Die Diplom-Politologin Ana Garcia ist Mitarbeiterin des Regionalbüros São Paulo der RLS.Es war ein besonderes Wahljahr in Brasilien: Noch nie seit der Demokratisierung des Landes nach den Jahren der Militärdiktatur gab es so wenig Diskussion um politische Inhalte und Projekte, noch nie trat die Linke so gespalten auf, als Parteien ebenso wie als Persönlichkeiten. Diese Feststellung trifft aber ebenso auf die Rechtsparteien zu, die zersplittert sind und über keine Führungskraft verfügen. Auch sie konnten die Debatte nicht mit Inhalten ausfüllen, und vor allem konnten sie – aus verschiedenen Gründen – keine Mehrheiten erringen. Die Bevölkerung hat massiv Lula für Lula gestimmt, und das trotz der offenen Angriffe der Presse und Medien gegen ihn und die PT. Hier hatte die feindselige und aggressive Berichterstattung in den Massenmedien und die Verwicklung der PT in immer neu aufgedeckte Skandale nicht die erwartete Wirkung. Die von der Lula-Regierung aufgelegten sozialen Programme (Bolsa-Familia, Erhöhung des Mindestlohns, Mikrokreditprogramme etc.) führten dazu, dass die ärmsten Bevölkerungsteile, die besonders stark in den nördlichen Bundesländern Brasiliens vertreten sind, massiv Lula wählten (das Bundesland Maranhão z.B. mit 85%), während die besser gestellten Schichten und reicheren Bundesländer im Südosten und Süden zum grossen Teil dem Gegenkandidat Geraldo Alckmin ihre Stimme gaben. Die Presse sprach von einem „gespaltenen Brasilien“: Reiche gegen Arme, links gegen rechts. Kann man das wirklich behaupten?
Es ist schwierig zu beschreiben, was und wer heute in Brasilien „links“ ist. Lula selber meint, er sei nicht links, auch wenn die gesamte Linke sich um seine Kandidatur von 1989 bis 2002 vereinigt hat. Die Mehrheit der Linken innerhalb der PT ist nach den internen Parteiwahlen im September 2005 aus der Partei ausgetreten und viele haben sich der neu gegründeten Linkspartei des Sozialismus und der Freiheit – PSOL angeschlossen. Andere sind weiterhin in der PT verblieben, und meinen, sie könnten innerhalb der unterschiedlichen Strömungen und Gruppierungen Druck auf die Parteispitze ausüben, um konsequent die in Korruptionsfälle verwickelten Personen und Strukturen aufzudecken und auf die Veränderung der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Lula-Regierung hin zu wirken. Die soziale Linke (Bewegungen, NGOs, gesellschaftliche Organisationen) positionieren sich sehr kritisch. Die Mehrheit ihrer Forderungen wurden nicht in praktische Regierungspolitik umgesetzt. Für die Bewegung Consulta Popular ist der „Zyklus PT“ in der Geschichte der brasilianischen Linken mit der Lula-Regierung zu Ende gegangen. Sie plädiert dafür, nicht nur parteipolitisch zu denken und sich nicht vordergründig an den Wahlen zu orientieren, sondern für und mit dem Volk über ein übergreifendes Projekt für die Mehrheiten der Bevölkerung zu diskutieren.
