Aus Anlass des 5. Todestages von Pierre Bourdieu (1930-2002) veranstaltete die Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 26. und 27. Januar diesen Jahres ein deutsch-französisches Kolloquium, um Werk, Wirken und Wirkung eines Franzosen zu diskutieren, der wie kein anderer seiner Generation und seines Formats die objektivierende Analyse der gegenwärtigen Gesellschaften mit der harten Kritik an denselben und ihrer praktischen Infragestellung verband. Gerade indem er den Anspruch erhob, die Tatsachen der sozialen Welt so auszusprechen, wie sie sind, also die Augen nicht zu-, sondern aufzumachen, deckte er die in den heutigen Gesellschaften verborgenen Ungleichheiten, Ungleichgewichte, Ungerechtigkeiten, Widersprüche und Herrschaftsrelationen auf und wurde er, auch im Rahmen seiner eigenen Zunft – der Soziologie – zu einem unbequemen, da äußerst kritischen Denker. Sein praktisch-politisches Engagement am Ende seines Lebens scheint insofern nicht im Widerspruch zu seiner Theorie zu stehen; vielmehr lässt es sich als Konsequenz derselben verstehen oder, wenn man so will, als Ausbruch aus dem Zirkel der reinen Theorie, mit der man die Welt zwar angemessen interpretieren, jedoch zumindest nicht direkt verändern kann.
Vita und Werk Bourdieus schienen den Veranstaltern spannungsreich und spannend genug, um daraus ein anderthalbtägiges Kolloquium zu konzipieren, zu dem ReferentInnen aus Frankreich und Deutschland eingeladen wurden und das sich ausdrücklich, über den engeren Kreis der Bourdieu-Spezialisten hinaus, an die breitere intellektuell und politisch interessierte Öffentlichkeit richtete. Bereits im Vorfeld stieß die Tagung auf breite Resonanz: Per Telephon oder e-mail meldeten sich weit über 200 InteressentInnen an. Das Publikum war, was die Generationsfrage sowie die institutionelle und lokale Herkunft anbelangt, erfreulich gemischt. Neben dem unmittelbaren Umfeld der Stiftung, d.h. ihren Sympathisanten und Stipendiaten, kamen viele insbesondere jüngere TeilnehmerInnen aus dem Hoch- und Fachschulbereich, und zwar nicht nur aus dem Berliner Raum, sondern bspw. auch aus Greifswald, Halle, Jena, ja sogar Wien, Linz und Straßburg. Entsprechend lebhaft verlief denn auch die an die Referate anschließende Diskussion, die dann stets in den Kaffeepausen – abends beim Wein – fortgesetzt wurde.
Entsprechend der Tagungskonzeption gliederte sich das Kolloquium in vier größere Partien: An einen Eröffnungspart, der das Spannungsfeld zwischen dem Intellektuellen und dem Wissenschaftler Bourdieu aufmachte, schlossen sich drei Arbeitskreise an, in denen, den Feldbegriff Bourdieus aufnehmend, das politische, das ökonomische und das kulturelle Feld thematisiert wurden bzw. die Möglichkeiten und Grenzen der Analyse sozialer Prozesse in diesen Feldern mithilfe der Bourdieuschen Begrifflichkeit.
In seinen eröffnenden Worten bezeichnete Rainer Rilling (RLS, Berlin) Bourdieu als „denjenigen, der nein sagte“ („celui, qui disait non“), als einen Intellektuellen, der Widerstand leistete, und zwar in Theorie und politischer Praxis zugleich. Wie auch Lothar Peter (Bremen) und Louis Pinto (Centre de Sociologie Européenne/EHESS, Paris) nach ihm wandte er sich gegen eine entpolitisierende und rein szientifische Rezeption Bourdieus, die das politische Engagement von der sog. reinen Theorie abzuschneiden sucht. Alle drei Redner verwiesen vielmehr auf die eigenartige Symbiose, die die zunächst scheinbar rein objektivistische Erklärung der und Aufklärung über die sozialen Strukturen mit dem Verständnis für die Nöte der in diesen Strukturen agierenden Menschen bei Bourdieu eingeht und den daraus resultierenden inneren Druck, den er verspürte, an der Minderung, wenn nicht gar Beseitigung, der Ursachen derartiger Nöte aktiv teilzunehmen. Zudem, so die drei Redner fast unisono, habe dieser französische Intellektuelle, unter Rückgriff auf theoriegeschichtliche Vorgaben, eine eigene, sehr spezielle Vorstellung vom Intellektuellen entwickelt. Nach A. Gramscis Begriff des „organischen Intellektuellen“, J.-P. Sartres Idee des „totalen Intellektuellen“ und des durch M. Foucaults kontrastiv dazu forcierten Konstrukts des „spezifischen Intellektuellen“ habe Bourdieu die Figur des kollektiven, in Netzwerken und auf unterschiedlichen Ebenen (der lokalen, nationalen, europäischen und/oder globalen) agierenden Intellektuellen entworfen und in solchen Projekten wie der Schaffung einer europäischen Intellektuellenzeitschrift namens „Liber“ oder der Bewegung „Raison d’agir“ umzusetzen versucht. Immer wieder aufgeworfen wurden in diesen Beiträgen Fragen nach Bourdieus Verhältnis zur Philosophie, zum Marxismus und zur Ökonomie.
