, funktionieren schon jetzt weit besser als eine Partei.

M: Wir gehören weder zur Hamas oder Fatah. Uns wird nachgesagt, wir gehörten zu den linken Parteien, aber das stimmt nicht: Bei uns sind PalästinenserInnen aus allen Gesellschaftsschichten und mit sehr unterschiedlichen politischen Biografien vertreten. Uns vereinen unsere gemeinsamen Ziele, die Befreiung Palästinas und soziale Gerechtigkeit. Aber wir haben kein Parteiprogramm. Wir diskutieren gerne und unsere Meinungen gehen in vielen Fragen auseinander. Dabei soll es auch bleiben!

Wie seid ihr denn organisiert?

B: Wir haben lokale Gruppen in verschiedenen Städten der Westbank und des Gazastreifens, aber auch innerhalb Israels. Zusätzlich sind wir in Syrien und im Libanon aktiv. Wir unterstützen uns gegenseitig bei unserer lokalen Arbeit, haben aber keine Hierarchie zwischen den einzelnen Gruppen und sind unabhängig in unserer politischen Ausrichtung.

M: Natürlich ist der Kontext, in dem unsere Gruppen arbeiten, sehr unterschiedlich. Schau dir beispielsweise die Aktivitäten rund um den Jahrestag der Nakba (arab.: Katastrophe. Am 15. Mai jeden Jahres, dem Jahrestag der israelischen Staatsgründung, wird an die von Israel vertriebenen PalästinenserInnen erinnert.) an: Während palästinensische Jugendliche aus Syrien und dem Libanon die israelischen Grenzanlagen überquerten, wurden AktivistInnen aus Gaza von der Hamas daran gehindert. In Gaza werden alle Jugendgruppen von der Hamas beobachtet und brauchen sogar eine Erlaubnis für Solidaritätskundgebungen mit der Gaza-Flottille.

Y: In Jerusalem gibt es das gleiche Problem: Die Israelis verhindern alles. Gestern erst wollten wir vor dem American Colony Hotel in Ost-Jerusalem protestieren, weil Tony Blair als Vertreter des Nahost-Quartetts dort war. Wir hatten schon unsere Transparente bereit, wurden aber von der Israelischen Polizei in Gewahrsam genommen, bevor wir überhaupt anfangen konnten.

Und wie ist euer Verhältnis zur Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank?

 B: Zunächst einmal: Die PA steht nicht im Mittelpunkt unserer Kritik, das würde irreführen. Sie ist der Preis der Oslo-Verträge und ihre Politik ist nur eine Folge davon. Wer sich auf eine Kritik der PA beschränkt, läuft Gefahr, damit den Kampf gegen die israelische Besatzung schwächen. Die Besatzung ist unser zentrales Problem, auf das wir uns konzentrieren müssen.

Aber wir kämpfen für unsere Rechte und dazu gehört auch, die PA gegenüber der Bevölkerung bloßzustellen und aufzudecken, dass sie nicht den palästinensischen Zielen folgt.

A: Am Anfang hat die PA unsere Bewegung unterstützt, weil sie uns gegen die Hamas instrumentalisieren wollten. Sie haben sogar Sandwiches auf unseren Demonstrationen verteilt.

M: Man muss bedenken, wie die aktuelle palästinensische Jugendbewegung begann: Zunächst gab es Einzelne, die ihre Solidarität mit der ägyptischen Revolution zeigen wollten. Als sich die Bewegung dann der palästinensischen Situation zuwandte und das Ende der politischen Spaltung gefordert wurde, tauchten plötzlich die Führungsfiguren aller politischen Parteien auf und wollten Teil der Bewegung sein. Meistens kamen sie dann aber nur, sprachen mit der Presse und gingen wieder.

B: Sie haben schnell gemerkt, dass es bei den Protesten nicht nur um die Spaltung ging, sondern auch um soziale Gerechtigkeit, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch um die Gleichstellung von Mann und Frau. Als die PA merkte, dass sie uns nicht benutzen oder zumindest kontrollieren können, fingen sie an uns einzuschüchtern, unsere Aktivitäten zu unterdrücken und einige von uns in Gewahrsam zu nehmen. Ich war von Anfang an kritisch gegenüber der Forderung, die Spaltung zwischen Hamas und Fatah zu beenden. Erstens vergisst man dabei, dass die politische Landschaft aus mehr Gruppen und Parteien als den beiden besteht. Außerdem sind sowohl Fatah als auch Hamas korrupte Bewegungen, ihre Vereinigung würde politisch ein noch viel größeres Desaster bedeuten. Ich weiß aber, dass in unserer Gruppe nicht alle dieser Meinung sind.

In Bezug auf die arabischen Revolutionen wurde ja viel über die Rolle von sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook gesprochen. Wie schätzt ihr das für Palästina ein?

