Algeriens soziale Bewegungen erkämpfen sich verstärkt Freiräume im Land. Doch ein Aufbruch der verkrusteten und klientelistischen politischen Strukturen bleibt vorläufig illusionär.
In der algerischen Gesellschaft macht sich kaum jemand Hoffnung auf progressive Impulse durch die Parlamentswahl im Mai, denn die politische Klasse des Landes ist in der Bevölkerung weitgehend diskreditiert. Algeriens fragiler sozialer Frieden ist angesichts des niedrigen Ölpreises zunehmend in Gefahr, doch Opposition und Zivilgesellschaft bleiben zu schwach, um das Regime zu tiefgreifenden Reformen zu zwingen. Dennoch beeinflussen unabhängige Gewerkschaften, für ein föderales System kämpfende Berberaktivisten und die Frauenbewegung mit ihrer Arbeit an der Basis verstärkt die Öffentlichkeit und stellen vorherrschenden Narrativen Alternativen gegenüber.
2015 erschütterten sektiererische Unruhen das Mzab-Tal rund 600 Kilometer südlich von Algier. Bei den gewaltsamen Ausschreitungen zwischen den zur Berberminderheit im Land gehörenden Mozabiten und Arabern wurden damals an nur einem Tag 22 Menschen getötet. Die Unruhen waren der vorläufige Höhepunkt des in offene Gewalt umgeschlagenen Konfliktes zwischen den Volksgruppen. Die Stationierung zusätzlicher Sicherheitskräfte konnte die Lage zwar beruhigen, doch unter der Oberfläche brodelt es seither weiter.
Die Verhaftungswelle gegen mozabitische Aktivisten nach den Gewaltexzessen hat bis heute Nachwirkungen auf zivilgesellschaftliche Akteure im Land, die sich mit ihrem Engagement für die Rechte der marginalisierten Minderheit im Mzab den lange vernachlässigten abgeschiedenen Provinzen im Süden Algeriens widmen und damit das von der herrschenden Klasse monopolisierte zentralstaatliche System herausfordern. Denn nicht nur im Mzab formierte sich offener Widerstand gegen die Politik des Regimes von Abdelaziz Bouteflika, Staatspräsident seit 1999.
Auch in Ouargla nahe der Ölfelder von Hassi Messoud und im tief in der Sahara gelegenen Ain Salah forderten Protestbewegungen politische Zugeständnisse der Zentralregierung. Während in dem von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Ouargla junge Aktivisten das Regime für seine verfehlte Arbeitsmarktpolitik kritisieren, mobilisiert in Ain Salah eine ökologisch motivierte Bewegung gegen die Förderung von Schiefergas. Das Thema schaffte es sogar in den Wahlkampf. Während sich Ahmed Ouyahia, Chef der Regierungspartei Rassemblement National Démocratique (RND), für die umstrittene Ausbeutung von Schiefergas aussprach, versicherte Energieminister Noureddine Boutarfa, das Land könne auf deren Ausbeutung verzichten – zumindest vorerst.[1]
Algeriens Berberminderheit – Kampf für ein föderales System
Bemerkenswert ist diese Entwicklung vor allem, da es diese drei so unterschiedlichen Bewegungen schafften, sich im weit entfernten Norden des Landes Gehör zu verschaffen und die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Insbesondere die Proteste im Mzab sorgten für Aufmerksamkeit, werden sie doch als Teil eines über die Region hinausgehenden Kampfes wahrgenommen. So setzen sich nicht nur Menschenrechtler wie der Anwalt und Chef eines Flügels der vor der Spaltung stehenden unabhängigen Ligue Algérienne pour la Défense des Droit de l'Homme (LADDH), Salah Dabouz, öffentlichkeitswirksam für die Rechte der marginalisierten Mozabiten ein und fordern eine inklusivere Politik des Staates,[2] sondern auch Parteien wie die in der berberisch geprägten Kabylei verwurzelte Front des Forces Socialistes (FFS), die ihren Wahlkampfauftakt in Ghardaïa im Mzab abhielt. «Während Berber in der Kabylei umfassend im Staats- und Sicherheitsapparat repräsentiert sind, sind Posten im Staats-, Sicherheits-, Justiz- und Bildungsapparat im Mzab überwiegend von Arabern besetzt», so Dabouz. Das streng konservative Mzab und die vornehmlich liberale Kabylei könnten zwar kaum unterschiedlicher geprägt sein, doch vereinen die Aktivistenszenen beider Regionen gemeinsame Ziele: Ein föderales politisches System und ein Staat, der Minderheitenrechte respektiert und Algeriens Reichtum angemessen verteilt.
