Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus

Publikation Chinesische Revolution

Die Zeit zwischen 1840 und 1949 ist die Zeit des Aufbruchs und des Sieges der Revolution in China. Wie veränderte sich die chinesische Gesellschaft und was waren die wichtigsten Entwicklungen in dieser Zeit?

Information

Reihe

HKWM

Autorin

Mechthild Leutner,

Erschienen

Juli 2022

Zugehörige Dateien

chineseposters.net / Renmin meishu chubanshe

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: al-thaura al-ṣīnīya. – E: chinese revolution. – F: révolution chinoise. – R: kitajskaja revoljucija. – S: revolución china. – C: Zhongguo geming 中国革命

Seit seiner Verwendung durch Marx und Engels um­faßt der Begriff cR jeweils unterschiedliche Inhalte. Im weitesten Sinne wird er als allgemeine Bezeich­nung der Transformation der chinesischen Gesell­schaft seit ca. 1840 bis 1949 benutzt; im engeren Sinne bezieht er sich auf einzelne Entwicklungsetappen in­nerhalb dieses Zeitraumes, denen revolutionäre Qua­lität zugesprochen wird (Taiping-Revolution, Revolu­tion von 1911, 1925-1927).

1. Die Einbeziehung Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt seit den 1840er Jahren führt bei Marx und Engels zu Überlegungen über die welthistorische Be­deutung dieser Tatsache für revolutionäre Prozesse in Westeuropa. Sie knüpfen an die durch die Aufklärung (Voltaire, Montesquieu, Herder), die klassisch-idealistische Philosophie (HEGEL) und die klassische politische Ökonomie (Smith, James Mill) tradierten Vorstellungen eines »statischen« und »despotischen« China an, stellen jedoch in prononciertem Gegensatz zu deren Schlußfolgerungen und zum damals vor­herrschenden europäischen Chinabild die Prognose einer revolutionären Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft.

Die seit 1848 nur gelegentliche Erwähnung Chinas im Kontext der kapitalistischen Expansion wird ab 1850 durch zumeist skizzenhafte Analysen der Ent­wicklung in China, vor allem des Taiping-Aufstandes und der Auswirkungen der Einbeziehung Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt, ergänzt. »Die chine­sische, auf der Handarbeit beruhende Industrie erlag der Konkurrenz der Maschine. Das unerschütterliche Reich der Mitte erlebte eine gesellschaftliche Krise. [...] Das Land kam an den Rand des Verderbens und ist bereits bedroht mit einer gewaltigen Revolution.« (MEGA 1.10, 219; MEW 7, 2210 Marx sieht darüber hinaus in den egalitären Forderungen der Taiping-Bewegung angesichts der Niederlage der Revolution von 1848 geradezu einen »kuriosen« Aspekt. Doch bereits 1853 rückt er das Thema der cR aus dem Be­reich kurioser Nachrichten heraus und zeigt den direkten Einfluß Europas auf die Ereignisse in China, wo die »chronischen Aufstände der letzten zehn Jahre [...] sich jetzt zu einer einzigen ungeheuren Revolu­tion zusammengeballt haben« (Die Revolution in China und in Europa, MEW 9, 95f). Er betont das aus­lösende Moment des englischen Opiumhandels, durch den »die barbarische hermetische Abschließung von der zivilisierten Welt« (96) durchbrochen wurde und die »Autorität der Mandschu-Dynastie in Scherben [brach]« (ebd.). Zugleich erwartet er jedoch auch eine Rückwirkung der cR für die »Völker Europas«. Die Instabilität des chinesischen Marktes für britische In­dustriewaren und die Preissteigerungen für chinesi­schen Importtee würden bewirken, »daß die cR den Funken in das übervolle Pulverfaß des gegenwärtigen industriellen Systems schleudern und die seit langem heranreifende allgemeine Krise zum Ausdruck brin­gen wird, der dann beim Übergreifen auf das Ausland politische Revolutionen [...] unmittelbar folgen wer­den« (100). - Die Stärkung des chinesischen Nationa­lismus im Gefolge der Auseinandersetzungen mit England betont demgegenüber Engels in einem Beitrag von 1857, in dem er ironisch die englischen »Zivi­lisationskrämer« gegen die chinesischen »Barbaren« ausspielt. Er charakterisiert den Krieg in China als »Volkskrieg« einer aufständischen Nation und pro­phezeit eine Verschärfung der Krise (MEW 12, 214f).