Den Arbeitskreis zum politischen Feld eröffnete Margareta Steinrücke (Arbeitnehmerkammer Bremen) mit ihren Ausführungen zum herrschaftspolitischen Gehalt der theoretischen Kategorien Bourdieus. Bourdieus Soziologie sei insofern zutiefst politisch, als in ihr solche Kategorien wie Macht, Herrschaft und Gewalt eine zentrale Stellung einnehmen. Bourdieus spezieller Beitrag zur Soziologie der Macht, so die nach ihr sprechende Effi Böhlke (RLS, Berlin), habe in seinem Konzept der symbolischen Macht bestanden; wie kein anderer Denker vor ihm habe Bourdieu auf die symbolischen Aspekte bei der Installierung und Aufdauerstellung von Macht und Herrschaft verwiesen. Bourdieu zufolge könne jegliche Macht symbolischen Charakter annehmen; ja ihre Stabilität beruht geradezu auf demselben, d.h. auf ihrer fraglosen, also un- oder unterbewussten Anerkennung als legitim. Der blinde Fleck im Marxismus bestehe, Bourdieu zufolge, darin, eben diesen symbolischen Charakter von Macht- und Herrschaftskonfigurationen nicht wahrgenommen zu haben; insofern aber fehle diesem auch ein Verständnis der Persistenz derartiger Konfigurationen. An Bourdieus Theorie wiederum richtete E. Böhlke die Frage, ob denn in derselben nicht, durch die Konzeption von der Verinnerlichung objektiver Strukturen von Macht und Herrschaft im Habitus der Menschen, gewissermaßen ein „Hyperstrukturalismus“ vorliege und der Aspekt der Reproduktion gegenüber dem der möglichen Veränderung unverhältnismäßig dominiere. Wo sind, wenn alle – sowohl die Herrschenden als auch die Beherrschten – an der Reproduktion der Macht teilnehmen, überhaupt Auswege und Neuanfänge möglich?
Auf Bourdieus Kritik der politischen Repräsentation ging Gérard Mauger (Centre de Sociologie Européenne/EHESS, Paris) ein. Sei die Delegation von Macht an Repräsentanten zum einen zwar notwendig, damit in komplexen Gesellschaften größere Menschengruppen am politischen Spiel teilnehmen, so schließe sie die somit Repräsentierten doch zum anderen und zugleich auch wieder von diesem Spiel aus, als sie zu deren Entmündigung und damit Entmachtung führe. Die Teilnahme am politischen Spiel setze Minimalvoraussetzungen – etwa die Verfügung bestimmter politischer Kenntnisse bzw. bestimmter sprachlicher Fähigkeiten (politischer Jargon etc.) – voraus, über die die Masse der Menschen zumindest noch nicht verfüge. Die Aufgabe der Intellektuellen nun sei es, daran mitzuwirken, dass immer mehr Menschen zu diesem Spiel befähigt und insofern kompetent werden.
Manfred Lauermann (Hannover) ging auf das komplizierte Verhältnis Bourdieus zur Philosophie im Allgemeinen, zum Marxismus insonderheit ein. Beides, so Lauermann, habe Bourdieu abgelehnt; polemisch spitzte er zu, dass weder Philosophie noch Marxismus für die Ausprägung der Bourdieuschen Denkweise notwendig gewesen wären. Gegen diese Ansichten richteten sich allerdings mehrere Diskustanten, die auf die mehr oder weniger verborgenen philosophischen Quellen und Bezüge in Bourdieus Werk verwiesen.
