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Einführung des Präsidialsystems als Paradigmenwechsel.

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Tayyip Erdoğan bei der Zeremonie zum Tag der Republik am Mausoleum des Staatsgründers Ataturk in Anitkabir, Oktober 2016 (REUTERS/Umit Bektas)
Turkey's President Tayyip Erdogan attends a Republic Day ceremony at Anitkabir, the mausoleum of modern Turkey's founder Ataturk, to mark the republic's anniversary in Ankara, Turkey, October 29, 2016. REUTERS/Umit Bektas Tayyip Erdoğan bei der Zeremonie zum Tag der Republik am Mausoleum des Staatsgründers Ataturk in Anitkabir, Oktober 2016, REUTERS/Umit Bektas

Vergangenen Samstag wurde der parlamentarische Prozess für eine Verfassungsänderung in der Türkei eingeleitet. Sie wird das politische System des Landes grundlegend verändern und den Übergang zur Autokratie formalisieren.

Die Forderung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach einer Umgestaltung des politischen Systems der Türkei, in dem der Staatspräsident eine größere politische Rolle spielen und mehr Macht konzentrieren würde, als bisher der Fall, ist nicht neu. Seit spätestens seinem Amtsbeginn im August 2014 lässt Erdoğan kaum eine Gelegenheit aus, um für das Präsidialsystem zu werben. Ein immer wieder kehrendes Argument ist dabei seine Behauptung, die Türkei würde sich in einer schwierigen historischen Phase befinden und sei von vielen inneren wie äußeren Feinden bedroht. Solche Zeiten, so Erdoğan, würden eine starke politische Führung verlangen, in der die Macht in einem Amt konzentriert sein müsse.

Bis zum Beginn der offenen Kriegshandlungen zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK Ende Juli 2015 schien es unwahrscheinlich, dass Erdoğan genug Unterstützung im Parlament und in der Bevölkerung mobilisieren könnte, um die Verfassung zu ändern und das Präsidialsystem einzuführen. Das wichtigste Hindernis hierbei war allerdings weniger die Regierungspartei AKP, innerhalb derer sich schon längst die Erdoğan-loyalen Kräfte durchgesetzt haben, während die parteiinternen KritikerInnen des Präsidialsystems an den Rand oder aus der Partei heraus gedrängt worden sind. Erdoğan konnte also davon ausgehen, dass die AKP nach diesen «Säuberungen» im Parlament geschlossen für das Präsidialsystem stimmen würde. Aber die Stimmen der AKP reichten nicht für die Zweidrittelmehrheit, welche für eine Verfassungsänderung notwendig ist. Und alle Oppositionsparteien waren geschlossen gegen das Präsidialsystem. Auch in der Bevölkerung gibt es keine Mehrheit für das Präsidialsystem. Zudem hatte der Erfolg der linken und prokurdischen HDP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 die Aussichten auf eine Zweidrittelmehrheit weiter verschlechtert.

Damit war absehbar, dass es der parlamentarische Weg verschlossen blieb, solange sich die allgemeine politische Lage in der Türkei nicht radikal ändern würde, um eine ausreichende Unterstützung im Parlament und in der Bevölkerung zu erreichen. Die Kriegshandlungen zwischen türkischem Militär und PKK seit dem Juli 2015 haben es daher der AKP einerseits ermöglicht, die HDP als die zivile Stimme der kurdischen Bevölkerung zu marginalisieren, zu isolieren und bei den Neuwahlen im November 2015 die Stimmen der türkischen Nationalisten für sich zu mobilisieren. So konnte die AKP die einfache Mehrheit im Parlament erringen und damit weiterhin ohne Koalitionspartner regieren. Gleichzeitig hat der Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei zu einer Annäherung zwischen der AKP und der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP geführt, die zuvor die AKP-Regierung wegen ihres vermeintlich moderaten Kurses gegenüber den kurdischen Kräften kritisiert und eine militärische Lösung der so genannten Kurdenfrage gefordert hatte. Als dann die AKP-Regierung selbst auf die militärische Lösung setzte, war dieser Konflikt zwischen der AKP und der MHP hinfällig. Und obgleich die MHP nicht Teil der Regierung ist, hat sie im Parlament seitdem immer wieder die AKP-Regierung unterstützt und auch öffentlich deren Kriegskurs in den kurdischen Gebieten mitgetragen. Diese schrittweise Annäherung zwischen AKP und MHP führte dann im Winter 2016 zu Gesprächen zwischen der Regierung und der MHP-Führung, um deren Unterstützung für die Einführung des Präsidialsystems zu sichern. Zwar reichen die Stimmen der MHP nicht aus, um die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erreichen. Sie sind jedoch ausreichend, um jene 330 Stimmen im Parlament zusammenzubringen, die für die Einberufung eines Referendums über eine Verfassungsänderung notwendig sind. Der parlamentarische Prozess dafür wurde am vergangenen Samstag (11.12.) eingeleitet, das Referendum wird für Frühjahr erwartet.

So kann es der AKP doch noch gelingen, die Einführung des Präsidialsystems im formaldemokratischen Rahmen zu vollziehen. Auf diese Weise könnten auch relevante externe Akteure, wie etwa die USA und die Europäische Union, ihr Gesicht in ihren Beziehungen zur Türkei wahren. Die konkrete Ausgestaltung des Präsidialsystems nach dem jetzigen Stand der Dinge spricht aber dafür, dass die repräsentative Demokratie nur noch eine Fassade sein wird. Die von Erdoğan mehrmals angekündigte Einführung der Todesstrafe ist zwar erstmal vom Tisch. Doch der Staatspräsident kann im neuen politischen System die MinisterInnen bestimmen, die danach lediglich vom Parlament bestätigt werden. Einen Ministerpräsidenten wird es ebenso wenig geben wie ein Kabinett. Auch die legislative Kompetenz des Parlaments wird faktisch abgeschafft, weil der Staatspräsident alleine und ohne Zustimmung oder Konsultation anderer Institutionen Dekrete erlassen kann, die Gesetzeskraft haben. Im nun seit Juli andauernden Ausnahmezustand hat Erdoğan mehrheitlich per Dekret regiert und dies wird vermutlich in dem neuen Präsidialsystem zum Normalfall werden.

Insofern stellt die Einführung des Präsidialsystems die Fortsetzung der bisherigen AKP-Politik dar, zuerst de facto den politischen Umbau des Landes voranzutreiben, um sich anschließend formal die Legitimation der noch bestehenden demokratischen Institutionen einzuholen. Damit sind diese Institutionen und Verfahren zwar nicht abgeschafft, erfüllen aber nur noch die Funktion einer Art demokratischer «Fassade» vor den neuen autokratischen Strukturen.