Zentrale Themen kamen nur schleppend voran oder wurden gar nicht erst diskutiert. Aber auch der Alternativgipfel gab nicht viel her. Unsere Bewertung.
Der UN-Klimagipfel in Marrakesch war im Voraus von vielen als „COP of Action“ gehandelt worden. Tatsächlich aber war er zu großen Teilen - wenn auch nicht ausschließlich - ein Klimagipfel der Beschwörungsformeln. Fast mantrahaft wirkten die Bekundungen der Verhandler*innen, den Klimaschutz voranbringen und am Pariser Abkommen festhalten zu wollen – noch einmal verstärkt durch die befürchteten Auswirkungen der Wahl Trumps auf das sensible Verhandlungsgefüge (hier unser Text dazu). Gekrönt wurde dieser Diskurs durch die „Marrakesh Action Declaration“, die diesen Wunsch nach Affirmation zusätzlich schriftlich festhält. „Wir rufen zu höchstem politischen Einsatz auf, den Klimawandel als eine Angelegenheit von drängender Priorität zu bekämpfen“, heißt es unter anderem in dem Dokument. Zustande gekommen war die Deklaration auf Initiative der marokkanischen Verhandlungsführung. Eine erfahrene Prozessbeobachterin sprach von einem „Legacy Syndrome“. Man wolle wohl nach Paris etwas Bedeutungsvolleres als technische Entscheidungen zur Umsetzung der verschiedenen Arbeitsstränge der COP „hinterlassen“.
Fast diametral standen diesen autosuggestiv anmutenden Bekundungen die offensichtlichen Fakten und Widersprüche der Verhandlungen in Marrakesch gegenüber. Zwar gab es in technischen und prozeduralen Punkten durchaus Fortschritte. Die Fragen aber, die weitreichende politische, gesellschaftliche und ökonomische Implikationen nach sich ziehen, wurden auf die kommenden Verhandlungen verschoben.
Die große Lücke: Was passiert bis 2020?
Zuallererst bleibt die erschreckende Tatsache, dass die bisher beim UN-Klimasekretariat hinterlegten staatlichen Klimaziele auf mindestens 2,7 Grad Celsius Erwärmung hinauslaufen. Zwei Fakten zur Erinnerung: Jenseits der Zwei-Grad-Grenze droht der Klimawandel eine bedrohliche Dynamik zu entfalten, weil sich Kippelemente wie das Auftauen der sibirischen Permafrostböden mit ihren gigantischen Mengen gespeicherten Methans nicht mehr aufhalten lassen werden. Und: Das Emissionsbudget für die für einige Staaten überlebenswichtigen 1,5 Grad wird beim gegenwärtigen globalen Emissionstrend spätestens 2020 aufgebraucht sein.
Trotz oder wegen des Enthusiasmus' über das Inkrafttreten des Pariser Abkommens haben diese Tatsachen erstaunlich wenig Gewicht in den Verhandlungen: Die Frage, was die Welt schon vor 2020 tun muss, war kein zentrales Thema, obwohl dies von den Ländern des Südens in beinahe jeder Verhandlungsrunde gefordert wurde. Nach wie vor ist der Ergänzungsvertrag von Doha, der 2012 in Ergänzung zum Kyoto-Protokoll verabschiedet wurde und die Klimaschutzambitionen vor 2020 maßgeblich regelt, nicht in Kraft getreten. Das ist bezeichnend für die Einstellung vieler Industrieländer – etwa die USA, Japan oder die EU (wo Polen die Ratifizierung bisher blockiert). Das Maximum, was die Verfechter von höherem Engagement schon vor 2020 erreichen konnten, war, dass die Abschlussentscheidung des Gipfels zum Inkrafttreten des Pariser Abkommens einen eigenen Absatz zur verstärkten Umsetzung vor 2020 enthält.
