Der Buchladen Schwarze Risse im Mehringhof in Berlin-Kreuzberg erlebte am 10. Juli 2012 erstmals eine Buchvorstellung im lateinamerikanischen Stil: Zwei Kommentatoren, die das Buch bereits gelesen hatten - Prof. Dr. Klaus Meschkat, Hannover, und Dr. Kristina Dietz vom Lateinamerikainstitut in Berlin - stellten ihre Kritik vor. Im Anschluss nahm die Herausgeberin, die Leiterin des Regionalbüros Quito, Miriam Lang, dazu Stellung.
Die Diskussion war eine Kooperationsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem FDCL (Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika), den Lateinamerika-Nachrichten und dem Buchladen «Schwarze Risse».
Der Sammelband «Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation» analysiert, wie sich die politischen Gesellschaften in Venezuela, Bolivien und Ecuador nach den jeweiligen verfassunggebenden Versammlungen entwickelt haben. Neue Konzepte, die sich vom kolonialen Erbe absetzen und der Diversität der Andengesellschaften Rechnung tragen, entstanden und haben innerhalb weniger Jahre eine Ausstrahlung weit über die Region hinaus erlangt. In dem Buch analysieren Autorinnen und Autoren aus Bolivien, Ecuador und Venezuela kritisch, inwieweit der Machtwechsel dort effektiv zu mehr Demokratie und Partizipation geführt hat, und welche konkreten Formen der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in den letzten Jahren annimmt. Da Sozialismus in Lateinamerika nicht ohne die kubanische Erfahrung denkbar ist, befassen sich zwei Beiträge auch mit der jüngeren Geschichte der Insel. In deutscher Übersetzung und mit aktualisierten Inhalten erschien das Buch Anfang Juli 2012 im Berliner Dietz-Verlag.
Der erste Kommentator, Klaus Meschkat, lobte die, wie er es nannte, „Wiederbelebung des Internationalismus“, die er in diesem Buch, aber auch in der Arbeit des Andenbüros der rls findet. Internationalismus als Austausch, als gegenseitiges Lernen, bei dem man „mit den Freunden in Lateinamerika die gescheiterten Formen des europäischen Sozialismus“ bespreche. Als Teilnehmer jener Konferenz, die den Anlass zur Entstehung des Buches gab, hob er die Brückenfunktion hervor, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung in dieser Hinsicht im Andenraum einnehme.
Stärken des Buches sieht er in den hervorragenden Analysen von Pablo Ospina (Ecuador), Patricia Chávez und Dunia Mokrani (beide Bolivien), sowie den gewichtigen theoretischen Artikeln von Boaventura de Sousa Santos und Eduardo Gudynas. Sie machten die politische Konjunktur auf dem lateinamerikanischen Kontinent begreifbarer und hinterfragten gleichzeitig den Eurozentrismus vieler Linker. Die Prozesse würden durchaus kritisch beleuchtet, ohne jedoch die progressiven Regierungen in der Region in Frage zu stellen.
Die Frage „Was will mir die Autorin sagen?“ diente Kristina Dietz als Leitfrage bei der Lektüre der Einleitung des Buches. Eine Antwort fand sie in der Beobachtung, dass sich die neuen Krisen des Kapitalismus in Lateinamerika verschärft haben sowie in der Frage nach der Bearbeitung dieser Krisen. Das Buch frage nach den Zielen tranformatorischer Prozesse, aber auch nach den Brüchen und Widersprüchen, stellte sie fest. Insofern würden hier nicht bestehende linke Reflexionen an Lateinamerika angepasst, sondern innere Debatten aus Lateinamerika dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Es zeige auch, dass emanzipatorische Prozesse immer kontextgebunden seien, wie im Fall von Bolivien und Ecuador an die Dekolonisierung.
Während Klaus Meschkat Raul Pradas Text für veraltet hielt, da er aus dem Jahr 2010 stammt, als Prada noch bolivianischer Vizeminister für strategische Planung war, fand ihn Kristina Dietz enorm wichtig, weil er einen Einblick in diesen emanzipatorischen Prozess aus der Perspektive der Regierung gebe. Wie ihr Ko-Kommentator hob sie die Artikel von Boaventura de Sousa Santos und Eduardo Gudynas hervor, die ihrer Meinung nach Einblicke vermitteln in andere Arten, die Welt zu reflektieren.
Fragen zu Gender und Indigenen sowie Aspekte rassistischer Unterdrückung im Falle der afrostämmigen Bevölkerung hätte sie jedoch gerne stärker herausgearbeitet gesehen.
Miriam Lang als Herausgeberin schilderte die Suche danach, wie gesellschaftliche Transformation funktionieren kann. Die weltweiten Krisen des Kapitalismus seien in Lateinamerika existenzieller spürbar – sie prägte hierfür den Ausdruck „Produktion von Armut“, die unter dem Deckmantel der Armutsbekämpfung durch Wirtschaftswachstum permanent stattfinde. Diese ginge nicht zuletzt von Staaten aus, die von einer kolonialen Struktur durchdrungen seien. Vor diesem Hintergrund sieht sie Raul Pradas Artikel nach wie vor als wichtig an, weil damals um die Frage gerungen wurde: Was machen wir mit diesem kolonialen Staat, den wir geerbt haben? Der Sammelband zeige die verschiedenen Seiten der Transformation auf: Einerseits das utopische Potential in den lateinamerikanischen Aufbruchprozessen: Plurinationalität und Buen Vivir als Ergebnis jahrzehntelanger Kämpfe – und andererseits die Fragen: Was ist daraus geworden? Welche Widersprüche gibt es? Ist das Ende von einer Utopie bereits in Sicht?
Unter den TeilnehmerInnen der mit 40 Personen gut besuchten Buchvorstellung gab es eine angeregte Diskussion, die auch nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung im Mehringhof fortgesetzt wurde.
Demokratie, Partizipation, Sozialismus.
Lateinamerikanische Wege der Transformation
Hrsg.: Miriam Lang
Manuskripte 96 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin
Ca. 200 Seiten,12,90 Euro, ISBN 978-3-320-02282-2