Herr Demirtaş, können Sie uns zunächst über den Friedensprozess in der Türkei und die anstehenden Schritte informieren?
Vergangene Woche hat Abdullah Öcalan, der auf der Insel İmralı inhaftiert ist, einen Entwurf für einen schriftlichen Textvorschlag als Grundlage für den Friedensprozess vorgelegt. Das ist eine gute Gelegenheit, die Gespräche, die seit vielen Monaten laufen, in einen offiziellen Verhandlungsprozess zu überführen. Was sind «Verhandlungen», was muss überhaupt verhandelt werden, das liegt nun konkret vor. Genau genommen hat die kurdische Seite durch den vorgelegten Entwurf von Öcalan diese Sachen konkretisiert. Die Regierung muss nun sagen, ob sie diesen Entwurf bestätigt, ob sie auf dieser Grundlage Verhandlungen führen, ob sie die Vorlage diskutieren möchte. Wir warten im Moment noch auf die Antwort. In den nächsten Wochen wird sich das klären müssen, denn die Union der Gemeinschaften Kurdistans (Koma Civakên Kurdistan, KCK) hat den Entwurf bestätigt und angekündigt, auf dieser Basis Verhandlungen führen zu wollen. Die KCK hat öffentlich erklärt, dies seien die Themen und Methoden sowie der Aktionsplan. Wenn nun auch die Regierung eine ähnliche Erklärung abgibt, können die Verhandlungen losgehen.
Natürlich heißt der Beginn von Verhandlungen nicht, dass das Problem gelöst ist oder sich wird lösen lassen. Aber wir werden in ein Stadium von Dialog und Verhandlungen eingetreten sein, und die Seiten können ihre Forderungen, Wünsche und Erwartungen abgleichen.
Das heißt, die Verhandlungen werden eine juristische Grundlage bekommen, es wird im Parlament eine Kommission eingerichtet, die den Prozess verfolgt? Oder wird das noch eine Weile dauern?
Die laufenden Gespräche verfügen bereits über eine juristische Grundlage. Es gibt ja ein Gesetz, das beschlossen ist. Die Verhandlungen sind zwar noch nicht offiziell losgegangen, aber am Ende wird es doch ein gemeinsames Protokoll geben. Durch Parlamentsbeschlüsse wird dieses Protokoll mit Leben gefüllt werden können. Aber das wird noch ein paar Monate dauern. Bisher wird noch nicht einmal offiziell verhandelt. Das ist mehr oder weniger die Situation, in der wir uns im Augenblick befinden.
Die HDP will bei der Wahl 2015 als Partei antreten. Wenn die 10-Prozent-Hürde nicht abgesenkt wird und die HDP, warum auch immer, diese Hürde nicht schafft – im Moment sagen die Institute Ihnen ja 9% voraus – , wie werden die politische Arbeit, auch der Friedensprozess, dann weitergehen?
Im Augenblick sprechen wir nicht über ein solches Szenario. Im Augenblick geht es uns darum, über die 10%-Hürde zu kommen, das steht jetzt erst einmal an. Wir können jetzt nicht davon ausgehen, dass wir nicht ins Parlament einziehen. Zumindest bereiten wir uns darauf vor, den Einzug zu schaffen. Unser Wahlprogramm, die Mobilisierung und der Wahlkampf sind darauf ausgerichtet, in der nächsten Legislaturperiode als Fraktion im Parlament vertreten zu sein. Wir schaffen die Hürde!
Ich möchte, im Zusammenhang mit dem Friedensprozess, auch auf Syrien, Rojava und den sogenannten Islamischen Staat zu sprechen kommen. Es ist mehr als deutlich, dass Sie das vor Schwierigkeiten stellt: Einerseits wollen und müssen Sie den Friedensprozess in der Türkei fortführen, andererseits die Solidarität mit Kobanê/Rojava befördern. Erhalten Sie ausreichend Unterstützung von der demokratischen Linken in der Türkei in diesen beiden Fragen? Gibt es, neben der individuell geleisteten humanitären Hilfe, auch politische Unterstützung? Steht also die demokratische Linke an Ihrer Seite?
