Nachricht | Afrika - Nordafrika - International / Transnational «Wir gehen derzeit durch eine sehr kritische Phase»

Interview mit Mai Choucri, Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Nordafrikabüro in Tunis zur aktuellen Lage in Ägypten.

MEMBERS OF THE MUSLIM BROTHERHOOD AND SUPPORTERS OF OUSTED EGYPTIAN PRESIDENT MOHAMED MURSI TAKE PART IN A RALLY AROUND RABAA ADAWIYA SQUARE

Mai, du pendelst derzeit zwischen Tunesien und Ägypten. Wenn Du die jüngsten Entwicklungen in Ägypten betrachtest: den Sturz des Präsidenten Mohamed Mursi, die neue Übergangsregierung, die gewalttätigen und teilweise tödlichen Konfrontationen zwischen den verschiedenen Fraktionen – was denkst Du, rechnen sich die Muslimbrüder (MB) noch an politischer Teilhabe in der Übergangsphase aus?

Wir gehen derzeit durch eine sehr kritische Phase: es gibt zum Einen zwei Pro-Mursi-Besetzungen des öffentlichen Raumes in Kairo, wo zuletzt mehrere Zusammenstöße mit AnwohnerInnen sowie Fälle von Folter und die Präsenz von Waffen gemeldet wurden. Außerdem leiden wir noch unter den Folgen der Anstiftung sektiererischer Gewalt durch die MB, welche nun in größerem Ausmaß in Oberägypten gegenüber Christen stattfindet und von der Interimsregierung nur unzureichend Beachtung findet.

Zum Anderen ist da eine Militärführung, die den Anti-Terrorismus-Diskurs benutzt um die Ausschreitung der beiden (Pro- und Anti-Mursi-) Lager zu erklären. Zudem ist unklar, was genau im Sinai vor sich geht und inwiefern die Muslimbrüder in die dortigen Anschläge involviert sind. Klar jedoch ist, dass wir in den letzten Jahren Zeugen von Menschenrechtsverletzungen im großen Stil wurden, und dass weder der Militärführung noch dem Innenministerium zu trauen ist. Das heißt: Ereignisse, wo Mursi-Unterstützer, oder wie sie sich nennen – Anti-Putsch-Demonstranten – verletzt und getötet wurden, sollte nicht auf die leichte Schulter genommen und Behauptungen von Sprechern des Militärs oder des Innenministerium sollten in allen Fällen mit großer Skepsis zu genießen sein.

Was sollte Deiner Meinung nach in dieser scheinbar ausweglosen Situation nun passieren?

Ich persönlich bin keine Anhängerin einer Auflösung der Besetzungen, um die Krise zu beenden, sondern würde eher auf die Zeit und die Vergänglichkeit setzen, bis sie ihr politisches Gewicht verloren haben. Ich glaube aber auch, dass die MB-Führung genau darauf setzt, dass die Camps unter dem Gebrauch von Gewalt geräumt werden und dadurch lokale aber auch internationale Unterstützung erfahren. Grundsätzlich ist es jedoch wichtig, die Sicherheit in den Camps zu erhöhen, um Auseinandersetzungen mit AnwohnerInnen zu vermeiden. Dazu gehört auch, zu verhindern, dass Waffen in die Lager gebracht werden oder Menschen innerhalb bedroht werden. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass für viele Protestierende die Teilnahme an den Besetzungen inzwischen eine Frage der Identität geworden ist und eine große Angst vor der Rückkehr zu der Unterdrückung der vorherigen Jahre besteht. Regierungsnachrichten und Meldungen sogenannter „unabhängiger Medien“ weisen jedoch deutlich in die andere Richtung, indem sie Islamisten zunehmend zum Feind machen und diese sich wiederum dadurch als eine verfolgte Gruppe fühlen.

Glaubst Du, wir werden Zeugen eines Endes des politischen Islams?

Nein, das denke ich nicht, obwohl andere das gerne glauben wollen. Fänden morgen Wahlen statt, gäbe es keine Rundum-Alternative. Die politischen Parteien, welche die (säkulare) Nationale Heilsfront bilden, stellen keine starke Alternative dar, die genügend Stimmen derer gewinnen könnte, die vormals für die Islamisten gestimmt haben. Ebenso hat sich die salafistische Nour-Partei als politischer Spieler erwiesen, der Zugeständnisse machen und zur richtigen Zeit Verbindungen lösen kann. Außerdem ist noch völlig unklar, ob die Partei der Muslimbrüder (Partei für Freiheit und Gerechtigkeit) weiter existieren würde, würde die Organisation selbst aufgelöst.

Welche Ansprüche hast Du an die Übergangsphase?

Eine wirkliche Übergangsphase sollte eine sein, in der alle Parteien, die ägyptischen Blut an ihren Händen haben dafür zur Verantwortung gezogen werden: sei es das Mubarak-Regime, die Militärführung, die Führung der Muslimbruderschaft sowie der Allzeit-Schlächter, das Innenministerium.

Bei dem Interview handelt es sich um eine Vorab-Veröffentlichung aus der Mitte September erscheinenden Ausgabe der Rosalux.