(Veröffentlicht in: Politische Berichte 5/2009, S. 22 - 23)
Meine beiden Fragestellungen sind theoretischer Natur. Es ist zuerst die Frage nach den Bedingungen und den Ursachen jener Entwicklung des deutschen Parteiensystems, die von allen Parteienforschern übereinstimmend als durchaus krisenhaft beschrieben wird. Herbst der Volksparteien (F. Walter), Verlust an Mitgliedern, sinkende Wahlbeteiligung, Übergang von der Parteienbindung zur Lagerbindung (J. Raschke), Verdrossenheit und Ansehensverlust usw. Und es ist als zweite die Frage nach den Außenbeziehungen, der Rolle der Parteien im politischen System. Ich werde die Fragen hier nicht beantworten können, die Fragestellungen selbst sollen aber begründet werden. Ich denke, dass sie in der Parteienforschung zuwenig Beachtung gefunden haben.
I. Wenn über die Ursachen der Veränderungen gesprochen wird, dann wird auf gewandelte Rahmenbedingungen verwiesen (etwa auf Globalisierung, Wiedervereinigung, Demographie usw. bei O. Niedermayer) und es wird, das ist m. E der einzige entwickelte Ansatz zur Analyse der Bedingungen der Veränderung der Parteienlandschaft, der milieutheoretische Ansatz benutzt (F. Walter). Wenn es richtig ist, dass die wesentliche Funktion von Parteien die der Mediation zwischen Volk und Staat ist, dann setzt der milieutheoretische Erklärungsansatz F. Walters am einen Pol, am Volk an. Es wäre zu fragen, ob diese Analyse nicht durch eine nähere Betrachtung des andern Pols, des Staates, zu ergänzen wäre.1
Ein etwas altmodisch klingender Begriff könnte hier weiterhelfen: Regierbarkeit des Staates. Es ist dies der komplementäre Begriff zu dem gebräuchlicheren der Regierungsfähigkeit der Parteien. Unter Regierbarkeit will ich mit W. Hennis die Fähigkeit verstehen, Herr der Bedingungen zu sein, die das Regieren bestimmen. Dabei geht es im Kern um jene Veränderungen, die den Nationalstaat seit dem zweiten Weltkrieg zunehmend seiner Autarkie und Souveränität beraubten. Kurz: Die Fähigkeit des Staates, seine klassischen Staatsaufgaben wahrzunehmen und zu erfüllen.2
Meine erste These wäre, dass die langfristigen Veränderungen des Parteiensystems und der Parteien aus dem Wandel der Milieus des Volkes und aus dem Verlust an Regierbarkeit des Staates und einer entsprechenden Neubestimmung der Rolle und Funktion des Staates, der Staatsaufgaben, zu erklären sind. Der Vorteil dieser Fragestellung ist darin zu sehen, dass sich der Wandel der Parteien und des Parteiensystems so als programmatischer Lern- und Anpassungsprozess an die veränderten Bedingungen staatlichen Handelns, Regierens, darstellen lassen.3
II. Die zweite Frage ist die nach der Stellung der Parteien im politischen System. Die Parteienforschung tendiert dahin, die Parteien und das Parteiensystem zu beschreiben und zu analysieren. Gegenstand ist auch der Zusammenhang von Parteiensystem und Koalitionsbildung. Weniger thematisiert wird dagegen, wie Veränderungen der Parteien- und Koalitionskonstellationen jeweils den Charakter des parlamentarischen Regierungssystems verändern. Obwohl es Arbeiten wie die von F. Decker zu parlamentarischem System und Parteienlandschaft gibt, bleibt die Darstellung der Zusammenhänge von Parteiensystem, Parteien und den jeweiligen Charakteren des Regierens („System Adenauer”, System Kohl” usw.) weitgehend den Feuilletons überlassen.4
Meine zweite These ist nun die, dass unter den veränderten Bedingungen (des Volkes und des Staates) die Parteien eine Entwicklung genommen haben (als Versuch der Anpassung), die sie heute nur noch eingeschränkt ihre Kernfunktion der Mediation erfüllen lassen. Zur Erinnerung: Die Parteien der Weimarer Republik konnten das deutsche Volk nicht mediatisieren, die vordemokratischen und die industriellen Interessen nicht assimilieren. Das Grundgesetz setzte mit Art. 21 den Rahmen dafür, dass dies sich nicht wiederholen konnte. Das Parteiensystem hat dann sehr rasch jenen Weg gewählt, der von W. Hennis als „Weg in den Parteienstaat” bezeichnet worden ist. Die Parteien bekamen, verfassungsrechtlich befeuert durch die Idee G. Leibholtz’, dass der in den Parteien akkumulierte Wille identisch war mit dem Willen des Volkes, die Parteien das Sprachrohr des mündig gewordenen Volkes seien - und zwar das einzige, eine Stellung, die sich aus dem GG so nicht wirklich ableiten ließ und an die die Verfasser nicht gedacht hatten.