Am 20. April 2017 folgten in mehreren Städten der Kabylei tausende Demonstranten den Aufrufen der Partei Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) und des Mouvement pour l’Autodétermination de la Kabylie (MAK), um an den Berberfrühling 1980 zu erinnern. Die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste vor 37 Jahren gelten bis heute als Symbol für den Kampf der Berberminderheit für mehr politische und kulturelle Rechte, der einer gut vernetzten Zivilgesellschaft, parteipolitischer Repräsentanz in Algier und einer äußerst aktiven unabhängigen Gewerkschaftsszene in der Region den Weg ebneten. Zwar erkämpften sich Algeriens Kabylen eine nicht unerhebliche rechtliche Anerkennung, doch trotz der Verfassungsänderung von 2016, die die Berbersprache Amazigh zu einer der Staatssprachen erhob, sind die Gesetze nach wie vor nicht entsprechend angepasst. Auch im Bildungssystem und Behördenalltag ist Amazigh nicht adäquat repräsentiert. Entsprechend mobilisieren Algeriens Berber weiter unaufhörlich für ihre Rechte.
Der Rückhalt für FFS und RCD, aber auch für das MAK, ist hoch in der Kabylei mit seinen rund sieben Millionen Einwohnern. Entsprechend kann das arabisch dominierte Regime in Algier die Belange der Berber schlicht nicht mehr ignorieren. Denn unabhängige Strukturen haben hier Beständigkeit. Das 1963 gegründete FFS erwies sich als äußerst widerstandsfähig gegenüber Kooptationsversuchen des Regimes, akzeptiert jedoch eine partielle Integration in Algeriens politisches System. Dennoch gäbe es einen Flügel des Regimes, der die Berberbewegungen domestizieren wolle, glaubt Dabouz. Das RND, dessen Chef in der Bevölkerung auch abwertend «le berbére du service» (dt. Berber des Systems) genannt wird, versuchte zwar einst, sich als Vertreter der Minderheit darzustellen, konnte aber in der Kabylei nie richtig Fuß fassen. Seit 1997 hat jeweils eine der zwei Parteien, FFS oder RCD, an Parlamentswahlen teilgenommen und den Abstimmungen damit eine gewisse Legitimität verliehen, doch sind beide von ihren zentralen Forderungen nie abgerückt. Während das FFS für ein föderales System wirbt, fordert das RCD eine Regionalisierung Algeriens. Beide verfolgen eine ähnliche ideologische und identitäre Agenda, unterscheiden sich aber deutlich vom MAK und dem erst 2017 gegründeten Rassemblement Pour la Kabylie (RPK),[3] die das System nicht von innen heraus, sondern mit außerparlamentarischer Arbeit reformieren wollen. Während das MAK einen radikaleren Autonomiestatus fordert, will das RPK sämtliche die Berberminderheit repräsentierenden Kräfte vereinen.