Klimaschutzpläne, die nur Ziele formulieren
Stattdessen ließen sich Länder wie Deutschland oder auch die USA und Kanada für ihre Zielformulierungen als erfolgreiche Klimaschutzvorreiter feiern. Als erste hatten diese drei Länder neben Mexiko langfristige Klimaschutzpläne hinterlegt. Richtig ist: Die langfristige Signalwirkung solcher Pläne ist wichtig und es braucht langfristige Klimaschutzpläne. Wie wenig zwangsläufig diese Pläne aber mit realen Weichenstellungen in der Politik verknüpft sind, zeigt der deutsche Klimaschutzplan (hier unsere Bewertung dazu). In Marrakesch als ambitionierter Entwurf gefeiert, entlarvt er sich bei näherem Hinsehen als zahnloser Tiger, der Wirtschaftsinteressen höher gewichtet als echten Klimaschutz und kaum Instrumente für eine echte Transformation enthält.
Das ist symptomatisch für die Sachlage: Es gibt zahlreiche staatliche Bekenntnisse zum Klimaschutz, aber kaum echte Maßnahmen, die den gänzlichen Ausstieg aus den fossilen Energien in einem Tempo vorantreiben, das tatsächlich im Einklang mit dem 1,5-Grad-Limit steht. Besonders deutlich wird die Handlungsunwilligkeit des globalen Nordens vor dem Hintergrund der Initiative von 47 stark vom Klimawandel betroffenen Staaten (dem sog. Climate Vulnerable Forum): Diese hatten unter großer Medienaufmerksamkeit am letzten Verhandlungstag in Marrakesch verkündet, bis 2050 zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien setzen und nicht auf die zäh oder gar nicht eintreffenden Unterstützungsangebote der Industrieländer warten zu wollen.
Statt effektiver Lösungen machten sich in Marrakesch auch weiter die falschen Lösungen und Offsetting-Mechanismen breit - wie der eigentlich bereits für gescheitert erklärte Clean Development Mechanism, das fragwürdige Waldschutzprogramm REDD+, jetzt unter dem Titel „Blue Carbon“ auch neu aufgelegt für Küsten- und Feuchtgebiete sowie Negative-Emissionen-Technologien wie „Bioenergy with Carbon Capture and Storage“ (BECCS). Wie sehr etwa die Logik zu negativen Emissionen um sich greift, zeigt der Klimaschutzplan der USA, in dem BECCS vielfach auftaucht. Die notwendige grundlegende gesellschaftliche Transformation, zu der etwa auch Bundeskanzlerin Merkel vor einem Jahr in Paris aufgerufen hatte, stand in Marrakesch nicht zur Debatte. Stattdessen laufen die Diskussionslinien in den alten Mustern aus Marktgläubigkeit und Technologie-Optimismus.
Ringen um das Gewicht «ökologischer Schuld»: Wie viel Geld für Anpassung?
Weiterhin äußerst schleppend verläuft der Prozess zum extrem wichtigen Themenstrang Klimafinanzierung. Der Pariser Vertrag bietet viel Interpretationsraum und somit die Möglichkeit, Forderungen der Länder des globalen Südens immer wieder in Frage zu stellen. Gestritten wird schon seit Jahren um die Frage, wie viel Geld die reichen Staaten den Ländern im globalen Süden insgesamt für Klimaschutz und Anpassung zur Verfügung stellen. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Verursacherstaaten des Klimawandels zur Kasse gebeten werden sollen. Viele Länder des Südens machen davon auch abhängig, ob sie ambitioniertere oder weniger ambitionierte nationale Klimaschutzziele verfolgen werden. Lange vereinbart und von allen Seiten anerkannt ist, dass die Industriestaaten ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar mobilisieren. Wie viel von diesem Geld allerdings schon vorliegt und vorliegen wird, ist höchst umstritten: Die OECD legte in Marrakesch einen Fahrplan vor, dem zufolge die öffentlichen Mittel zur Klimafinanzierung bis 2020 auf 67 Milliarden US-Dollar anwachsen werden; der Rest zur 100-Milliarden-Dollar-Grenze soll durch private Mittel mobilisiert werden. Umstritten ist jedoch, was tatsächlich zur Klimafinanzierung zählt. Kritiker*innen landen in ihren Berechnungen bei weitaus geringeren Beträgen, die tatsächlich als zusätzliche Klimafinanzierung fließen. Auch das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP spricht von einer Lücke für Anpassungsfinanzierung und fordert eine Aufstockung der jährlichen Leistungen auf 140 bis 300 Milliarden US-Dollar bis 2030. Das Engagement der reichen Staaten für die notwendigen finanziellen Zusagen blieb aber in Marrakesch weiter enttäuschend.