Zwei Prozesse beschrieb W. Hennis schon früh: den der sogen. „Überdehnung” des parteienstaatlichen Elements innerhalb der politischen Ordnung und den der „Abkopplung” der Parteien von der autonomen Willensbildung des Volkes. Die Phänomene der Überdehnung sind bekannt: Erstens die Ausweitung der staatlichen Parteienfinanzierung, Ämterpatronage und Pfründewesen, das Eindringen der Parteien in alle möglichen Bereiche der Gesellschaft, in Rundfunk und Verwaltungen auf allen Ebenen. Er soll schließlich in allen Gebieten des öffentlichen Lebens bei der Willensbildung des Volkes mitwirken. Zweitens: Der Parteienstaat hat die Fähigkeit erworben, sich selbst zu erweitern und mit Ressourcen und Kompetenzen zu versorgen. Heute ist das Eindringen der Parteien in Parlament und Regierung soweit fortgeschritten, man bedenke die riesigen Apparate der Fraktionen, so dass P. Lösche wohl zurecht der Meinung ist, der Verlust des Rumpfes, des Teils der Partei, der Volk ist, würde den Begriff der „Parties in government” rechtfertigen.
Die Stellung der Parteien war verbunden mit der Verbannung anderer Akteure, etwa der Kirchen und der Gewerkschaften, in den „politischen Vorraum”. Diese waren nun auf Lobbyismus angewiesen, die Unternehmerverbände kamen hinzu. Verbandsinteressen wurden durch Parteien als „Transmissionsriemen” in die Politik, d.h. in staatliches Handeln, übersetzt. 5 Diese Entwicklung wird seit einiger Zeit wieder zurückgenommen. Wirtschaftsverbände sind ganz unmittelbar in Regierungen und Ministerien präsent. Und die Gründungsgeschichte der WASG und der LINKEN war durch direkte gewerkschaftliche Interventionen geprägt. Wenn H. Schmidt fragt, ob denn die Bundesländer Regierung und Opposition brauchen und ob nicht gute Verwaltung besser sei, dann weist er auf ein weiteres Feld des Bedeutungsverlustes der Parteien hin. Für die Kommunen wird dies schon lange diskutiert. Die Parteien haben sich auch hier breitgemacht. Es zeigen sich die Probleme deutlich und es gibt neuere Entwicklungen, positive wie verstärkte Teilnahme von Wählerinitiativen an Kommunalwahlen. Negative Entwicklungen gibt es, allerdings noch nicht in Deutschland: Unternehmen gründen einfach Parteien. Fazit: Parteien, die sich derart aufgebläht und in Staat und Gesellschaft breit gemacht haben, mediatisieren weniger zwischen Volk und Staat als dass sie sich selbst als Eigner des Staates und der politischen Macht gerieren. Aber wer rückt ein? Wer repräsentiert Interessen, die heute Parteien nicht mehr repräsentieren können? Die gängige Antwort der Parteien: Die Parteien, wenn sie sich reformieren, besser kommunizieren usw., ist wohl falsch. Die Frage ist eher: Wie organisieren sich Bereiche demokratisch ohne Parteien?