Algeriens unabhängige Gewerkschaften
In der Kabylei ist derweil auch ein anderer wichtiger Akteur der Zivilgesellschaft stark verankert: Unabhängige Gewerkschaften geraten hier regelmäßig mit der Staatsmacht aneinander. Erst im März wurde eine Demonstration des Syndicat Autonome des Travailleurs de l’Electricité et du Gaz (Snateg) in Béjaïa mit Polizeigewalt auseinandergetrieben, nachdem deren lokaler Ableger die staatliche Anerkennung und höhere Löhne gefordert hatte.[4] Auch im Bildungssektor formiert sich landesweiter Widerstand unabhängiger Gewerkschaften gegen die Politik der Regierung und selbst die Presse war jüngst betroffen von Arbeitskämpfen.[5] Während das Regime mit Hilfe des staatlichen und Streiks ablehnend gegenüberstehenden Gewerkschaftsbundes Union Générale des Travailleurs Algériens (UGTA) versucht, die Arbeiterbewegung ruhig zu halten, zählen autonome Gewerkschaften seit Jahren zu den aktivsten Akteuren der Zivilgesellschaft. Die regierende Klasse betrachtet diese auch deshalb als Gefahr, da autonome Gewerkschaften oft politische Forderungen stellen und sich mit anderen Akteuren solidarisieren.[6]
Entsprechend prekär ist die rechtliche Lage autonomer Gewerkschaften. Die Behörden verweigern diesen immer wieder die Registrierung, während Algeriens Justiz Streiks und Arbeitskämpfe regelmäßig als illegal einstuft und der Sicherheitsapparat oft gewaltsam gegen Aktionen autonomer Akteure vorgeht.[7] Eine politische Interessenvertretung im Staats- und Parlamentsapparat haben unabhängige Gewerkschaften daher nur partiell. Die eng mit autonomen Gewerkschaften assoziierte Parti Socialiste des Travailleurs (PST) verfügt nur über stark begrenzten Einfluss und trat bei der Parlamentswahl 2017 in nur einer der 51 Wahlbezirken mit einer Wahlliste an. Die landesweit operierende Parti des Travailleurs (PT) unter Louisa Hanoune ist zwar als parlamentarische Oppositionskraft etabliert, spielt aber eine ambivalente Rolle. Die Partei kritisiert die Arbeits- und Sozialpolitik der Regierung deutlich, unterstützt jedoch Präsident Bouteflika und gibt sich offenbar mit ihrer Rolle als linkes Feigenblatt im konservativ-islamistisch geprägten Parlamentsalltag zufrieden.
Algeriens Frauenbewegung im Aufwind?
Der in Algeriens konservativer Gesellschaft weitverbreitete patriarchale Diskurs stößt inzwischen jedoch nicht nur im Parlament verstärkt auf vehementen Widerstand. Trotz einer feministischen Bewegung im Land, deren Ursprünge bis in den Unabhängigkeitskrieg der 1950er zurückreichen, sind Frauen im heutigen Algerien vor dem Gesetz auch weiterhin massiv benachteiligt, auf dem Arbeitsmarkt stark unterrepräsentiert und in der Öffentlichkeit und im Privatleben mit sexueller Gewalt konfrontiert. Der öffentliche Dienst und die Justiz sind ebenso männerdominiert wie die Privatwirtschaft, Frauen in Führungspositionen eine Seltenheit. Selbst der Zugang zu Wohnraum für alleinstehende oder unverheiratete Frauen ist hochgradig beschränkt.
Seit der Einführung einer 30%-Quote ist nach der Parlamentswahlwahl 2012 die Repräsentanz von Frauen im Parlament zwar sprunghaft angestiegen, doch war die Durchsetzung einer Verschärfung des Strafgesetzbuches[8] in der jüngst abgelaufenen Legislatur alles andere als ein Spaziergang. Denn die 2016 in Kraft getretene Initiative, die die Belästigung von Frauen erstmals explizit kriminalisiert, wurde von islamistischen Abgeordneten vehement abgelehnt. Die Frauenrechtlerin und UGTA-Aktivistin Soumia Salhi unterstützte zwar das Gesetz, bezeichnete es jedoch auch als «mageren Fortschritt».[9] Seither mangele es an einer adäquaten Anwendung der neuen Paragraphen, sagt Brahim Mahdid[10] von Amnesty Algérie. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte jüngst die Untätigkeit und Ineffizienz algerischer Behörden bei der Verfolgung von Gewalt in der Ehe.[11] Mahdid zeigt sich dennoch optimistisch, denn es sei inzwischen ein deutlich stärkerer Aktivismus junger Frauen zu beobachten, die offensiv eine Gleichstellung einfordern. Dem weiterhin allgegenwärtigen religiös legitimierten patriarchalen Diskurs im Land wird damit ein nicht zu unterschätzendes Narrativ entgegengestellt, das zumindest im urbanen Norden des Landes zukünftig für enormen gesellschaftlichen Zündstoff sorgen dürfte.