1862, kurz vor der Niederlage des Taiping-Aufstandes, analysiert Marx die chinesische Situation aus­führlicher. In seine Analyse geht seine vor allem durch die Beschäftigung mit Indien geprägte Konzep­tion der asiatischen Produktionsweise ein, nach der »rastloser Wechsel« des politischen Überbaus einher­geht mit »beständiger Bewegungslosigkeit im sozialen Unterbau« (MEW 15, 514). Den Trägern der cR, d.i. des Taiping-Aufstandes, wirft Marx vor, lediglich »die Zerstörung ohne irgendeinen Keim der Neubildung« anzustreben. Der fließende Übergang der Bewegung zum reinen Banditentum, ihre Beibehaltung der sozia­len Grundlagen des Reiches, ihr »religiöser Anstrich« erweise sie daher als eine Bewegung »geräuschvoller Scheintätigkeit« und als »Absprung eines fossilen Gesellschaftslebens« (514ff). - In einem Brief an Kautsky aus dem Jahre 1895 wertet Engels dann den chine­sisch-japanischen Krieg 1894/95 als das Ende des alten China, als »vollständige, wenn auch allmähliche Re­volution der gesamten ökonomischen Grundlage [...] und damit die Massenauswanderung der chinesischen Coolies auch nach Europa, also für uns eine Beschleu­nigung des débacle und Steigerung der Kollision zur Krisis« (MEW 39, 301).

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die cR bei Marx und Engels vorrangig in ihrer Funktion für die Revolution in Europa in ihre Analysen einbezogen wird; die sozialen Ursachen und Auswirkungen für China bleiben dagegen sekundär.

2. Waren Marx' und Engels' Ausführungen zu China noch wesentlich von der Dichotomie Europa-Asien (vgl. MEW 9, 95: China als »direkter Gegenpol Europas«) beeinflußt, so geht Lenin in seinen Analy­sen von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit der russischen und chinesischen Entwicklung aus. Wie in Rußland litt auch das Volk in China unter einer »asia­tischen Regierung« und »unter dem Joch des Kapi­tals« (LW 4, 375). In seiner Einschätzung des Sturzes der Mandschu-Dynastie 1911 stützt er sich weitgehend auf zwei Artikel von Pawlowitsch, die im theoreti­schen Organ der Sozialdemokratie erschienen. Der nationale und antidynastische Charakter der revolu­tionären Bewegung, ihr Charakter als »Klassenkampf«, als »Kampf gegen das alte halbfeudale System« werden hier bereits hervorgehoben (1911, 372, 375).

