Am 1. Februar 1933 ließ die traditionsreiche württembergische SPD alle ihre Anhänger aufmarschieren. Um gegen die Machtübergabe an Hitler, Papen und Hugenberg zu protestieren, war die Stuttgarter Innenstadt mit Menschen, Fahnen und Plakaten zumBersten gefüllt worden. Das war eindrucksvoll – wie an anderen Orten des Reiches nicht minder. Die KPD-Führung hatte ähnliches sogar schon einige Tage zuvor veranstaltet. Am 25. Januar waren 130000 Demonstranten an Ernst Thälmann und Genossen vorbeigezogen.
Und dann? Dann war nichts. Im Sommer 1933 gab es nicht nur keine Arbeiterparteien und keine Gewerkschaften, ja überhaupt keine Arbeiterbewegung mehr, es waren auch alle anderen Parteien aufgelöst. Bis auf die NSDAP(und – bis 1934 – den Stahlhelm) hatte jede organisierte politische Bewegung ihr Leben ausgehaucht.
Wie ein Kartenhaus war diese Weimarer Republik in sich zusammengerutscht. Die Eliten in Wirtschaft und Militär – ohnehin republikfeindlich bis ins Knochenmark – hatten sich spätestens 1932 für einen faschistischen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise entschieden und waren ein Bündnis mit der erfolgreichsten antidemokratischen Massenbewegung eingegangen: dem Nationalsozialismus.
Gemessen an Bismarcks zwölfjährigem verbissenen, doch letztlich erfolglosen Kampf gegen die lächerlich kleine Sozialdemokratie hatten den Nazis ein paar Fußtritte gereicht. Offenbar waren Rosa Luxemburgs Phantasien, daß die Organisation die Bewegung der Klasse erstickt, weil sie nicht mehr Ausdruck dieser Bewegung, sondern zu einem leerlaufenden Apparat verkommen war, Wirklichkeit geworden. SPD und KPD hatten die deutsche Arbeiterschaft in die Erstarrung organisiert und obendrein in der Stunde der Gefahr durch großmäulige Unfähigkeit jämmerlich verraten.
Nach einem ungeheuren Zuwachs waren nach der Novemberrevolution in den proletarischen Organisationen die selbstbewußten sozialdemokratischen Arbeiter des Kaiserreichs in die Minderheit geraten: Die einst unorganisierten proletarisierten Untertanen der Hohenzollern suchten sich in den Gewerkschafts-, SPD- und KPD-Führern neue Alpha-Tiere, denen sie – wie schon 1918 dem Kaiser – 1932/33 bis in den Untergang folgen sollten.
1944/45 wiederholte sich dieser Vorgang abermals. Erst dann hatten selbst die deutschen Untertanen proletarischer Daseinsform von Politikern die Nase voll. Die Nachkriegsgeschichte ist hinreichend bekannt und muß hier nicht erneut aufgerufen werden. Der Sieger hieß im Detail und in der Gesamtsumme Konrad Adenauer.
Bleiben wir lieber noch einen Moment bei Rosa Luxemburg. Sie hatte die politische Partei in der Tradition der französischen Aufklärung gesehen. So wie die Aufklärer einst im französischen Bürgertum den Willen zur Freiheit und damit den Willen zur Macht unbezwingbar gemacht hatten, wollte sie dem internationalen Proletariat helfen, einen Willen zur Freiheit zu entwickeln, der sich durch nichts mehr brechen ließ. Dafür hielt sie eine Partei für nütze.
Nach Rosa Luxemburgs Ermordung war jedoch die Arbeiterschaft in einen Zangengriff geraten. Die eine Greifbacke bildete die regierungsgeile Bürokratie der SPD, die andere die fremdfinanzierte radikalverbale Bürokratie der KPD. Beide legten jede eigenständige Bewegung mit der ständig repetierten Drohung lahm, daß die Führer durch eigenständige Bewegungen lediglich in ihrer an Weisheit nicht zu übertreffenen Politik gehindert würden. Denn die Organisatoren waren es seit langem leid gewesen, sich ständig von der Basis »naßmachen« zu lassen, und hatten sich deshalb ins Trockene ihrer Büros mit den vielen Telefonen geflüchtet.
Bis es keine eigenständige Bewegung mehr gab, die die Organisationen hätte tragen können, und die Nazis ihre gelähmten Gegner in die Illegalität abdrängen und dann wie Freiwild jagen konnten. Das begann mit dem Reichstagsbrand am 27. Februar vor 75 Jahren.
Um Legenden vorzubeugen: Das wärenatürlich auch alles so geschehen, wenn Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 nicht aus der Mannheimer Straße 27 verschleppt worden wäre. Gegen Bürokratien hat ein einzelner keine Chance, selbst wenn sie untergehen.
Doch es erstarb an diesem 27. Februar nicht nur die Arbeiterbewegung, es verglommen in Deutschland auch die Reste des liberalen Bürgertums. Anders als die Arbeiterbewegung war es in Deutschland nie stark gewesen. Das Gros des deutschen Bürgertums – ohnehin verängstigt von der Jakobinerherrschaft 1793 – hatte spätestens 1848 die Kapitulation dem entschlossenen Zugriff vorgezogen. Es verblieb nur ein kleiner Rest, dessen Wortführer und von Bismarck mehr als die Sozialdemokraten gefürchteter Gegenspieler ein früh verstorbener Jude aus dem Osten des Reiches wurde: Eduard Lasker.
Seine Nachfolger hatten Namen wie Albert Einstein, Samuel Fischer, Else Lasker-Schüler, Siegfried Jacobsohn, Walther Rathenau, Kurt Tucholsky, Kurt Hiller, Hans Mayer, Ossip K. Flechtheim ... Sprößlinge des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums. Das hatte etwas, was das deutsch-christliche Bürgertum nicht hatte: die Erfahrung einer bestandenen Emanzipation – vom Ghettojuden zum selbstbewußten Bürger.
In diesem Punkt stand das deutsch-jüdische Bürgertum dem französischen Citoyen näher als dem deutsch-christlich-(klein-)bürgerlichen Untertan. Mit seiner Austreibung ins Exil und seiner Ermordung in Auschwitz und anderswo wurde ein wichtiger Quell für Kultur und Geist in Deutschland dauerhaft zugeschüttet. Nach dem Untergang von Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum geriet Deutschland zum Land der Mediokren, auf das aber bis 1990 die Sieger des Zweiten Weltkriegs aufpaßten. Seitdem haben wir hier nur noch Aufstieg erlebt – zum Hindukusch und im Har(t)z.
Gelernt haben wir nichts, aber das mit aller Kraft.