Zusätzlich zu den Diskussionen um den Gesamtumfang der Klimafinanzierung, drehte sich ein zentraler Konflikt um die Verwendung der 100 Milliarden US-Dollar. Während die Industriestaaten den Großteil (circa 80 Prozent) direkt in Maßnahmen zur Senkung der Emissionen stecken möchten, forderten die Länder des globalen Südens erneut, dass mindestens die Hälfte des Geldes für Anpassungsmaßnahmen zur Verfügung stehen soll. Im Prinzip wird hier auch um die Frage gerungen, welches Gewicht die „ökologische Schuld“ haben soll, die die Industriestaaten als Hauptverursacher des Klimawandels tragen. Von Klimaschutzmaßnahmen im globalen Süden profitieren auch die Industriestaaten, weil sich der Handlungsdruck für sie verringert. Die Zahlungspflicht für Anpassungsmaßnahmen hängt fast ausschließlich am moralischen Gewicht der Schuldfrage.
Die vom Klimawandel besonders betroffenen Staaten mussten bis in das Abschlussplenum des Gipfels hinein für eine adäquate Platzierung des Themas Anpassung und dessen Finanzierung kämpfen. Unter anderem machte sich das Thema an der technischen Frage fest, ob der bereits unter dem Kyoto-Protokoll bestehende Anpassungsfonds auch dem Pariser Abkommen unterstellt werden wird. Mit dem Fonds gibt es immerhin den Ansatz einer Arbeitsstruktur, die Geld für Anpassung künftig verstärkt zugänglich machen könnte. Zwischenzeitlich stand der Punkt gänzlich zur Debatte. Nun sollen die Verhandler*innen vorbereitende Schritte unternehmen, damit der Fonds auch dem Pariser Abkommen unterstellt werden kann. Das zeigt: Das Pariser Abkommens bringt trotz öffentlicher Affirmationen vieler Akteur*innen, nun handeln und voranschreiten zu wollen, die Verhandlungen in den Kernfragen nicht massiv voran.
Wie sehr der globale Süden darum kämpfen muss, dass sowohl das ökonomische Gefälle wie auch der Grad der unterschiedlichen Betroffenheit durch den Klimawandel (der globale Süden leidet sehr viel stärker unter dessen Folgen) Beachtung findet, zeigte auch die Diskussion um die Buchführung der beim UN-Klimasekretariat eingereichten Klimaziele: Die drehte sich unter anderem um die Frage, in welchem Umfang und wie genau Anpassungsmaßnahmen auf die nationalen Klimaziele angerechnet werden können. Die Länder des globalen Südens fordern, dass auch „adaptation“ in den Klimazielen angerechnet werden kann, während die Länder des Nordens hier nur die Maßnahmen zur Reduzierung von Treibhausgasen anrechnen möchten.
