Obwohl der syrische Konflikt immer wieder als größte humanitäre Krise des 21. Jahrhunderts bezeichnet wird, findet humanitäre Nothilfe nach Syrien bis heute in unzureichendem Maße statt. Während Bilder aus belagerten Gebieten wie Yarmouk, Madaya oder Aleppo aufgrund der katastrophalen humanitären Zustände um die Welt gingen, stellen erfolgreiche Hilfslieferungen Ausnahmen dar und haben Nachrichtenwert. Gleichgültigkeit, Schweigen, wenig Empathie aber auch Unwissenheit und Unentschlossenheit scheinen die internationale Wahrnehmung des Krieges in Syrien zu bestimmen.
Fünf Jahre nach Beginn des friedlichen Aufstandes in Syrien und seiner gegenwärtigen bewaffneten Auseinandersetzung drängen sich Fragen nach den Gründen und Hintergründen für das Scheitern der humanitären Nothilfe nach Syrien förmlich auf.
Neutralität vs. «taking sides» – Die Rolle der Vereinten Nationen in der humanitären Nothilfe nach Syrien
Am 29. August 2016 veröffentlichte die britische Tageszeitung „The Guardian“ einen Artikel, in dem sie den Vereinten Nationen vorwarf, im Rahmen ihres Nothilfeprogrammes in Syrien mehrere zehn Millionen US-Dollar an Organisationen und Personen gezahlt zu haben, die dem syrischen Regime nahe stünden.[1] Der Guardian äußerte demnach die Sorge, dass Hilfeleistungen vorrangig in Regionen geliefert würden, die unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen. Als Reaktion auf diese und frühere Vorwürfe der Parteilichkeit der Vereinten Nationen im Syrienkonflikt, verkündeten eine Woche später 73 Hilfsorganisationen in einem offenen Brief, dass sie ihre Zusammenarbeit mit der UN in Syrien aufkündigen würden und forderten umfassende Nachforschungen zu den Empfängern der UN-Nothilfe in Syrien.[2] Diese Vorwürfe sind nicht neu: Bereits im Mai diesen Jahres hatte die britische Lobbygruppe „The Syria Campaign“ einen umfassenden Report mit dem Titel „Taking Sides. The United Nations‘ Loss of impartiality, independence and neutrality in Syria“[3] veröffentlicht, in dem sie den Vereinten Nationen in Syrien die Verletzung des Neutralitätsprinzips bei ihren humanitären Hilfeleistungen vorwarfen. Der Vorwurf lautet, dass Regionen, die unter der Kontrolle von oppositionellen Kräften stehen, aufgrund der vermeintlichen Komplizenschaft der UN mit dem syrischen Regime dringend notwendige Hilfeleistungen vorenthalten würden, was in belagerten Städten und Dörfern wie Madayya, Daraya, Aleppo und Yarmouk seit Jahren zu katastrophalen humanitären Zuständen führt.
Die Frage nach flächendeckendem Zugang von internationalen Hilfsorganisationen zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten geht zurück auf die Genfer Konventionen von 1949. Der Schutz von Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten und die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren bei der Lieferung von humanitärer Hilfe sind in den vier Genfer Konventionen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977 geregelt. Nach diesen Konventionen, die die Syrische Republik im Jahre 1953 unterschrieben hat, muss humanitäre Hilfe unparteiisch und neutral sein. Zudem sind alle Staaten verpflichtet den freien Durchgang für Waren, die notwendig für das Überleben der Bevölkerung ist, zu erlauben. Strittig sind die Genfer Konventionen vor allem dann, wenn der betroffene Staat – wie im Falle Syriens – der Hilfeleistung nicht zustimmt und sich demnach die Frage stellt, ob Hilfeleistungen auch gegen den Willen des souveränen Staates angeordnet werden können.
Die Vereinten Nationen berufen sich einerseits auf diese Konvention, da sie ihre Nothilfeaktivitäten hauptsächlich von der Hauptstadt Damaskus aus koordiniert. Damit sind ihre Hilfeleistungen in alle Regionen Syriens von der Zustimmung des Regimes abhängig – ein komplizierter und oftmals zum Scheitern verurteilter Prozess: In 2015 wurden die UN-Anträge auf Zugang in 75 % von der syrischen Regierung nicht einmal beantwortet.[4] Gleichzeitig haben die Vereinten Nationen in der vom Sicherheitsrat im Juli 2014 verabschiedeten Resolution 2165 erstmalig die „Straflosigkeit für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“ kritisiert, sowie ihre Beunruhigung darüber ausgedrückt, „dass die Zustimmung zu Hilfseinsätzen nach wie vor willkürlich und ungerechtfertigt verweigert wird“.[5] Der Sicherheitsrat hat daraufhin zum ersten Mal die Lieferung von Hilfeleistungen nicht über Damaskus, sondern über Grenzübergänge von türkischem Boden aus beschlossen. Diese Möglichkeit der grenzüberschreitenden Nothilfe wurde bis heute aber nur beschränkt von den Vereinten Nationen genutzt: „The cross border programme needs to be scaled up, yet there are currently fears of it being scaled down or dropped altogether.“[6] Nach wie vor läuft der größte Teil der humanitären Hilfe über Damaskus, weiterhin werden dadurch schwer erreichbare, häufig seit Jahren belagerte Orte von UN-Hilfskonvois nicht oder nur sehr unregelmäßig erreicht.