Die verschiedenen Formationen der „Linken“ positionierten sich nicht einheitlich während des Wahlprozesses. Die neu gebildete Frente de Esquerda (PSOL-PSTU-PCB) mit ihrer Präsidentschaftskanditatin Heloísa Helena war als linke Opposition zur Wiederwahl von Lula aufgestellt und sollte für das linke Spektrum in Brasilien eine „Protestwahl“ manifestieren. Sie kam bei den Umfragen bis auf 11%, doch ihr Endergebnis belief sich auf 6% der gültigen Stimmen (in Rio de Janeiro z.B. erhielt sie jedoch 17%). Als starke Persönlichkeit bekannt, beging sie den Fehler, die programatisch-inhaltliche Ebene zu verlassen und eine persönliche Debatte gegen Lula zu führen (sie behauptete mehrmals, Lula hätte Angst vor ihr). Ihre politisch berechtigte Kritik an Lula lief dadurch oft ins Leere. Der Vizepräsidentschaftskanditat und linke Intellektuelle Cesar Benjamin erarbeitete ein politisches Programm für die Linksfront, das nicht einheitlich durch die drei Koalitionsparteien angenommen wurde, so dass die Frente de Esquerda ohne ein klares eigenständiges politisches Programm in die Wahl ging. Sie besaß deshalb keine „Fahne“, unter der sich die Bevölkerung sammeln konnte: Lula hatte die sozialkompensatorischen Programme, Alckmin die Ethik, Cristovan Buarque die Bildung. Und Heloísa Helena? Eine Veränderung der orthodoxen Wirtschaftspolitik hätte ihr Thema sein können, doch blieb ihr Diskurs auf persönliche Kritiken an Lula und der PT beschränkt. Ein Dialog mit der Bevölkerung darüber, wie ein linkes Projekt für Brasilien, für die prekarisierte Arbeiterklasse, für die Ausgeschlossenen aussehen könnte, entstand nicht. Nach Abschluss des ersten Wahlgangs und für die daraus folgende Stichwahl Lula vs. Alckmin verbat Heloísa Helena ihren Parteimitgliedern, sich öffentlich für einen der Kanditaten zu positionieren. Diese autoritäre Haltung erzeugte viel Ärger innerhalb der linken Opposition, und führte zu weiteren persönlichen Streitereien und Abbrechungen unter den Linken. Die Zukunft der neuen Partei PSOL ist unsicher, zumal sie nur drei Sitze im neuen Parlament erringen konnte. Durch das neue Parteifinanzierungsgesetz muss sie mit anderen Parteien kooperieren, um die staatliche Mittel für Partei- und Wahlfinanzierung zu bekommen.
Die Wahlkampagne Lulas basierte auf Unterstützung der ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes: „De novo, com a força do povo“, so hieß es. Die GegenkandidatInnen ihrerseits kritisierten seine ethischen Schwachstellen und zahlreichen die Korruptionsskandale seines Mandats. Und immer wieder entdeckten die Medien einen neuen Fall: Die Wahlkoordinatoren der PT in Sao Paulo versuchten von einer brasilianischen Wochenzeitschrift ein Dossier zu kaufen, das den Gegenkandidaten Serra von der sozialdemokratischen Partei (im Bundesland Sao Paulo) für den Kauf illegaler Krankenwagen in seiner Zeit als Gesundheitsminister verantwortlich machte. Für den Kauf des Dossiers bot die PT 1,7 Millionen Reais, mehrere Mitarbeiter Lulas waren involviert. Die Opposition behauptete, das Geld stamme aus staatlichen Quellen, wie der Brasilianischen Bank, doch die Bundespolizei ist in diesem Fall bisher noch zu keinem Ergebnis gelangt. Die Medien, vor allem die Presse, übten massiven Druck auf Lula aus, um eine Erklärung über die Herkunft des Geldes zu geben. Gleichzeitig wurde die Bundespolizei unter Druck gesetzt, um die kriminalistischen Untersuchnungen noch vor der Wahl abzuschliessen. Am Tag des ersten Wahlganges erschienen zwei der grössten Tageszeitungen Brasiliens mit einem Photo mehrere Geldstapel auf der ersten Seite. Das sollte angeblich das Geld für den Kauf des Dossiers abbilden, wobei im Nachhinein hinterfragt wurde, wie die Journalisten Zugang zu diesem Geldbündeln hatten, um ihre Fotos zu schießen... Die Wahl war also auch eine Kriminalgeschichte. Der Täter konnte aber noch nicht gefasst werden. Und der eigentliche Inhalt des Dossiers, also Hinweise auf die Verwicklung José Serras in eine „Ambulanzenmafia“, wurde nicht in der Presse diskutiert.