Wie Pawlowitsch spricht auch Lenin dem revolu­tionären Kampf des chinesischen Volkes weltweite Be­deutung zu für die Befreiung Asiens und die Untergra­bung der Herrschaft der europäischen Bourgeoisie. Insgesamt ordnet er die Ereignisse von 1911 in den bürgerlichen Revolutionszyklus seit 1789 ein (LW 17, 477, 493). Zur näheren Bestimmung der Klassenver­hältnisse nach der Revolution zieht Lenin einen Auf­satz des Führers der Revolution, Sun Yatsen (1912), hinzu. Ausgehend von »asiatischen« Gemeinsamkeiten aller »bürgerlichen Revolutionen Asiens« kennzeich­net er die bürgerlichen Demokratien dieser Länder, »die jetzt endgültig in den Strom der weltumfassen­den kapitalistischen Zivilisation hineingezogen wer­den«, als »volkstümlerisch« gefärbt (LW 18, 153). Das Programm Sun Yatsens charakterisiert Lenin als Aus­druck einer noch fortschrittlichen Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen feudale Verhältnisse. Es sei mit »sozialistischen Träumereien« von einer möglichen Vermeidung des Kapitalismus verquickt, verfechte je­doch objektiv ein »maximal kapitalistisches Agrar­programm« (155f). Die sozialen Grundlagen der neuen chinesischen Republik beschreibt Lenin als »ein Bünd­nis der wohlhabenden Bauernschaft mit der Bourgeoi­sie [...], bei einem Fehlen oder bei völliger Ohnmacht des Proletariats« (393). Lenins wachsende Skepsis hin­sichtlich der Realisierungsmöglichkeiten von Suns Programm äußert sich bereits im Mai 1913. Er konsta­tiert die Inkonsequenz einer nicht vom Proletariat geführten bürgerlichen Agrarbewegung, die zu einer »Allianz der europäischen Bourgeoisie mit den reak­tionären Klassen und Schichten Chinas« tendiere (LW, EB 1, 282). Unter diesen Umständen sei die »de­mokratische Revolution« in China noch unvollendet, die breiten Volksmassen blieben ausgeschlossen und die Republik daher gefährdet. Im internationalen Maßstab erfülle die Bewegung Sun Yatsens jedoch eine fortschrittliche Funktion: »Das Erwachen Asiens und der Beginn des Kampfes des fortgeschrittenen Proletariats Europas um die Macht kennzeichnen die neue Ära der Weltgeschichte« (LW 19, 69, vgl. 82f). - In den folgenden Jahren wird die revolutionäre Bewe­gung in China von Lenin wiederholt angeführt, um summarisch auf die Bedeutung der Revolutionen Asiens hinzuweisen, die unter den Bedingungen des Imperialismus nationale Befreiungskriege darstellten und als »bürgerlich-fortschrittlich« einzustufen seien (LW 21, 305; vgl. 22, 318).

3. Auf dem II. Weltkongreß der K11920 wird die Frage der Einschätzung der cR in der Diskussion um die Ko­lonialfrage erneut aufgeworfen. Im Mittelpunkt steht das Problem, ob die KI »die bürgerlich-demokratische Bewegung in den zurückgebliebenen Ländern unterstützen« solle (Protokoll, 1921, 139). Im Ergebnis der Diskussionen wird der Begriff »bürgerlich-demokra­tisch« durch »nationalistisch-revolutionär« ersetzt, um auf diese Weise eine schärfere Abgrenzung zwi­schen reformistischer und revolutionärer Bewegung zu ermöglichen. Der zugeschriebene Klasseninhalt der Bewegung als einer bürgerlich-demokratischen wird davon nicht berührt. Die Bauernschaft wird als Vertreter der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse gekennzeichnet und die Rolle der Bourgeoisie der un­terdrückten Länder als »in gewissem Einvernehmen mit der imperialistischen Bourgeoisie« gegen die revo­lutionären Klassen charakterisiert (139f). Seitens der KI sollte eine Unterstützung der bürgerlichen Frei­heitsbewegungen nur dann erfolgen, wenn die Bewegung wirklich revolutionär sei. In den »Ergänzungs­thesen« des Inders M. N. Roy, die den Eurozentrismus der Arbeiterparteien kritisieren und die Kolonien als Dreh- und Angelpunkt revolutionärer Bewegung her­ausstellen, werden eine bürgerlich-nationalistische Bewegung, die die nationale Unabhängigkeit unter Bewahrung kapitalistischer Verhältnisse anstrebe, und eine Bewegung der Werktätigen, die sich auch gegen die eigenen besitzenden Klassen wende, unterschie­den. Beide Bewegungen seien völlig unvereinbar. Roy hält zudem eine sozialistische Entwicklung in den Kolonien unter Umgehung des Kapitalismus für möglich (147ff).