Irene Dölling (Universität Potsdam) stellte in ihrem Beitrag folgende Frage an den Anfang: Warum kann, folgt man konsequent Bourdieu, ein über die neoliberale Gesellschaft hinausweisendes linkes Gesellschaftskonzept nicht ohne die Thematisierung der Geschlechterfrage auskommen? Ihre Antwort: Weil sich, Bourdieu zufolge, in den Verhältnissen der Geschlechter zueinander die in einer Gesellschaft vorhandenen Macht- und Herrschaftsrelationen kristallisieren und konkretisieren. Daher müsse sich die Linke notwendigerweise für eine Umgestaltung der in unseren Gesellschaften vorhandenen Klassifikationssysteme von männlich/weiblich, oben/ unten etc. einsetzen, die den vorrangig von Frauen ausgeübten Tätigkeiten einen niedrigeren Status zuweisen. Dölling sprach insofern nicht nur von symbolischer Herrschaft, sondern von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer symbolischen Revolution, die die bestehenden Dominanzen verändert, wenn nicht gar aufhebt.
An diesen sehr dichten Nachmittag, bei welchem es in Publikum wie Podium bereits zu offensichtlichen Ermüdungserscheinungen kam, schloss sich die Präsentation des von dem französischen Regisseur Pierre Carles realisierten Dokumentarfilms „La sociologie est un sport de combat“ („Die Soziologie ist ein Kampfsport“) an. Dieser Film, der großes Interesse bei den TeilnehmerInnen hervorrief, führte einerseits zur Entspannung von Körpern und Seelen; andererseits führte er spannend den Menschen Bourdieu und sein Agieren vor Augen, und zudem kamen viele der auf der Tagung debattierten Themen – die Rolle und Stellung des Intellektuellen, die symbolische Macht, das Geschlechterverhältnis – auch in ihm zur Sprache.
In „Das ökonomische Feld“ – Titel und Thema des zweiten Arbeitskreises – führte Frédéric Lebaron (Université de Picardie, Amiens) ein. In seinem Vortrag betonte er die Rolle des Symbolischen und des Konzepts der symbolischen Macht auch in den ökonomischen Analysen Bourdieus. Gerade anhand der ökonomischen Anschauungen, so Lebaron, könne man sehr gut sowohl die Kontinuitäten als auch die Brüche nachvollziehen, die Bourdieu mit Marx verbinden bzw. von ihm trennen: Habe er einerseits mit dem starken Gewicht, das er der Wirtschaft für die Gesellschaft beimaß, bei Marx angeknüpft, so sei er doch andererseits durch das Aufdecken der symbolischen Aspekte von ökonomischen Verhältnissen, die bei Marx entweder unterbelichtet blieben oder gar nicht betrachtet wurden, über diesen hinausgegangen. So sei etwa, Bourdieu zufolge, die Herrschaft des Kapitals nur insoweit und so lange stabil, wie sie auf der un- oder vorbewussten An- und damit Verkennung von Seiten der Unterworfenen beruht. Die symbolische Herrschaft wirke so auch und gerade im ökonomischen Feld: Auf ihrer Grundlage werde das System der Ausbeutung aufrechterhalten.
Auf die derzeit ablaufenden Prozesse massenhafter Prekarisierung ging Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) ein. Die verbreitete Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse führe zu einer Umschichtung der Gesellschaft, die mit neuen Vokabularien und damit neuen Klassifikationssystemen einhergehe. Hier müssten sich auch die Sozialwissenschaften weiterentwickeln, um nicht durch die Verwendung alter Begriffe das grundlegend Neue an den gegenwärtigen Prozessen eben nicht wahrnehmen zu können.
Lars Schmitt (Universität Marburg) behandelte die Frage, wie denn mit dem Theorieangebot Bourdieus soziale Konflikte analysiert werden können. Seine Antwort: Eine solche Analyse sei insbesondere dann möglich und erfolgreich, wenn Personen, die in einem spezifisch strukturierten Umfeld einen bestimmten Habitus ausgeprägt haben, plötzlich in ein anderes soziales Umfeld geraten, in welchem andere Formen des Denkens, Urteilens und Verhaltens an der Tagesordnung sind, als es ihren Gewohnheiten entspricht. In derartigen Fällen – handele es sich dabei um Emigranten, berufliche Aufsteiger oder Personen, die, aus einem bestimmten Milieu kommend, in einem anderen Milieu arbeiten – komme es häufig zu Habitus-Struktur-Konflikten, die sehr gut mit den Konzepten Bourdieus begriffen werden können.