«Loss and Damage» ohne Gewicht in den Verhandlungen
Noch offensichtlicher wird um das Gewicht der „ökologischen Schuld“ und die Frage nach Klimagerechtigkeit und den damit verbundenen Milliardenbeträgen im Themenstrang „Loss & Damage“ gerungen (hier unser ausführlicher Bericht dazu). Zwar hat der 2013 ins Leben gerufene Warschau-Mechanismus seinen bisherigen Auftrag erfüllt; der Bericht des Exekutivkommitees wurde abgenickt. Auch wurde vereinbart, dass der Warschau-Mechanismus in den kommenden fünf Jahren weiter mit Klimaschäden und -verlusten betraut sein wird und sich das Exekutivkommittee um die Finanzierung seiner Aktivitäten kümmern und regelmäßig berichten soll. Die Hoffnung vieler Menschen aus dem globalen Süden aber, dass das Thema in Marrakesch prominent diskutiert werden würde (nachdem das Pariser Abkommen „Loss & Damage“ mit einem eigenen Artikel die Prominenz eines eigenen Verhandlungsstranges einzuräumen schien) hat sich nicht erfüllt. Nicht nur dass „Loss & Damage“ auf der Homepage des UN-Klimasekretariats noch immer ganz unprominent unter Anpassung verortet ist. Der Verhandlungsstrang steckt auch nach Marrakesch noch in den Kinderschuhen. Die Kernfrage, wer in welchem Umfang für die bereits jetzt bestehenden und künftig noch zunehmenden Schäden und Verluste zahlt und welchen völkerrechtlichen Status Klimaflüchtlinge haben, ist nur ansatzweise diskutiert worden; vieles ist umstritten. Zudem wird die Forderung nach Kompensationszahlungen, eine Kernforderung des Rufs nach Klimagerechtigkeit, aus den Verhandlungen herausgehalten. Die Antwort von Marrakesch auf 25 Millionen Flüchtlinge im Jahr 2015 und langsam von der Landkarte verschwindende Inselstaaten lautet leider nur (aber immerhin): Der Warschau-Mechanismus kann weiter arbeiten.
<iframe src="https://www.youtube-nocookie.com/embed/1vE-XBGJYxY" width="560" frameborder="0" height="315"></iframe>Konkrete Maßnahmen gibt es hier bislang nur in Form der sogenannten Klimarisikoversicherungen, die die G7-Staaten, allen voran Deutschland, mit ihrer Initiative InsuResilience vorantreiben. Zwar haben die Versicherungen – zum Teil zu Recht - den Ruf, schneller als sämtliche staatliche oder spendenbasierte Hilfeleistungen auf Wetterkatastrophen reagieren zu können. Trotz Aufstockung auf 550 Millionen US-Dollar ist das aber nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nicht nur decken die Versicherungen langfristige, schleichende Verschlechterungen nicht ab. Die Logik hinter den Versicherungen ist eine ökonomische und vermittelt den betroffenen Staaten die Botschaft: Sorry, dass wir euch mit dem Klimawandel das Leben schwer machen, aber jetzt könnt ihr ja bei uns Versicherungen dafür kaufen.
Die Lobbies sitzen mit am Tisch
Beeindruckend war in Marrakesch erneut zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit auch im Klimaschutz und bei der Generierung von Mitteln für die Klimafinanzierung auf die regulatorischen und „gutwilligen“ Kräfte des Marktes gesetzt wird - ohne dass es eine Auseinandersetzung mit den Interessen der Unternehmen gibt, deren Vertreter*innen zahlreich auf dem Konferenzgelände herumlaufen. Zahlreiche Ausstellungsstände und Sponsoren aus fossilen Industriezweigen waren vor Ort – mit Aufstellern, Side-Events, als Beobachter*innen und Sponsoren, darunter ExxonMobil, Chevron, PB, Shell, der Weltkohleverband. Dass es einen Trend gibt, die Wirtschaft ganz bewusst einzubinden, zeigte auch die „Green Zone“, die neben den Sälen für die Diskussionsveranstaltungen durch eine riesige Messehalle „grüner Technologien“ geprägt war.