Die auf dem II. Weltkongreß entwickelten Analysen werden von der 1921 gegründeten KPCh in ihre Pro­gramme aufgenommen. Ausgehend von diesen Ana­lysen initiieren Komintern-Berater 1923 eine erste Einheitsfront von KPCh und Guomindang (GMD), die bis 1927 als Paradebeispiel und einzig erfolgreiches Modell der Zusammenarbeit zwischen einer KP und einer »wirklich revolutionären« bürgerlichen Partei dient. Ziel der Einheitsfront ist die politische Eini­gung des Landes und die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit. Die GMD wird im Gemeinsamen Programm als führende Kraft dieser nationalrevolu­tionären Bewegung festgeschrieben. Reformen von oben und Revolution von unten, d.h. die Mobilisie­rung der Arbeiter und Bauern gegen die Feudalherren, sollen miteinander verbunden werden. Der in den Analysen des II. Weltkongresses der KI 1920 bereits angelegte Widerspruch, einerseits die Bauernschaft als Vertreter bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse einzustufen, andererseits aber von einem Widerstand bürgerlicher Parteien gegen eine revolutionäre Mobi­lisierung der Bauern auszugehen, sollte sich dann in der Praxis als unlösbar erweisen. Die Einheitsfront scheitert, große Teile der KPCh und der revolutionären Massenorganisationen werden von den Führern der GMD, die sich mit den imperialistischen Kräften ver­bündet haben, zerschlagen. In der Folge finden in der KI wie auch in der KPCh Debatten um Strategie und Taktik der cR und um eine neue Einschätzung des Charakters der chinesischen Gesellschaft statt.

Mit dem bevorstehenden Bruch der Einheitsfront gewinnt die chinesische Frage einen neuen Stellen­wert im Fraktionskampf zwischen Stalin und der Vereinigten Opposition (Trotski, Sinowjew, Kamenew, Radek). Die von Trotski und Radek 1926 ver­tretenen Auffassungen erhalten neues Gewicht. Sie hatten die Existenz einer halbfeudalen Gesellschafts­struktur und den bürgerlich-demokratischen Charak­ter der chinesischen Revolution in Frage gestellt und den sofortigen Übergang zur sozialistischen Revolu­tion befürwortet. Bürgerliche und sozialistische Phase der Revolution seien miteinander verschmolzen, die Führung habe das Proletariat, die Bauern seien zur Führung der Revolution unfähig. Die Bourgeoisie, d.i. die GMD, sei selbst Objekt der Revolution. - Der Mehrheitsflügel der KI und die KPCh auf ihrem 6. Par­teitag weisen die Auffassungen der Vereinigten Op­position zurück und bekräftigten den bürgerlich-demokratischen Charakter der cR. Sie sei antiimpe­rialistisch und antifeudal, ihr Hauptinhalt bestehe zunächst in der Durchführung der Agrarrevolution. Doch neben den Feudalkräften wird nun auch die Bourgeoisie zu den Gegnern der Revolution gerech­net, während die Arbeiter und Bauern als ihre Träger gelten. Ziel ist zunächst die Errichtung der »demokra­tischen Diktatur der Arbeiter- und Bauernsowjets« unter Führung des Proletariats, bevor zu einer soziali­stischen Revolution übergegangen werden könne. Diese Positionen stellen eine Absage an Ideen von einer besonderen Entwicklung in China dar, wie sie z.B. dem Konzept der asiatischen Produktionsweise zugeschrieben wurden. - Anfang der 30er Jahre be­gründet die KPCh erneut den halbkolonialen und halbfeudalen Charakter der chinesischen Gesell­schaft, um die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Revolution gegenüber GMD-Ideologen aufzuzeigen, die mit dem Erreichen der nationalen Einheit und Unabhängigkeit des Landes unter ihrer Führung im Jahre 1927 die cR als vollendet ansehen und dies aus einer besonderen Entwicklung Chinas ableiten.