 

Y: Wenn man sich die in den Protesten aktiven Jugendlichen ansieht, wird deutlich, dass die meisten von ihnen politisch sehr unerfahren ist. Nach den Generationen der ersten und zweiten Intifadas ist jetzt eine neue Generation auf der Straße. Die aktuellen Ereignisse sind stark vom Arabischen Frühling inspiriert, es wurde aber versäumt, die palästinensischen Bedingungen zu berücksichtigen.

 A: Am Anfang gab es eine Facebook-Gruppe gegen die politische Spaltung in Palästina. Aber das ist eine Forderung der Alten! Wenn Abgesandte der politischen Parteien zu Demonstrationen gegen die Spaltung kommen, ist das doch eine Täuschung: Wenn sie die Wiedervereinigung wirklich wollten, könnten sie es einfach tun. Viele verstehen nicht, wie Facebook funktioniert. Jeder kann mit einem falschen Account eine Seite einrichten und zu irgendwas aufrufen. Die Parteipolitiker sehen nur 1.000 follower bei Facebook und denken, dass sie da aufspringen müssen.

M: Wir sind auch von Munib al-Masri eingeladen worden, dem über siebzig Jahre alten Vorsitzenden des offiziellen Higher Youth Council. Wir haben die Einladung aber abgelehnt. Wir machen uns doch nicht lächerlich.

B: Die dachten: Wow, eintausend organisierte Jugendliche, von denen wir nichts wussten. Alle Parteien sprangen auf die Facebook-Veranstaltungen auf, die sich selbst „Palestinian Spring“ nannten. Aber schnell wurde klar, dass Facebook oder twitter kein Ersatz für politische Aktionen sind. Das wird dir sehr bewusst, wenn hunderte sich für eine geplante Aktion bei Facebook anmelden, aber nur eine Handvoll auftaucht.

 

M: Es kommen aber auch einige nicht, weil sie Angst vor der Polizei haben. Und viele andere können sich nicht den Luxus leisten, den ganzen Tag auf Facebook und Twitter zu sein.

A: Klar, aber die Frage ist doch: Würde wirklich wieder etwas durch Facebook passieren? Ich glaube nicht. Politischer Aktivismus beruht doch ganz generell auf Freiwilligkeit. Aber diese Kultur, sich freiwillig zu engagieren, müssen wir erst wieder zurückgewinnen. Heute wollen PalästinenserInnen nicht mehr einen Teil ihrer wertvollen Zeit für die gemeinsame Sache hergeben. Wie gesagt: Es gibt jetzt eine ganze Generation ohne die Erfahrung von öffentlichem Protest und Widerstand auf der Straße. Zusätzlich ist das gesamte Bildungssystem entpolitisiert worden. In unserer Kultur heute heißt es „Ich“ und nicht mehr „wir“, wie es einmal war in Palästina.

Lasst uns über eines der Themen sprechen, an denen ihr zur Zeit arbeitet. Im Oktober habt ihr eine Blockade einer Jugend-Konferenz organisiert, die von USAID finanziert wurde. Was ist euer Problem mit der internationalen Entwicklungshilfe in Palästina?

M: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen gegen USAID zu protestieren. Schau dir an, wie sie den Straßenbau finanzieren. Seit Israel das palästinensische Straßennetz für seine Siedlungen annektiert hat, finanziert USAID den Bau eines zweiten Straßennetzes. Dadurch helfen sie Israel faktisch, im Straßenbau ein Apartheidssystem zu etablieren. Das gleiche Prinzip findet sich bei der Finanzierung palästinensischer Landwirtschaft: USAID zahlt für Zäune, Düngemittel und andere Produkte. Diese Bauern haben aber ihr Land durch die israelische Apartheidsmauer und die kolonialistische Siedlungspolitik verloren. Was die palästinensische Landwirtschaft eigentlich bräuchte, um die Ernährungssicherheit der palästinensischen Bevölkerung zu gewährleisten, wäre eine Rückgabe dieses palästinensischen Lands. Die Unterstützung der Bauern im status quo versucht nur die Effekte der israelischen Besatzung etwas abzumildern.

A: Auch die Palästinensische Jugend kann auf die internationale Finanzierung gut verzichten! Es ist ganz einfach: Wenn du dich organisieren willst, organisierst du dich. Es haben uns schon viele internationale Organisationen angesprochen und ihre Unterstützung angeboten. Wir haben abgelehnt. Durch diese Einflussnahme würden wir uns entweder zu einer Partei entwickeln oder zu einer NGO. Das einzige Geld, das wir für unsere Arbeit brauchen, bekommen wir durch Beiträge von unseren Mitgliedern.

B: Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist ein gutes Beispiel: Ihr wollt die Palästinensische Linke unterstützen, aber mit denen könnt ihr nur Studien produzieren und Veranstaltungen organisieren, bei denen palästinensische Linke über Dinge sprechen, die sie nie umsetzen werden.

Ihr habt also das Gefühl, euch kein Programm für Herak geben zu müssen und das gemeinsam zu diskutieren?