Auch in Anschluss an die Referate zu Beginn der Tagung, die sich mit dem Verhältnis des wissenschaftlichen und des politischen Bourdieus befasst hatten, betonte Franz Schultheis (Université de Genève, Präsident der Stiftung Pierre Bourdieu) die starken Kontinuitäten, die den sog. späten mit dem sog. frühen Bourdieu verbinden. Nicht erst Ende der 90er Jahre habe dieser unter den zumeist in der französischen Banlieue angesiedelten algerischen Zuwanderern diverse Formen der Prekarität aufgedeckt und zur Sprache gebracht. Das Aufdecken diverser Formen von Elend, Armut und Ausbeutung sei vielmehr ein wissenschaftlich-politisches Anliegen Bourdieus, das sich durch all seine Arbeiten hindurch ziehe und bereits seine frühen Feldforschungen in Algerien Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre geleitet habe. Vor Ort habe er dort gerade auch die ökonomischen Seiten des französischen Kolonialismus und ihre Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung untersucht: Unter dem Stichwort der „Entwurzelung“ („déracinement“) habe der französische Philosoph, Anthropologe und Soziologe Prozesse des massenhaften Herausreißens von Menschen aus ihren gewohnten Milieus und ihres Hineinschleudern in eine fremde, durch die französische Kolonialmacht dominierte Welt untersucht und auf diese Weise zur Entschleierung der hier wirkenden symbolischen Gewalten beigetragen.
Ähnlich wie F. Lebaron versuchte auch Beate Krais (Universität Darmstadt), die Proportionen von Kontinuität und Diskontinuität von Bourdieu im Verhältnis zu Marx zu gewichten. Dabei konzentrierte sie sich auf die Weiterentwicklung des Klassenkonzepts durch Bourdieu. Habe dabei Bourdieu einerseits auf den Marxschen Klassenbegriff und seine enge Bindung an die ökonomischen Verhältnisse zurückgegriffen, so habe er diesen doch andererseits durch die Betonung der symbolischen Aspekte sozialer Klassen, ihrer spezifischen Sitten, Gebräuche Gewohnheiten, kurz ihres jeweiligen Habitus resp. ihrer Kultur, bereichert und wesentlich erweitert. Damit aber habe Bourdieu den im Kontext der westlichen Industrienationen des 19. Jahrhunderts entstandenen Klassenbegriff modernisiert und für die Analyse sozioökonomischer und politischer Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts handhabbar gemacht.
Dem kulturellen Feld in seiner Vielfalt und Weite gewidmet war der dritte Arbeitskreis des Kolloquiums. Den Auftakt machte der Literaturwissenschaftler und Romanist Joseph Jurt (Prof. em. der Universität Freiburg); er untersuchte die Relationen zwischen dem Literarischen und dem Soziologischen aus der Sicht Bourdieus. Während dieser in solchen Arbeiten wie dem dem Romancier Gustave Flaubert gewidmeten Buch „Les règles de l’art“ die sozialen Kontexte und Grundlagen literarischen Schaffens aufzudecken suche, gestehe er dennoch der schöngeistigen Literatur ihren Eigenwert zu und reduziere sie nicht auf eine reine Wiedergabe sozialer Prozesse. Und auch im Schaffen des französischen Soziologen selbst gebe es vielfältige Einflüsse durch und Nähen zur Belletristik und der ihr eigenen Sprache(n). Ebenso wie viele Literaten teile Bourdieu das Anliegen, Verborgenes aufzudecken und zur Sprache zu bringen, und dabei ließen sich deutliche Nähen etwa zu Claude Simon oder auch zu Marcel Proust erkennen.
Der Rolle des Sports in der Soziologie Bourdieus wandte sich Gunter Gebauer (FU Berlin) zu. Die Kultur des Sports – die Wahl ganz bestimmter Sportarten und die Art und Weise, diese zu betreiben – sei für Bourdieu eine signifikante Seite der jeweiligen Klassenkultur: Gesellschaftliche Klassen und Schichten unterschieden sich nach Bourdieu nicht zuletzt auch darin, welche Sportart von ihren Angehörigen präferiert und praktiziert werden. Doch lassen sich G. Gebauer zufolge gerade auch in den dem Sport gewidmeten Arbeiten Bourdieus seine verborgenen philosophischen Wurzeln erkennen: Solche von Bourdieu bei der Analyse des Sports verwendeten Begriffe wie Habitus, praktischer Sinn oder Zeit seien sehr stark durch ihre Herkunft aus der Philosophie Martin Heideggers imprägniert.