Der Zugang zu Konfliktgebieten in Syrien für humanitäre Organisationen sowie die Versorgung der Not leidenden Zivilbevölkerung ist im Syrienkonflikt zu einem Politikum geworden, in dem Fragen nach der Verletzung und/oder Einhaltung der Genfer Konventionen, der Interessen lokaler und internationaler Akteure sowie der Auslegung humanitärer Prinzipien ein ständig sich wiederholendes und sich reproduzierendes Scheitern von Initiativen humanitärer Nothilfe verursachen.
Nothilfe und/oder politische Interessensvertretung – lokale Hilfsorganisationen in Syrien
Die eingeschränkte Versorgung notleidender Zivilbevölkerung in Syrien von Seiten verschiedener UN-Organe hat zum einen dazu geführt, dass andere internationale Hilfsorganisationen eine führende Rolle in der grenzüberschreitenden Lieferung von Hilfsgütern aus Nachbarländern in von der Opposition kontrollierte Regionen spielen. Anderseits haben sich relativ schnell nach Ausbruch bewaffneter Kämpfe lokal basierte Hilfsorganisationen von Syrer*innen gegründet, die seit 2011 immer zahlreicher und größer wurden und mittlerweile einen großen Teil der direkten humanitären Nothilfe innerhalb Syriens leistet. Auch wenn die genaue Zahl der häufig im Ausland registrierten Organisationen schwer zu schätzen ist, geht ein im Mai 2016 veröffentlichter Report der „Local to Global Protection Initiative (L2GP)“ von einer Zahl von ca. 800 syrischen Nichtregierungsorganisationen sowie community-basierten Organisationen im Jahre 2015 aus.[7] Die meisten dieser Organisationen wurden nach Ausbruch des Syrienkrieges 2011/2012 gegründet und hatten anfangs wenig Erfahrung im Bereich humanitärer Hilfe. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten sie eine Expertise in diesem Bereich und integrierten sich gleichzeitig in das internationale Geber- und Förderungssystem für humanitäre Hilfe.
Aufgrund der Abwesenheit von UN-Organisationen in vielen Regionen Syriens, haben es sich die lokalen Organisationen zur Aufgabe gemacht, vor allem die sogenannten schwerzugänglichen Regionen mit notwendigen Hilfeleistungen zu versorgen. Der oben zitierte L2GP-Report geht davon aus, dass syrische lokale Organisationen im Jahre 2014 75% der humanitären Nothilfe nach Syrien geliefert haben. Die meisten Initiativen dieser Art werden von der Türkei aus gesteuert, ein kleiner Teil auch von den anderen Nachbarstaaten Syriens, Libanon, Jordanien sowie dem Irak.
Solidarität? Internationale Förder- und Geberstrategien
“Instead of empowering Syrian civil society and helping it to build its capacity, the aid community is rendering us more fragile.”[8]
Dieser Satz von Fadi Halliso, dem Gründer von „Basmeh und Zeitooneh“, einer libanesisch-syrischen Hilfsorganisation in Beirut, zeigt, wie sehr sich viele Vertreter*innen der syrischen Zivilgesellschaft von der internationalen Hilfegemeinschaft alleine gelassen fühlen. Obwohl syrische lokale Organisationen von Anfang an eine wichtige Rolle in humanitären Hilfeleistungen nach Syrien spielten, erfahren sie bis heute wenig Unterstützung von internationalen Geberstaaten und -organisationen. Der Report der L2GP-Initiative geht davon aus, dass in 2014 nur 0,3 % der direkten, und 9,3, % der indirekten Barmittelförderung an syrische lokale Organisationen ging. Darüber hinaus werden häufig die ungleichen Konditionen von Partnerverträgen und Förderrichtlinien internationaler Geber kritisiert, die es für die lokalen Organisationen oft schwierig machen, grundlegende Kosten ihrer Arbeit zu decken.
Als Konsequenz aus den diversen Herausforderungen und vielschichtigen Frustrationserfahrungen über mangelnde Solidarität und Unterstützung seitens internationaler Hilfs- und Geberorganisationen, sowie von Geberstaaten, haben die lokalen syrischen Organisationen häufig den Schwerpunkt ihrer Arbeit von humanitärer Hilfe auf politische Lobbyarbeit verlegt, um die Defizite in der humanitären Hilfe nach Syrien öffentlich zu begleiten.
[1] www.theguardian.com/world/2016/aug/29/un-pays-tens-of-millions-to-assad-regime-syria-aid-programme-contracts
[2] www.sams-usa.net/foundation/images/UN%20Position%20Paper%20Final.pdf
[3] takingsides.thesyriacampaign.org
[4] http://takingsides.thesyriacampaign.org/, S. 5.
[5] www.un.org/depts/german/sr/sr_14/sr2165.pdf
[6] http://takingsides.thesyriacampaign.org/, S. 21.
[7] www.local2global.info/wp-content/uploads/L2GP_funding_Syria_May_2016.pdf
[8] Fadi Halliso, Mitbegründer und Direktor von Basmeh wa Zeitooneh, einer syrisch-libanesischen Hilfsorganisation, www.opendemocracy.net/arab-awakening/fadi-hallisso/syrian-civil-society-in-lebanon-challenges-and-opportunities