Obwohl Umfragen mit einem Sieg Lulas im ersten Wahlgang gerechnet hatten, kam es so zu einer Stichwahl zwischen Lula und Alckmin. Indirekt wurde dabei eine neue Komponente in den Wahlkampf eingeführt: die Politisierung. Endlich begann man, Programmatik und inhaltiche Fragen zu debattieren. Das Thema Privatisierung stand dabei im Mittelpunkt der Diskussionen. Nach einer Aussage des ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, dass er die Privatisierung der brasilianischen Erdölfirma Petrobrás befürworte, nutzte die PT, um sich von den Sozialdemokraten zu differenzieren. Die PT verwies auf die negativen Auswirkungen der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Industrien während der „Epoche FHC“ und warf dem Gegenkandidaten Alckmin vor, die noch verbliebenen staatlichen Unternehmen –Petrobras, die Post und die Sparkassen – privatisieren zu wollen. Diese Diskussion fand Rückhalt beim politischen Publikum. Alckmin war gezwungen, sich öffentlich diesem Problem zu stellen und sich gegen eine Privatisierung dieser Unternehmen auszusprechen (obwohl er gleichzeitig die Privatisierungspolitik der Regierung FHC lobte). Gleichzeitig gab er öffentliche Garantien darüber ab, dass Sozialprogramm Bolsa-Familia nicht aussetzen zu wollen[1].
Darüber hinaus positionierten sich beide Kandidaten unterschiedlich in Fragen der Aussenpolitik. Alckmin propagierte ausdrücklich die Wiederbelebung der ALCA-Verhandlungen. Die Beziehungen zu den USA und Europa seien durch eine „Ideologisierung“ der Aussenpolitik gefährdet worden, diese müsse wieder technisch-neutral für das Interesse Brasiliens eintreten. Im Streit zwischen Petrobras und Bolivien sei Lula vor Morales auf die Knie gefallen und habe das Interesse Brasiliens nicht verteidigt. Die Aussenpolitik der Lula-Regierung priorisiere den Mercosur und die Beziehungen zu den lateinamerikanischen Ländern, baue zudem neue politische und Handelsbeziehungen mit anderen „Südländern“ wie Indien, Südafrika, China, arabischen Staaten und dem afrikanischen Kontinent auf.
Die ALCA-Verhandlungen sind in dieser Phase stehengeblieben. Im Erdgasstreit mit Bolivien verhandelte Lula mit Evo Morales, anstatt unmittelbar nach der Nationalisierung des Erdgases Bolivien vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Gefährdung internationaler Investitionen zu verklagen. Andererseits ist die Verteidigung der Interessen des brasilianischen Agrargeschäfts bei internationalen Handelsverhandlungen durch die Lula- Regierung nicht zu übersehen, vor allem bei der Forderung an die Welthandelsorganisation nach mehr Liberalisierung im Agrarhandels und nach Abbau von Handelsbarrieren durch die Industrieländer. Die Agrarexporteure haben durch die enormen Exporterhöhungen während der Lula-Regierung viel gewonnen, doch unterstützte diesen Sektor den Gegenkandidaten Alckmin. Dagegen trat die Landlosenbewegung MST für die Wiederwahl von Lula ein, obwohl in seiner Regierungszeit die Ziele der Agrarreform bei Weitem nicht erreicht wurden.
Wie erklärt sich das? Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass sich um Lula eine gewisse politische Symbolik rankt, woraus sich wiederum eine Klassenpositionierung bildet. Die Stichwahl wurde zu einer Wahl zwischen Links und Rechts, obwohl es nicht der politischen Realität, der realen Politik der Lula-Regierung in all ihren Aspekten entspricht. Die Entscheidung fand letzendlich zwischen dem extrem rechten (Opus Dei-nahen) Kandidaten Alckmin und dem nicht mehr im vollen Umfang die Linke repräsentierenden Kandidaten Lula statt. Einige soziale Bewegungen setzten sich aktiv für die Wahl Lulas ein, um Alckmin zu verhindern (und mit ihm die zu erwartende Kriminalisierung sozialer Bewegungen). Andere überließen es der individuellen Entscheidung ihrer Mitglieder, wieder andere plädierten für die ungültige Stimme. So führte dieser zweite Wahlgang einerseits zu einer Sammlung mancher sozialer Sektoren um Lula (als Repräsentant der unteren Klassen), gleichzeitig aber schaffte er auch viele Spaltungen, Trennungen und Streitigkeiten innerhalb der sozialen Bewegungen.