III. Über den Prozess der Abkopplung der Parteien, der Entfremdung, ist alles berichtet. Nur, es gibt zwei konkurrierende Erklärungen. F. Walter sieht die Volksparteien gewissermaßen als die „gesunden” Parteien, konturiert, geerdet in bestimmten Milieus, lebendig. Entsprechend ist ihm der Niedergang der Volksparteien demokratietheoretisch problematisch. W. Hennis wiederum befand, dass gerade der Typus der Volkspartei als einer Partei ohne soziale Grenzen und ohne grundlegend verschiedene Gesellschaftsvorstellungen, jener Parteityp sei, der zur Allerweltspartei, zu Beliebigkeit und einer „Catch-all-Mentalität” tendiere und darum der Problemfall sei.
Ich denke, dies kommt, folgt man den angerissenen zwei Fragestellungen, daher, dass die Volksparteien von ihrem Frühling bis zu ihrem Herbst Ausdruck zunehmend disparater Lebensumstände sind bei gleichzeitig immer schwächerer Regierbarkeit. Das scheint mit Blick auf deren Blüte paradox, löst sich aber wenn man bedenkt, dass es in Prosperität Win-win-Situationen für die Bevölkerung gibt bei gleichzeitiger scheinbar wachsender Stärke des Staates als Wohltäter, als Sozialstaat. Diese Phase endete mit dem Fordismus und der Weg in den Parteienstaat scheint zu Ende, die Parteiensystem wie die Parteien werden weite Bereiche des öffentlichen Lebens räumen und so der Demokratisierung öffnen. Diese Demokratisierungen in Wissenschaft und Bildung, Medien, Daseinsvorsorge, Polizei und Militär, aber gerade auch der Wirtschaft, werden in schärfster Konkurrenz mit der andern Option, der Privatisierung, stehen. Dass aber diese Auseinandersetzung überhaupt beginnen kann, dafür ist es unabdingbar, dass die Parteien das Terrain räumen.
1. Volk und Staat: In den 20er Jahren waren die Staatsrechtslehrer in Deutschland noch nicht davon überzeugt, dass politische Willensbildung auf repräsentativem Niveau durch die Parteien mit einer gewissen Ausschließlichkeit erfolgen muss. Andererseits galt es für G. Radbruch 1930 für ausgemacht, dass jede Demokratie der Zeit ein Parteienstaat sein müsse.
2. Ende der 70er Jahre verwies W. Hennis darauf, dass seit der Atombombe kein Staat mehr den äußeren Schutz garantieren könne, das Prinzip der Territorialität aber nicht nur militärisch, sondern ebenso ökologisch und ökonomisch in gewisser Weise aufgehoben sei. Interessant bis heute der Verweis auf den Verlust der „geistigen Individualität” der Völker und Staaten, des je eigenen Staatsgedankens, des way of life. Wir sehen diesen Aspekt der Einschränkung der Regierbarkeit heute noch als stehendes (partei-)politisches Thema in der Debatte um Leitkultur, in der Programmatik rechtskonservativer und rechtspopulistischer Parteien - und weit darüber hinaus in der Bevölkerung als virulent.
3. Die letzten 20 Jahre waren geprägt von ständigen Versuchen der geistig-programmatischen Bewältigung des Problems des eingeschränkten Staates durch Union und SPD, der ganze sogen. neoliberale Diskurs um Deregulierung, die vielen Erfindungen von Attribuierungen zum Staatsbegriff besonders durch die Sozialdemokraten zeugen davon.
4. Wie beispielsweise H. Kohl Politik und Regierungshandeln von Ämtern auf Personen umstellte, seine radikal parteistaatliche und personalisierte Herrschaftsweise kreierte, das veränderte das parlamentarische System, die Verfassungswirklichkeit in Deutschland ebenso wie G. Schröders Kanzlerrunden.
5. Man könnte ja auch darüber nachdenken, ob hiermit nicht die Entscheidung für den apolitischen Charakter de deutschen Gewerkschaften gefallen war. Generell ist meine These, dass das Öffentliche in Deutschland durch das Parteienwesen okkupiert und formiert worden ist.