Bereits im Mai 2016 hatte die Gruppe der gleich gesinnten Staaten (LMDCs) unter Führung von Ecuador diesen Interessenkonflikt kritisiert und mehr Transparenz über die Hintergründe der Beobachterorganisationen gefordert (hier unser ausführlicher Bericht von der Konferenz in Bonn). Auch in Marrakesch wurde die Problematik erneut thematisiert, zum Beispiel durch Venezuela und die NGO Corporate Accountability International. Zwar einigten sich die Verhandler*innen in Marrakesch darauf, für mehr Transparenz in ihren Prozessen sorgen zu wollen. Großes Gewicht hatte das Thema jedoch nicht, geschweige denn dass der dringend nötige Ausschluss der Lobbies beschlossen wurde. Das ist auch so schnell nicht zu erwarten: Das Pariser Abkommen hat mit seinen Paragraphen 134 und 135 weitere Einfallstore für privatwirtschaftliches Engagement und eine mögliche Beeinflussung der Verhandlungen gelegt. Parallel zeigten sich in Marrakesch Entwicklungen hin zur Einschränkung zivilgesellschaftlicher Teilhabe an den Verhandlungen. Bei den Runden der Ad Hoc Working Group on the Paris Agreement (APA) beispielsweise waren Beobachter*innen nur begrenzt zugelassen. Das ab 2017 eingeführte Format sogenannter runder Tische der APA wurde seitens der Zivilgesellschaft ebenfalls kritisch betrachtet, da auch hier keine Beobachtung geregelt ist.
COP 22: Wie nun bewerten?
Statt den Fokus ganz klar auf mehr und effektivere Politiken für den Klimaschutz zu legen, ging es in Marrakesch hauptsächlich um prozedurale Fragestellungen. Zum Teil wurden diese durch das unerwartet frühe Inkrafttreten des Pariser Abkommens am 4. November 2016 ausgelöst und offenbaren damit auch das noch sehr zerbrechliche Gefüge des Klimavertrages. Andererseits stecken in vielen dieser technischen Verhandlungen eben doch zutiefst politische Fragen. Zwar sind einige wichtige Prozesse zumindest besprochen oder mit neuen Arbeitsaufträgen bestückt worden. Von einer COP der Implementierung blieb Marrakesch aber weit entfernt. Das war aber bei realistischer Betrachtung auch nie zu erwarten, insofern hat die Benennung als „Cop of Action“ die Fallhöhe vorgegeben.
Auch die Verhandlungen unter dem Dach des Pariser Abkommens sind nicht durch und durch beseelt vom Geist des Aufbruchs, sondern folgen weiterhin knallharter ökonomischer Logik: Das zeigte sich zum Beispiel an der Frage, ob die Vertragsparteien des Pariser Abkommens schon 2017 wieder zusammen kommen sollten, um einzelne Teilfortschritte zu diskutieren. Oder ob 2018 ausreiche, um dann ein Gesamtpaket zu präsentieren. Die Industriestaaten plädieren für den späteren Zeitpunkt, um mehr Verhandlungsmasse im Spiel zu haben. Die Länder des globalen Südens dagegen erhoffen sich, die frühere Zwischenbilanz nutzen zu können, um einzelne Aspekte eher in ihrem Sinne zu beeinflussen. Am Ende einigten sie sich darauf, das eigentliche „Rulebook“ des Pariser Abkommens erst 2018 zu verabschieden, aber schon 2017 Fortschritte auf dem Weg dorthin „festzustellen“.
Deutlich ist: Die notwendigen großen gesellschaftlichen und ökonomischen aber auch politischen Transformationen, die für eine klimagerechte Politik notwendig sind, waren auch ein Jahr nach dem als „historisch“ gefeierten Pariser Abkommen in den Verhandlungen selbst kein Thema: Wie der 100-prozentige Ausstieg aus fossiler Energie mit der Demokratisierung des Energiesektors verknüpft werden kann. Wie sich alternative Mobilitätsformen flächendeckend und für alle Menschen leicht zugänglich ausbauen lassen – anstatt nur über Elektromobilität zu reden. Welchen Zusammenhang es zwischen Energieverbrauch und wachstumsabhängigen Volkswirtschaften gibt. Wie sich unser ressourcen- und energieintensiver Lebensstil verändern lässt. Man könnte den Eindruck bekommen, als würde der Klimawandel eigentlich erst morgen passieren und nicht schon heute Realität sein.