Trübe Aussichten für weitreichende Reformen
Mittelfristig wird keine dieser drei Bewegungen in der Lage sein, das Regime zu einem tiefgreifenden Wandel seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik zu zwingen. Wie sich bereits anhand regelmäßiger lokaler, wirtschaftlich und sozial motivierter Proteste erkennen lässt,[12] ist es abermals die schiere Notlage, die in Algerien die Menschen auf die Straßen treibt und nicht der politische Aktivismus linker oder liberaler Interessengruppen. Seit dem Einbruch des Weltmarktpreises für Erdöl sind Algeriens Staatseinnahmen kollabiert. Das Regime verlor damit die Fähigkeit, sich den fragilen sozialen Frieden im Land zu erkaufen und ist seit 2015 zunehmend mit lokalen Aufständen konfrontiert. Es investierte zwar seit 2005 massiv in die Infrastruktur im Land, zeigte sich durchaus widerstandfähig gegenüber Forderungen, eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik zu implementieren – obwohl Austeritätsmaßnahmen der Aufnahme neuer Schulden vorgezogen werden – und willens, der grassierenden Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit etwas entgegenzusetzen. Doch der jüngste Einbruch der Ölrente führte erneut eindrucksvoll vor Augen, dass die Regierung aufgrund der Abhängigkeit vom Energiesektor nicht in der Lage ist, tiefgreifende Wirtschafts- und Sozialreformen anzustoßen. Algeriens Bevölkerung braucht jedoch angesichts eines vergleichsweise guten Bildungsniveaus und wirtschaftlichem Potentials keine staatlichen Almosen in Form von subventionierten Wohnungen oder Lebensmitteln, sondern eine nachhaltige und konsequente Diversifizierung der Wirtschaft und eine aktive politische und wirtschaftliche Teilhabe der Frauen, um langfristig Arbeitsplätze zu schaffen und die Bevölkerung aus der Abhängigkeit der hochgradig klientelistischen herrschenden Klasse zu führen.
[1] Vgl. https://themaghrebtimes.com/04/19/algeria-doesnt-currently-need-shale-gas-future-is-in-renewable-energy-says-boutarfa/
[2] Gespräch mit dem Autor. Dabouz begann im April 2017 einen Fußmarsch von Algier in das 400 Kilometer entfernte Laghouat, um damit auf die Lage der Mozabiten aufmerksam zu machen und der Forderung nach einer Freilassung des Berberaktivisten Kamaleddine Fekhar Nachdruck zu verleihen. Dieser war kurz nach den Unruhen in Ghardaïa im Juli 2015 verhaftet worden und ist seither inhaftiert. Seinen Hungerstreik brach er Ende April 2017 nach 108 Tagen ab.
[3] Vgl. http://www.tamurt.info/rassemblement-kabylie-rpk/
[4] Vgl. El Watan 23.3.2017.
[5] Vgl. http://www.huffpostmaghreb.com/2017/04/19/parution-de-liberte-chez-el-watan-la-reprobation-de-la-solidarite-de-patrons-contre-les-travailleurs_n_16096386.html?utm_hp_ref=algeria
[6] Bei von unabhängigen Gewerkschaften organisierten Demonstrationen und Arbeitskämpfen wird immer wieder die Freilassung politischer Gefangener sowie eine gerechtere Sozial- und Wirtschaftspolitik gefordert.
[7] Vgl. „L'illusion du changement“, Collectif des Familles de Disparu(e)s en Algérie (Hrsg) 2013.
[8] Vgl. http://www.joradp.dz/ftp/jo-francais/2015/f2015071.pdf
[9] Vgl. http://www.huffpostmaghreb.com/2015/03/12/soumia-salhi-feminisme-algerie_n_6853080.html
[10] Gespräch mit dem Autor.
[11] Vgl. https://www.hrw.org/news/2017/04/23/algeria-inadequate-response-domestic-violence
[12] Die Stadt Béjaia war im Januar 2017 Schauplatz massiver sozial motivierter Zusammenstöße zwischen jugendlichen Demonstranten und Sicherheitskräften. Protestler griffen gezielt staatliche Einrichtungen an, während die Polizei gewaltsam einschritt. Seither brachen immer wieder kleinere Proteste in der Kabylei aus.