Der Ausgang der Wahl ist bekannt. Zweierlei ist noch anzumerken: Erstens hatte Alckmin mehr Stimmen im ersten Wahlgang als bei der Stichwahl (eine Differenz von drei Millionen), was sehr ungewöhnlich in der brasilianischen Geschichte ist. Zweitens ist die Zahl der ungültigen Stimmen (angenommen, dies seien „Proteststimmen“) auch um eine Million zurückgegangen. Lula verfügt damit über eine bessere Ausgangssituation als im Jahre 2002. Die Fraktionen im Kongress, die Lula unterstützen, sind grösser geworden (er kann theoretisch mit 303 von 513 Parlamentsstimmen rechnen). In seiner ersten Rede nach den Wahlen betonte Lula, mit allen Parteien im Kongress sprechen zu wollen, um mit ihnen über die Unterstützung seiner Regierung zu verhandeln. Darüber hinaus kann er mit mehr Gouverneuren als früher auf seiner Seite rechnen. Die PT errang die Regierung in fünf Bundesländern, davon drei im Nordosten und zwei im Norden, wo früher „Coronéis“ herrschten[2]. Darüber hinaus kann Lula mit der Unterstützung einer Reihe von Gouverneuren anderer Parteien rechnen, damit hat er eine die Mehrheit in den Bundesländern. Diese können einen politischen Druck auf ihre Parlamentsfraktionen ausüben, so dass Lula sich in einer günstigeren Situation befindet.
Hier kann man zur Ausgangsfrage zurückkehren, ob der Wahlsieg Lulas ein Sieg der Linken in Brasilien sei. Im Hinblick auf die Verhinderung einer rechts-neoliberalen PSDB/PFL – Regierung lässt sich diese Frage bejahen. Offen bleibt, wie sich die aus der PT ausgetretene Linke aufstellt. Sie steht nach wie vor in Opposition zu den neoliberalen Politiken der Lula-Regierung und will eine breite gesellschaftliche Basis für einen linken Transformationsprozesses in Brasilien schaffen. Wie positioniert sich diese Linke im zweiten Lula-Mandat, wenn gleichzeitig die grosse Mehrheit der unteren Schichten, die eigentlichen Akteure eines emanzipatorischen Transformationsprozesses, durch ihre Wahlstimme Lula das Vertrauen ausgesprochen hat? Kann man weiterhin Kritik üben und Opposition in gleicher Art betreiben wie vorher? Steht man (bewusst oder unbewusst) in einer „Avantgarde-Position“ und hat man „übersehen“, was eigentlich in vielen dieser Bevölkerungsgruppen geschieht? Diese Fragen werden im Zentrum der zukünftigen politischen Debatten in Brasilien stehen. Zur Zeit herrscht dazu in der Linken eine große Ratlosigkeit.
[1] Die wichtigsten sozialen Bewegungen in Brasilien organisieren bereits eine Kampagne für die Wiederverstaatlichung der grössten Bergbaufirma Vale do Rio Doce. Dies ist eine der wichtigsten Forderungen der Bewegungen an die neue Regierung.
[2] Als eine Auswirkung der Sozialpolitik der Lula Regierung (wie dem Programm „Bolsa Familia“, aber auch die Sozialtarife für Elektrizität) änderten sich die politischen Strukturen im Nordosten Brasiliens, wo schon immer Oligarchien geherrscht haben. Viele Bundesstaaten wählten statt der traditionellen Rechtsparteien diesmal Linksparteien: Im Bundesland Bahia endete die Herrschaft von Antonio Carlos Magalhães, dort gewann Jacques Wagner von der PT; im Bundesland Maranhão endete nach 40 Jahren die Herrschaft der Familie Sarney, zum ersten Mal gewann der Oppositionsführer Jackson Lago (PDT), obwohl Lula ausdrücklich die Kandidatur von Roseana Sarney als Gouverneurin unterstützte. In Ceará gewann Gegenkandidat Cid Gomes (PSB) gegen die Familie Jereissati. In Sergipe übernahm die PT, in Pernambuco die PSB die Regierung (Vgl. Folha de São Paulo, 30.10.06).