Schleppende Mobilisierung der internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung
Diese offensichtlichen Leerstellen, vor allem das Auslassen der wichtigen Debatte um die „große Transformation“, stellen eigentlich die perfekte Öffnung für eine Klimagerechtigkeitsbewegung dar, die seit Jahren genau darauf beharrt, dass solche Debatten geführt werden müssen. Aber auch von dieser Seite wurde die COP in Marrakesch ein wenig stiefmütterlich behandelt. Denn: Gipfelproteste sind üblicherweise nur so relevant, wie die Gipfel, um die herum sie stattfinden.1 Im Zyklus der Klimagipfel gibt es alle paar Jahre einen „großen Gipfel“ (Kyoto, Kopenhagen, Paris) und dazwischen die „kleinen Gipfel“. Schon im Vorfeld von Marrakesch war klar, dass diese UN-Konferenz nur ein kleiner, eher technisch ausgerichteter Gipfel und die Klimagerechtigkeitsbewegung außerhalb der Konferenzhallen weniger stark vertreten sein würde. Das heißt: Der Fokus lag stärker auf der Bearbeitung des offizielles Verhandlungsprozesses durch gipfelnahe Organisationen und weniger auf dem eigenen Agenda-Setting der Bewegungen auf der Straße.
Schon die Mobilisierung verlief sehr schleppend. Nach der Intensität der Pariser Klimakonferenz und der Bewegungsaktivitäten um sie herum schaffte es die – traditionell eher gipfelkritische - Klimagerechtigkeitsbeweung lange nicht sich zu treffen, um gemeinsam an Post-Paris-Strategien zu arbeiten. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die Unterzeichnung des Pariser Abkommen die Fähigkeit der internationalen Klimadiplomatie gestärkt hat, die moderatere globale Zivilgesellschaft einzubinden. Das steht ganz im Gegensatz zu dem, was nach dem Gipfel in Kopenhagen passiert war: Dessen Scheitern hatten die moderaten Organisationen den radikaleren zunächst einmal näher gebracht. Das war nach Paris ganz anders: Das Wieder-Funktionieren der globalen Klimadiplomatie hat auch das Kalkül der moderaten zivilgesellschaftlichen Organisationen verändert, die ihr Verhältnis zur Global Governance eher als ein partnerschaftliches ansehen. Die Mitarbeit am und im offiziellen Prozess ist für sie durch Paris wieder sehr viel attraktiver geworden.
Im Gegensatz dazu sahen die gipfelkritischeren Bewegungen die COP22 als technischen Gipfel, bei dem es sich nicht lohnen würde, viele Ressourcen in die Mobilisierung zu investieren. Außerdem existiert auch in den globalen Gerechtigkeitsbewegungen ein gewisser Perspektivenimperialismus. Die Struktur „großer Gipfel im Norden, kleine Gipfel im Süden“ wird hier reproduziert nach dem Motto: Dort wird nicht viel passieren, also fahren weniger Aktivist*innen hin, also passiert doch auch nicht viel.
Und doch hatten die globalen Klimagerechtigkeitsbewegten den Mund im Vorfeld der Konferenz ziemlich voll genommen: Während der offizielle Gipfel sich das Ziel vornahm, eine „COP of Action“ auszurichten – und daran scheiterte, wollten die Bewegungen in Nordafrika eine „COP of Africa“ auf die Beine stellen – und scheiterten ebenfalls. Die marokkanischen Aktiven, versammelt im marokkanischen Klimagerechtigkeitsbündnis (Coalition Maroccaine pour la Justice Climatique: CMJC), pokerten hoch: Wenn schon die globale Bewegung nicht nennenswert vertreten sein würde, dann würde es sich doch zumindest lohnen, die COP in einem afrikanischen Land zu nutzen, um (a) in Nordafrika Klimagerechtigkeit als Diskurs und zusammenführende Bewegungspraxis zu vertiefen, und um (b) eine inklusive panafrikanische Klimagerechtigkeitsplattform jenseits der eher moderaten Pan African Climate Justice Coalition (PACJA) aufzubauen.
Kernstück dieses Projekts war der Alternativgipfel, der vom 14. – 17. November an einer Universität in Marrakesch, relativ weit vom Gipfelgeschehen entfernt stattfand. In Paris hatte diese räumliche Trennung kein Problem dargestellt, weil die Bewegungen stark genug waren, um die Bewegungsräume mehr mit Leben zu füllen als die von der UNFCCC arrangierte „Green Zone“. In Marrakesch funktionierte das nicht: kaum Leute, kaum Dynamik, kaum Bewegung.