Die PISA-Problematik im Lichte der bildungssoziologischen Analysen Bourdieus thematisierte der als Lehrer in einer Gesamtschule tätige Soziologe Gerhard Schäfer (Bremen). Dass Bildungsfragen Machtfragen sind, das könne man gerade auch an den Ergebnissen der PISA-Studie für Deutschland erkennen: Die skandalöse Abhängigkeit der Bildungschancen für Kinder von ihrer sozialen Abhängigkeit in Deutschland sei ein Indikator für die enge Beziehung von Bildung und sozialer Lage und Stellung, auf die Bourdieu immer wieder hingewiesen habe. Für die Akkumulation kulturellen Kapitals, einer der wesentlichen Voraussetzung, um am Gesellschaftsspiel teilnehmen zu können, seien Geld und Zeit vonnöten, und darüber verfügten auch und gerade in Deutschland nach wie vor die besser gestellten Klassen und Schichten, so dass sich, mehr, als dies noch vor ein paar Jahren angenommen wurde, bereits vorhandene kulturelle Differenzen reproduzieren und/oder verstärken statt abschwächen würden.
Auf die Beziehungen zwischen Bourdieu und solchen Autoren der Postmoderne wie Michel Foucault und Judith Butler ging Stephan Moebius (Universität Freiburg) ein. Während im sozialwissenschaftlichen Diskurs zumeist die Differenzen zwischen Bourdieu und den Poststrukturalisten akzentuiert werden, betonte St. Moebius, dass Bourdieu wie Foucault ihre Analysen auf Phänomene von Macht, Herrschaft und Gewalt in diversen sozialen Bereichen fokussierten, während Butler und Bourdieu der Versuch eint, soziale Strukturen und Praktiken der in ihnen agierenden Menschen zusammen zu denken.
Die Vielzahl der auf diesem deutsch-französischen Kolloquiums aufgeworfenen Fragestellungen verweist auf das weite Feld an sozialen, politischen und kulturellen Problemen, die Pierre Bourdieu zum Thema seiner Forschungen gemacht hat und auf die entsprechende Vielfalt an Möglichkeiten, an ihn anzuknüpfen und mit ihm weiterzuarbeiten. Einig waren sich die Tagungsteilnehmer offenbar über die enge Verbindung von strenger Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse und ihrer harten Kritik und sich daraus ergebendem, wenngleich nicht parteigebundenem, politischem Engagement bei Bourdieu. Uneinigkeit herrschte vielmehr hinsichtlich der Beziehungen Bourdieus zur Ökonomie, zum Marxismus und zur Philosophie überhaupt vor. Aus der Sicht der Verfasserin dieses Berichtes allerdings zeugte die Tagung von einem starken Rückgriff Bourdieus auf Konzepte und darauf aufbauende Konzeptionen von Karl Marx – wie etwa das Konzept der Klassen und die starke Betonung der Rolle der ökonomischen Verhältnisse für die Gesellschaft – , die er jedoch entscheidend weiterentwickelte und bereicherte, nicht zuletzt durch die Ausarbeitung des Konzepts der symbolischen Gewalt und die Akzentuierung symbolisch-kultureller Formen und ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung. Und gerade in diesem Kontext wird der breite Bezug Bourdieus auf die Geschichte des europäischen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens deutlich, sind doch gerade im Konzept der symbolischen Gewalt die Einflüsse etwa von Pascal und Durkheim, aber auch solcher deutscher Denker wie Weber, Cassirer und Heidegger, unverkennbar. Der Abgänger der École Normale Supérieure der rue d’Ulm, der an dieser elitären Schule ein Studium der Philosophie absolvierte und sich dann, unter dem Eindruck seiner Erfahrungen und Erlebnisse in Algerien, zum kritischen Anthropologen und Soziologen entwickelte, hat, so mein Eindruck, seine philosophischen Wurzeln nie vergessen. Davon zeugt nicht zuletzt seine 1997 erschienenen „Méditations pascaliennes“, in dem er sich zu seinem durchaus kritischen Verhältnis zur Philosophie bekennt.
Obzwar also diese Fragen nicht einheitlich beantwortet wurden – oder vielleicht gerade weil dem so war –, handelte es sich bei dem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten Kolloquium zu Ehren Pierre Bourdieus um eine äußerst anregende Veranstaltung. Die Erträge des Kolloquiums werden in einem wahrscheinlich zur diesjährigen Herbstmesse erscheinenden Band veröffentlicht werden.
Publikation Bildungspolitik - Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie Ein weites Feld. Die Linke und Bourdieu
Ein Tagungsbericht zum deutsch-französischen Kolloquium der RLS am 26. und 27. Januar 2007 von Effi Böhlke