Nach dem Scheitern der ersten Einheitsfront 1927 konstituieren sich kommunistische Truppenteile der ehemaligen Nationalarmee als Rote Armee neu. In den von ihr kontrollierten Gebieten in Mittelchina werden von 1931 bis 1934 sieben Sowjetgebiete aufge­baut, in denen radikale Reformen, u.a. die Enteignung von Großgrundbesitzern, durchgeführt wurden. Die Angriffe der Nationaltruppen der Guomindang-Regierung zwingen die kommunistischen Truppen 1934 zum Rückzug aus diesen Gebieten; die Rückzugsge­fechte führen durch 11 Provinzen bis in die nordöstli­che Gebirgsregion von Shaanxi, die die letzten Trup­pen im Dezember 1936 erreichten. In der Folge wer­den diese Absetzbewegungen, die nur ein Zehntel der ursprünglich aufgebrochenen Kämpfer überleben, als »Langer Marsch« zum Wendepunkt und Vorboten des künftigen Sieges erklärt.

4. Angesichts der nationalen Bedrohung durch den ja­panischen Imperialismus seit 1931 und der wachsen­den weltweiten Faschismusgefahr bestimmt die KI seit 1935 und in der Folge auch die KPCh den Charak­ter, die Strategie und die Aufgaben der cR neu. Der na­tionale antifaschistische Widerstandskrieg gegen die japanische Invasion wird zur Hauptaufgabe erklärt. Dementsprechend soll der Kampf gegen die GMD zu­gunsten einer neuen Einheitsfront aufgegeben wer­den. Der GMD als Partei der Bourgeoisie werden mit der KPCh gemeinsame antiimperialistische Interessen zugesprochen. Im Dezember 1938 anerkennt die KPCh die Führungsrolle der GMD in der Einheitsfront und spricht sich für eine Unterstützung der Nationalre­gierung sowie der nationalen Streitkräfte durch die Rote Armee aus. Diesem Beschluß sind Auseinander­setzungen in der KPCh um die Frage der Führung der Revolution und des Widerstandskrieges und um eine unabhängige Politik der KPCh in der Einheitsfront vorausgegangen; die Debatten darüber bestimmen die innerparteilichen Kontroversen der folgenden Jahre. Im Mittelpunkt stehen Fragen der Anwendung des Marxismus in China, der Zurückstellung sozialer Ziele (Agrarrevolution) zugunsten nationaler Ziele und der militärischen Strategie: Guerillakampf zum Schutz der Befreiten Gebiete oder reguläre Kriegsführung gegen Japan mit den Truppen der Nationalarmee.