Ohne Zweifel könnten die humanitäre Hilfe, die Solidarität, der gemeinsame Kampf noch ausgebaut werden, aber die demokratische Linke und sozialistische Spektren waren niemals ignorant. Seit dem Beginn, vom ersten Tag an, haben sie die Revolution in Rojava und den Widerstand in Kobanê unterstützt. Viele türkische Jugendliche sind dort hingefahren und haben auf der Seite kurdischer Milizen – der Yekîneyên Parastina Gel (YPG) und ihrer Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) – am Widerstand gegen den «Islamischen Staat» teilgenommen, einige sind gefallen. Es gibt eine ernsthafte Annäherung, eine große Wertschätzung. Andererseits gibt es nach wie vor nationalistische Spektren, die immer noch dem Kemalismus anhängen und deswegen vorsichtig reagieren. Allerdings bezeichnen wir solche Leute auch nicht als links oder sozialistisch. Revolutionäre Spektren in der Türkei sind demgegenüber von Anfang an gemeinsam mit Rojava und Kobanê vorgegangen.
Aber Defizite haben wir alle, auch die kurdische Bewegung und kurdische Organisationen, wenn es um Solidarität und Unterstützung geht. Wenn es Defizite gibt, sind das also nicht nur die der revolutionären Spektren aus der Türkei. Es sind gemeinsame Defizite von uns allen, auch kurdische Defizite.
Unabhängig von der Absenkung oder Aufhebung der 10-Prozent-Hürde bei den Wahlen gibt es in der Türkei ein weiteres Problem, wo Ihre Haltung als HDP entscheidend sein könnte: die anstehenden Verfassungsänderungen. Was ist in Bezug auf eine Demokratisierung der Verfassung oder die Einführung eines Präsidial-Systems zu erwarten?
Wir sind ganz und gar gegen ein Präsidialsystem. Das ist etwas, das wir gar nicht akzeptieren können. Wir haben ein ums andere Mal öffentlich erklärt, dass wir eine solche Verfassungsänderung keinesfalls unterstützen werden. Unser eigener Verfassungsentwurf liegt vor. Er ist, inklusive der Website des türkischen Parlaments und unserer Parteiseite, im Internet einsehbar. Artikel für Artikel finden sich dort unsere Vorstellungen und konkreten Vorschläge zu Demokratie, Freiheit, Menschenrechten, Kollektiv-Rechten, Individual-Rechten, zu Staatsregierung, Religions- und Meinungsfreiheit, Freiheit aller Identitäten, zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Unabhängigkeit der Medien, Behindertenrechten, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Vom muttersprachlichen Unterricht im Artikel zur Autonomie über die Rechte aller Staatsangehörigen ist der Entwurf ein Ganzes. Wir entwerfen darin ein zusammenhängendes demokratisches Gemeinwesen und einen demokratischen Staat. Wir haben also klar und unmissverständlich unsere Vorstellungen veröffentlicht. Wie könnten wir da ein despotisches, auf einen Mann zugeschnittenes System befürworten? Damit würden wir gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen. Ob wir als Fraktion ins Parlament einziehen oder nicht: Wir werden kein Präsidial-System unterstützen, das auf eine Person zugeschnitten ist. Das ist nicht möglich.
Es gibt in Europa Entwicklungen zur Aufhebung des PKK-Verbots. Es sieht so aus, als würde auch DIE LINKE in der Bundesrepublik sich hier stärker engagieren. Wie würde die Aufhebung des Verbots das Tableau in der Türkei verändern?