Gespaltene marokkanische Bewegung
Neben der Abwesenheit zentraler globaler Bewegungsakteure und Organisationen lässt sich das auch auf ein weiteres Problem zurückführen: Die marokkanischen Bewegungen selbst waren in sich gespalten. Wenige Monate vor dem Gipfel hatte sich attac Marokko vom Marokkanischen Klimagerechtigkeitsbündnis abgespalten und mit REDACOP ein eigenes Netzwerk gegründet. Jenseits der Kritik an den angeblich ‚undemokratischen Strukturen’ des Marokkanischen Klimagerechtigkeitsbündnisses (in linken Spaltungsprozessen altbekannt) wurde vor allem ein Argument ins Feld geführt: Das marokkanische Königshaus würde den Alternativgipfel nutzen, um sein mit erheblicher Macht vorangetriebenes Green Economy-Projekt zu legitimieren (zu dem etwa das gigantische Solarthermieprojekt in Ourzazate gehört) und Kämpfe dagegen sowie gegen die marokkanische Ressourcenextraktion unsichtbar zu machen. Die Aktivitäten des Marokkanischen Klimagerechtigkeitsbündnisses, argumentierte attac Maroc, seien von der Regierung ‚kooptiert’. Das Bündnis hielt dagegen, dass es in einem autoritären Regime nun einmal schwierig sei, stabile und rechtssichere Räume für internationale Aktivist*innen zu schaffen. Deshalb sei ein gewisser Grad der Kooperation mit dem Königshaus und der es umgebenden Machtstruktur des Makhzen notwendig.
Dieser Konflikt führte zu einer Spaltung der sozialen Bewegungen in Marokko. Die internationale Klimagerechtigkeitsbewegung sah sich nicht in der Position, von außen zu entscheiden, wer denn nun Recht habe. Das führte zu einer bewegungspolitischen Entleerung des Alternativgipfels. Kurz: die prozessnahen Organisationen war ausschließlich beim Gipfel, die in Klimagerechtigkeitskämpfen Aktiven waren in ihren jeweiligen Kämpfen – und der Raum dazwischen verblieb relativ leer und uninspirierend.
Zwar wurde am Ende des Alternativgipfels eine Abschlusserklärung formuliert – die auch die zentralen Punkte der Klimagerechtigkeitsbewegung enthält. Aber sie wurde nicht von einem breiten Bündnis aus marokkanischen, maghrebinischen, afrikanischen und internationalen sozialen Bewegungen formuliert. Auch eine COP Africa fand dort (oder im offiziellen Verhandlungszentrum) nicht wirklich statt. Die "Green Zone" auf dem Gipfelgelände war am Ende lebendiger als der Bewegungsraum.
«Wir, marokkanische, maghrebinische, afrikanische und internationale soziale Bewegungen, versammelt hier in Marrakesch, sind entschlossen, die Klimagerechtigkeit zu verteidigen und auszubauen, und jetzt zu handeln, um sicherzustellen, dass wir die globale Erwärmung auf unter 1,5 Grad begrenzen können , entsprechend den Verpflichtungen, welche die Staats- und Regierungschefs der Welt in Paris unterschrieben haben.»
Erklärung des Alternativgipfels von Marrakesch, 17.11.2016
Der Grundtenor in den globalen Bewegungen ist nun: In Bonn, wo im November 2017 unter der Präsidentschaft der Fidschi-Inseln die COP23 stattfinden wird, darf sich so etwas nicht wiederholen. Viele sehen es als Herausforderung an, die Spaltung zwischen prozessferneren und prozessnäheren Organisationen und Netzwerken zu verhindern. Wenn das Argument stimmt, dass innerhalb der Verhandlungsflure nur die Erfolge erzielt werden können, die auf der Straße und vor den Gipfeltoren lautstark von Bewegungen eingefordert werden, dann werden sich die Bewegungen zusammenraufen müssen.