Chen Shaoyu (Wang Ming) und Mao Zedong sind die Protagonisten unterschiedlicher Konzeptionen der cR, wobei Mao seine Positionen weitgehend durchsetzt und sie im April 1945 vom 7. Parteitag der KPCh bestätigen läßt. Chen gibt der Einheitsfront als In­strument des Widerstandskrieges – langfristig auch als Instrument sozialer und demokratischer Reformen – ­Priorität. Die Bourgeoisie und das Proletariat der Städte sollen Träger der sozialen Veränderungen sein. Chens Strategie liegt die Annahme von der Übereinstimmung des Kampfes um nationale Selbstbestim­mung und für eine antifeudale Revolution zugrunde. Demgegenüber geht Mao von einer Gleichwertigkeit des nationalen und des sozialen Kampfes aus. Er sieht die Einheitsfront vor allem unter taktischem Aspekt und will durch die Fortsetzung der sozialen Verände­rungen die Position der KPCh ausbauen. Die Bauern sind für Mao Hauptträger der Bewegung, und die Au­tonomie der KPCh und der Befreiten Gebiete haben Priorität. In seinen Aufsätzen Die chinesische Revolu­tion und die Kommunistische Partei Chinas und Über die Neue Demokratie von Ende 1939 wird die Lösung der nationalen Frage auf den zweiten Platz verwiesen und werden die revolutionären Zielvorstellungen neu formuliert (AW 2, 353ff, 395ff). Mao charakterisiert die cR als eine »neudemokratische Revolution bzw. Revolution der ‘Neuen Drei Volksprinzipien’«, als eine »antiimperialistische und antifeudale Revolution der Volksmassen unter Führung des Proletariats«. Ihre Staatsform soll eine »Diktatur der Einheitsfront aller revolutionären Klassen unter Führung des Prole­tariats« sein (380). Die führende Rolle in der neude­mokratischen Revolution spricht er der KPCh zu. Das Programm weist über die Periode der Einheitsfront hinaus; es wird bis Anfang der 50er Jahre Grundlage der Politik bleiben: zunächst in den Befreiten Gebie­ten, dann, mit den Siegen im Bürgerkrieg 1945-1949 und der Gründung der Volksrepublik China 1949, im ganzen Land.

5. In der Aufarbeitung der kulturrevolutionären Pe­riode (1966-1976) wird die Frage der gesellschaftlichen Stellung der Intellektuellen in der VR China erneut thematisiert. Diese Diskussionen implizieren eine Be­wertung des historischen Charakters der cR; insbe­sondere wird die Frage aufgegriffen, ob es sich bei den Entwicklungen bis 1949 lediglich um eine Bauernre­volution gehandelt habe. Eine öffentliche Debatte darüber findet jedoch nicht statt. In den 60er und 70er Jahren greifen Theoretiker der Neuen Linken außer­halb Chinas (u.a. Betteheim und Masi) auf Theo­rien über den Charakter der cR zurück und diskutie­ren Einschätzungen der cR als Bauernrevolution, bür­gerlich-demokratische oder proletarische Revolution und das Konzept einer Fortführung des revolutionä­ren Prozesses auch in der VR China im Sinne der Theorien einer »permanenten Revolution«. Diese Dis­kussionen entstehen aus dem Interesse an der Herstel­lung einer Kontinuität des weltrevolutionären Prozes­ses in den Metropolen und in der »Dritten Welt«.

Bibliographie: H.C. D´Encausse u. St.R. Schram (Hg.), Marxism and Asia. An Introduction with Readings, London 1969; J.P. Harrison, Der lange Marsch zur Macht. Die Ge­schicke der Kommunistischen Partei Chinas von ihrer Grün­dung bis zum Tode von Mao Tse-tung, Stuttgart-Zürich 1978; G. Kleinknecht, Die kommunistische Taktik in China, 1921-1927. Die Komintern, die koloniale Frage und die Politik der KPCh, Köln-Wien 1980; D. Lowe, The Function of »China« in Marx, Lenin and Mao, Berkeley-Los Angeles 1966; M.P. Pawlowitsch, »Die große chinesische Revolution«, in: NZ, 1911, Nr. 30/1; Sun Yatsen, »Demokratie und Volkstümlerideologie in China«, in: Le Peuple, 11.7.1912; K.A.Wittfogel, »The Marxist View of China. Part I and II«, in: The China Quarterly, 1962, H. 11, 1ff, H. 12, 154ff; U. Wolter (Hg.), Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Berlin/W 1977; II. Kongreß der KI. Protokoll der Verhandlun­gen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1920 in Moskau, Hamburg 1921.

Mechthild Leutner

→ asiatische Produktionsweise, Aufklärung, Bauern, Bauern­bewegung, chinesische Kulturrevolution, Drei-Welten-Theo­rie, Einheitsfront, Imperialismus, Internationale, Mao-Zedong-Ideen, permanente Revolution, politische Ökonomie, Revolution, Revolutionstheorie