Zum einen würde das den Verhandlungsprozess unterstützen. Denn es ist eine bizarre Situation, dass eine Organisation, mit der die Türkische Republik Verhandlungen führt, als Terrororganisation geführt wird. Der türkische Staat verhandelt mit dem Vorsitzenden, bringt Gesetze raus, es ist wahrscheinlich, dass offizielle Verhandlungen beginnen, in dem Land, mit dem sie sich im Kriegszustand befunden hat – und parallel dazu gilt die PKK in europäischen Ländern und in anderen Ländern der Welt offiziell als Terrororganisation. Dieser falsche Zustand muss aufgehoben werden. Das würde auch das Streben nach Frieden in der Türkei unterstützen. Es würde die PKK ermutigen, sich der demokratischen Politik zuzuwenden und also die Tür einen Spalt weit öffnen. Und aus kurdischer Perspektive wäre es die Korrektur eines historischen Fehlers.
Seit den Präsidentenwahlen im August 2014 dürfen auch türkische Staatsangehörige in Europa mitstimmen. Wann werden Sie mit dem Wahlkampf in Europa beginnen?
Im Rahmen dieser Besuchsreise haben wir begonnen, Gespräche zu führen. Die Vorarbeit hat also begonnen, kann ich sagen. Die Konzeptarbeit in Arbeitsgruppen hat begonnen. Für uns ist natürlich jede Stimme aus Europa sehr, sehr wichtig. Die Auslandsstimmen werden die Wahl entscheiden, wie es aussieht. Mitglieder und Unterstützungsspektren der HDP, demokratische Menschen, sollten in Europa gemeinsam vorgehen. Historisch wird es vielleicht die wichtigste Auseinandersetzung mit dem despotischen, auf eine Person zugeschnittenen, unterdrückerischen System in der Türkei sein, die hier geführt wird. Eine Wahl ist aber mehr als eine Stimmabgabe. Wahlen sind auch Organisierung und Mobilisierung und eine Auseinandersetzung um Ideen – wenn es uns gelingt, wie wir es erwarten, hunderttausende Stimmen in Europa zu bekommen, werden wir zum einen die Hürde sicher überspringen und zum anderen mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Identität ins Parlament einziehen. Dann wird die Türkische Nationalversammlung, das Parlament, zu einem Ort, wo tatsächlich die gesamte Bevölkerung repräsentiert wird. Vor diesem Hintergrund ist uns der Wahlkampf in Europa, die Wahl selbst, so wichtig wie im Land selbst. Ich kann sagen, wir haben die Ärmel schon hochgekrempelt – und auch schon mit der Arbeit begonnen.
Die Kämpfe in Rojava, die nun schon mehrere Monate andauern und beim Widerstand in Rojava/Kobanê ist, wenn auch auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner, eine Einheit und Solidarität in kurdischen Spektren entstanden. Wie kann diese Solidarität langfristig verstätigt werden – wie kann also die Bewegung auf eine breite Basis gestellt werden? Eine gemeinsame Bewegung und Demokratisierung vonstattengehen – und welche Bestrebungen gibt es in diesem Bereich?
Es stimmt, dass die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates verschiedene kurdische Spektren angenähert hat, auch solche, denen es bisher noch nicht gelungen war, im politischen Raum gemeinsam vorzugehen. Der gemeinsame Kampf an der Front, die gemeinsame Selbstverteidigung, hat dies an der Basis zu Annäherungen geführt, die auch in politischen Zentren eine Annäherung erzwungen hat. Auch wenn sie es nicht wollten, mussten politische Bewegungen in Kontakt zueinander treten. Natürlich sind die Kurd_innen seit sehr langer Zeit auf verschiedene Territorien aufgeteilt, mit Erklärungen des guten Willens hätte es da keine Annäherung und Einheit gegeben. Deswegen muss es eine National-Konferenz geben, und um diese Konferenz herum lässt sich an einer Einheit arbeiten. Die Einheit muss institutionalisiert werden. Ich kann wohl sagen, die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates haben zu Annäherungen geführt und die Auseinandersetzungen über eine Zusammenarbeit im Rahmen einer Nationalkonferenz erreichen ein ernst zu nehmendes Stadium und versprechen Hoffnung.
Vielen Dank.
Interview: Kadriye Karcı (Übersetzung: Koray Yılmaz-Günay)