Das Geschehen im Sommer 2013 auf dem Istanbuler Taksim-Platz und um die Gezi-Protestbewegung war weltweit – insbesondere auch in Nachbarstaaten der Türkei – durch starke Anteilnahme und umfassende politische Solidarität begleitet. Um dem Interesse palästinensischer und israelischer Jugendlicher, unter ihnen nicht wenige Mitstreiterinnen und Mitstreiter der sozialen Protestbewegung vom Sommer 2011, nachzukommen, luden die RLS-Büros in Ramallah und Tel Aviv zu themenrelevanten Diskussionsforen ein. Zur Authentizität des Meinungsaustausches trug bei, dass Güneş Engin und Kamil Bülent Müftüoğlu, beide aktiv in der türkischen Demokratiebewegung und Teil der bunten Widerstandsbewegung auf dem Taksim-Platz, konkrete Antworten auf die zupackenden Fragen der palästinensischen bzw. israelischen Forumsgäste zu geben vermochten.
Güneş Engin ist in der sozialistischen Bewegung und im Socialist Feminist Collective aktiv. Sie erwies sich als besonders kompetent, den Anteil türkischer Frauen an der Gezi-Protestbewegung zu benennen. Bülent Müftüoğlu ist Vorsitzender der Gezi Park Association und Mitglied der „Greens and the Left Party of the Future“. Beide stellten ihre Sicht auf die Hintergründe bzw. die spontane Organisation der Proteste dar und zeigten anhand von Fotodokumentationen und Filmclips die „Chronologie“ des Geschehens auf – vom wenig strukturierten, allgemeinen Widerstand gegen den neoliberalen Umbau bzw. die konsumorientierte Zerstörung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls bis hin zur Herausbildung einer umfassenden „Taksim Solidarity“-Bewegung bzw. der „Taksim Commune“.
Die erste Veranstaltung mit dem Titel „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!“ fand am 29. Oktober 2013 in den Räumen des Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah statt. Gekommen waren feministische Aktivistinnen, Partnerinnen und Partner des RLS-Büros in Ramallah sowie Leute aus der NGO-Szene. Nachdem Bülent die Ereignisse um den Taksim-Platz anhand von Bildern und Kurzfilmen dargestellt hatte, sprach Güneş über die Proteste aus feministischer Sicht. Im Kontext von „Taksim“ hätten die Frauen es geschafft, sich gegen die starke Diskriminierung und das tiefe Gefühl der Ungerechtigkeit in der Türkei aufzulehnen. In einem Land, in dem täglich durchschnittlich drei Frauen Opfer von so genannten Ehrenmorden würden, hätten Frauen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen gemeinsam protestiert, hätten sie zusammen sexistische und homophobe Schmierereien übermalt – und sich gegen Versuche des Staates gewehrt, „säkulare“ und „religiöse“ Frauen gegeneinander auszuspielen.
Die anschließende Diskussion drehte sich vor allem um die Folgen von „Taksim“. Inwieweit kann sich aus den Protesten eine tiefgreifende politische Transformation entwickeln? Wie kann der Zusammenhalt, den die Demonstrierenden auf dem Taksim-Platz erlebt haben, langfristig gestaltet werden? Gibt es politische Alternativen, auf die sich die unterschiedlichen Protestgruppen verständigen können? Auch wenn aufgrund der Unterschiedlichkeit der Gruppen und Forderungen die Entstehung einer politischen Bewegung oder einer politischen Partei zum jetzigen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich ist, so ist es andererseits gerade die Diversität von „Taksim“, die die Stärke des Widerstandes ausmacht. Es mag ein Anfang gewesen sein, aber die Erfahrung der eigenen Stärke, die neue Solidarität zwischen den Menschen, der Zusammenhalt angesichts staatlicher Repressionen, wird die Türkei - da waren sich Güneş und Bülent einig - verändern, auch wenn der Weg ein langer ist.
Zum zweiten Forum, am 30. Oktober 2013, hatte die NGO Chadar Ha’Matzav in die Anna Loulou Bar in Jaffa eingeladen, einen Treffpunkt linksdemokratischer jüdischer und palästinensischer Israelis. Chadar Ha’Matzav war als alternatives Nachrichtenportal im Gefolge der israelischen Sozialproteste vom Sommer 2011 entstanden und entwickelte sich zur führenden Nachrichtenplattform für soziale Bewegungen Israels.
Die erste Überraschung der Veranstalter: Erwartet hatten sie ein überschaubares Klub-Publikum; der entsprechend gewählte Raum konnte jedoch letztlich die große Zahl der Teilnehmenden nicht fassen. Mit großem Interesse folgten die Jugendlichen zunächst der vielfarbigen Video- bzw. Foto-Präsentation Bülents, die die gesamte Zeitspanne der Ereignisse umfasste und Einblick gewährte in die verschiedenen Phasen und Ausdrucksmittel der Proteste sowie in die schnell einsetzende internationale Solidarität.
Im zweiten Teil des Abends sprach Güneş couragiert über die Rolle der Frauen während der Gezi-Demonstrationen. Sie hob hervor, dass der Taksim-Aufstand für die türkischen Frauen kein einmaliges Ereignis, sondern eine willkommene Fortsetzung des langen Kampfes für Frauenrechte bedeutete. In ihm hätten sie die Chance gesehen und genutzt, die Ungleichheit, Repression und Gewalt anzuprangern, denen Frauen in der Türkei alltäglich ausgesetzt sind. Einen ähnlichen Zusammenhang stellte Güneş auch zwischen den konkreten Bürgerrechts- und Sozialprotesten und den übergreifenden „Klassenkämpfen“ in der türkischen Gesellschaft sowie in der Widerspiegelung der Proteste in den Medien her. Die gewaltförmigen Reaktionen der türkischen Polizei auf die Gezi-Protestbewegung hätten diese nur noch verstärkt und vor allem weltweit Schlagzeilen gemacht.
Die anschließende Diskussion wurde von Avi Blecherman von Chadar Ha’atzav moderiert. Gefragt wurde insbesondere nach der Rechtslage türkischer Frauen, nach dem Stellenwert der kurdischen Bevölkerung bzw. der kurdischen Frage insgesamt und nach dem konkreten Geschehen im „türkischen Sommer 2013“. Das offizielle Ende der Veranstaltung bedeutete noch nicht den Schlusspunkt des Abends. Viele der jüdischen und arabischen Jugendlichen nutzten in kleineren Gesprächsgruppen die Möglichkeit des „Erfahrungsaustausches“ - an den Tischen der Bar oder vor dem Haus in der milden Luft Jaffas. Muhammad Jabali, DJ des Abends, assistiert durch Ronny Anjel, erfreute die Gäste zudem mit anregenden türkischen Songs.
Katja Hermann, Büroleiterin RLS Ramallah, Kai Günther, Praktikant RLS Tel Aviv