B: Natürlich müssen wir das! Aber im Moment fokussieren wir uns auf politische Aktionen, beispielsweise zur Unterstützung der palästinensischen Gefangenen in Israel. Ein weiterer Schwerpunkt sind Proteste gegen die Pläne der PA, kleinere Ortschaften an größere anzugliedern. Diese Reform hilft Israel dabei, die Westbank weiter in verschiedene Blöcke zu unterteilen. Natürlich sollten wir uns aber zusammensetzen und darüber diskutieren, wie wir uns längerfristig entwickeln wollen. Dafür treffen wir uns im Dezember zu einer Debatte, die für alle Interessierten offen ist. Aber wir sollten nicht vergessen, dass wir immer noch eine sehr junge Bewegung sind.

In Palästina ist fehlende politische Repräsentation ein großes Thema. Aktuell gibt es zum Beispiel eine Diskussion über eine Reform der PLO. Seht ihr euch als Teil dieser Debatte? Schließlich seid ihr auch in Syrien und im Libanon vertreten.

A: Die Reform der PLO ist ein wirklich schwieriges Thema. Ich frage mich, was es da eigentlich noch zu reformieren gibt, und würde mich eher für einen Neuanfang aussprechen.

M: Auch wenn gerade über Wahlen zum PLO National Council, dem „PLO-Parlament“ diskutiert wird: Befreiungsbewegungen erhalten ihre Legitimierung nicht durch Wahlen. Wirf einen Blick auf den Wahlsieg der An-Nahda-Partei in Tunesien – sieht so das erhoffte Ergebnis einer Revolution aus?

B: Was die politischen Organisation in Palästina betrifft: Wir müssen das gesamte patriarchale System dekonstruieren! Das Problem ist nicht nur, dass die aktuellen politischen Instanzen sehr hierarchisch organisiert sind und in den Händen weniger Entscheider liegen. Der Missstand liegt tiefer: Wir haben diese Denkweise alle internalisiert.Wenn wir also den organisatorischen Aufbau von Parteien und NGOs kritisieren, können wir noch keine alternativen Strukturen anbieten.

Leider haben wir oft zu wenig Zeit, um kritische Perspektiven zu entwickeln und uns von kolonialen Denkmustern zu befreien. Ich bin mir sicher, dass wir viele Fehler machen werden. Auch deshalb ist es wichtig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, was die Entwicklung der politischen Parteien und das NGO-Wesen in Palästina betrifft.

Wie steht ihr zu der Initiative, Palästina als Staat von den vereinten Nationen anerkennen zu lassen?

B: Sicherlich hat die Bewerbung der PA weltweite Aufmerksamkeit eingebracht. Aber die Initiative stärkt noch nicht einmal die Zwei-Staaten-Lösung, sondern beschränkt sich auf das, was Israel von der Westbank übrig gelassen hat. Das Ergebnis jeder Aufnahme in die UN ist klar: Die Besatzung bleibt.

A: Wir setzen keine Hoffnung auf internationalen Druck: Bisher hat der UN-Prozess vor allem deutlich gemacht hat, dass die internationale Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung ein Irrglaube war. Besonders deutlich wird das durch das Verhalten von Staaten wie Deutschland und den USA.

Was wäre eurer Meinung nach eine effektive Strategie zur Befreiuung von der israelischen Besatzung?

Y: Wir unterstützen alle Widerstandsformen, wenn sie gut begründet und Teil einer umfassenden palästinensischen Strategie sind. Generell glauben wir aber an massenhaften Widerstand und dieser muss prinzipiell gewaltlos sein, um eine breite Beteiligung zu ermöglichen.

B: Eine sehr effektive und gewaltlose Strategie ist die BDS-Kampagne (Boykott, Kapitalabzug, Sanktionen), die wir uneingeschränkt unterstützen. Sie verbindet drei Ziele, die auch wir teilen: Das Ende der Besatzung, gleiche Rechte für PalästinenserInnen in Israel und das Rückkehrrecht für Palästinensische Flüchtlinge.

M: Wir haben von der Position der deutschen Linken gehört: Die sprechen ja wie die Rechten! Vielleicht müssen wir die Deutschen daran erinnern, dass sie nicht nur eine Verantwortung für die Staatsgründung Israels, sondern damit auch für die Kolonialisierung Palästinas und die Vertreibung der PalästinenserInnen tragen. Der deutsche Zionismus empört mich und ich habe keinerlei Hoffnung in deutsche PolitikerInnen. Aber ich lade alle Jugendlichen aus Deutschland ein, sich über die BDS-Kampagne zu informieren und an ihr Teil zu nehmen. Wenn sie an massenhaften Widerstand glauben: Hier ist er!

A: Aber lasst uns Gewaltlosigkeit nicht mit Selbstaufgabe verwechseln! Als uns bei einem unserer Proteste die Israelische Armee bedrohte, sagte eine internationale Aktivistin, wir sollten die Hände hochnehmen. Aber das wäre idiotisch gewesen, da wäre mir ja meine Hose runtergerutscht!

Interview: Peter Schäfer, Salam Hamdan

Deutsche Übersetzung: Kersten Augustin

Rosa-Luxemburg-Stiftung Ramallah