Es begann als eine Aktion der Taksim-Plattform, um den Istanbul Gezi Park vor seiner Zerstörung zu schützen. Innerhalb weniger Tage weitete sich die Besetzung des Gezi-Parks zu massiven Protesten aus. Ein Auslöser war das aggressive Vorgehen der Polizei. Ende Mai 2013 wurden in aller Frühe die Protestierenden vom Park vertrieben, ihre Zelte verbrannt. Binnen 24 Stunden fanden landesweit Hunderte Solidaritätskundgebungen statt. Bis Mitte Juni 2013 gab es fast 5.000 Verletzte, vier Tote und 53 Schwerverletzte, Tausende saßen in Untersuchungshaft.
Trotz Medienblockade und Polizeibrutalität gingen Hunderttausende auf die Straße zur Unterstützung der Gezi-Park-Bewegung. Inzwischen geht es bei den Protesten nicht nur darum, den Gezi-Park zurückzufordern, sondern um demokratische Rechte, Meinungs- und Pressefreiheit, das Versammlungsrecht und demokratische Mitgestaltung.
Einschränkung der Meinungsfreiheit, Verhaftungswellen bei JuristInnen, Entlassungen von JournalistInnen, ausufernde Selbstzensur, die Privatisierung öffentlicher Gütern und öffentlicher Räume waren dem vorausgegangen. Oppositionelle Stimmen waren zum Schweigen gebracht worden.
In der aktuellen Bewegung in der Türkei greifen verschiedene Problematiken ineinander. Der Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks ist ein Angriff auf einen öffentlichen Raum, der für alle und offen sein sollte. Die Sensibilität für Umweltfragen trifft sich mit Kapitalismus- und Gentrifizierungskritik, es geht um umfassende demokratische Rechte.
Daher entstand aus der Taksim-Plattform die Gruppe Taksim Solidarität mit fast 90 Organisationen, darunter Gewerkschaften, Berufsverbände, Kiezvereine, regionale Organisationen gegen den Bau von Staudämmen und für Naturschutz.
Zentrale Forderungen sind:
- Erhalt des Gezi-Parks und Mitbestimmung bei solchen Planungen;
- Stopp der unverhältnismäßigen Polizeigewalt;
- Gewährleistung und Sicherung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit;
- Juristische Aufarbeitung der Polizeigewalt.
Die Regierung und Ministerpräsident Erdoğan wollen eine religiös geprägte Gesellschaft, sie geben vor, wie mit der Geschichte umgegangen werden soll, wie viele Kinder Mann und Frau haben sollen, wann und wo Alkohol getrunken und gekauft werden darf, was als Kunstwerk verstanden werden soll, wie junge Menschen ihre Beziehungen gestalten sollen und wie soziale Medien genutzt werden sollen usw. Die Wahlergebnisse über 50 Prozent für Erdoğans AKP haben zu einer autoritären Haltung bei der Regierung geführt.
Vor diesem Hintergrund ist der Widerstand im Gezi-Park ein Paradebeispiel für zivilen Ungehorsam. Er hat Oppositionskräfte zusammengebracht, die ansonsten nie zusammengekommen wären.
Trotz der Eskalationspolitik der Regierung konnte diese Bewegung mit sehr viel Kreativität mehrere Wochen protestieren. Nicht nur in Istanbul, sondern in fast allen Großstädten der Türkei gab es neuartige Demonstrationen und Kundgebungen. Ministerpräsident Erdoğan verfolgt eine Konfrontationslinie, indem er ständig versucht, »Wir« und »ihr« zu definieren; Muslime/Nicht-Muslime; Demokraten/Marginale Gruppen; Friedliche/Nichtfriedliche; Çapulcu (Plünderer)/ordentliche ehrenhafte Bürger.
Durch die Proteste der letzten Wochen wurde vielen Menschen deutlich, dass Demokratie mehr ist. Die Menschen im Gezi-Park möchten, dass sie gesehen werden, angehört werden, akzeptiert und respektiert werden. Sie möchten ein selbstbestimmtes Leben führen.
Der Bürgeraufstand in der Türkei war nach zehnjähriger AKP-Herrschaft eine Befreiung für das ganze Land. Er kann eine neue qualitative Stufe der Demokratisierung bedeuten, weitere Demokratisierungsprozesse anstoßen und Frieden in der Türkei bringen.
Diese Bewegung hat ein neues städtisches Bewusstsein geschaffen, hat eine neue Widerstandssprache hervorgebracht, sie ist allen Drohungen und Beledigungen des Ministerpräsidenten und staatlicher Stellen mit einmaligem Humor begegnet und diesen kreativen Akt zu ihrem Kampfmittel gemacht. Dadurch ist eine neue Identität des Widerstandes entstanden.Mehrere Wochen hielten die Menschen zusammen, im Gezi-Park herrschte eine Feststimmung, Menschen erlebten ihre Spontanität, Solidarität und Kreativität.
Der Gezi-Widerstand ist eine zivile pluralistische, einigende Widerstandsbewegung. Er ist eine wunderbare improvisierte, alternative, friedliche, demokratische, emanzipatorische Widerstandsbewegung.
70 Prozent der Demonstraten gehören zu keiner Organisation oder Partei. Nur sieben Prozent haben wegen eines Aufrufs durch eine Organisation an den Aktionen teilgenommen. 37 Prozent der Demonstraten sagen, dass eine politische Organisation notwendig ist. 80 Prozent davon sind gegen militärische Einsätze. Menschen möchten Frieden, Freiheit und demokratische Mitbestimmung.
Heute weißt keiner, wie die Proteste ausgehen werden. Eins ist aber sicher: Die Proteste sind ein Wendepunkt für die Demokratisierungsprozess in der Türkei.
Kadriye Karci ist Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie bereitet derzeit den Aufbau des Büros in Istanbul, Türkei vor.