National-populare Regierungen und rebellische Basisbewegungen
Einleitung
Lateinamerika wählt links oder linkspopulistisch. Der Subkontinent wendet sich vom neoliberalen Diskurs der liberal-konservativen US-Verbündeten ab, die Lateinamerika seit den achtziger Jahren regierten. Das Superwahljahr 2006 mit Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in zehn Ländern und hier vor allem in Mexiko (Juli) und Brasilien (Oktober) wird zeigen, ob an den Urnen dieser Trend anhält. Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie die post-neoliberalen Regierungen in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Uruguay und Venezuela zu bewerten sind. Im Folgenden soll, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, versucht werden, in einer Zusammenschau die reformerischen, linkspopulistischen und antikapitalistischen Politikvarianten einzuordnen, deren Facettenreichtum und Zusammenwirken den gegenwärtigen Linkstrend ausmacht.
Was ist in Lateinamerika heute links?
Die heutige Linke Lateinamerikas ist eine „Kombination einer Vielzahl von Parteien, sozialen Bewegungen und Ideologien“ (Alan Angell, Quetzal Nr. 15/16, 1996). Dabei scheint es wenig sinnvoll, den umstrittenen Begriff „links“ eng zu fassen und sich bei der Diskussion etwa auf antikapitalistische Kräfte zu beschränken. Dies hätte den entscheidenden Nachteil, dass nur ein kleiner Ausschnitt der gesellschaftsverändernden Potentiale im Blickfeld läge. Reformer, die derzeit die politische Landkarte Lateinamerikas prägen, wären mit dieser Perspektive gar nicht bzw. nur in negativer Abgrenzung als Ex-Linke, Nicht-Linke etc. zu fassen. Als zusätzliche positive Kriterien für linke Kräfte scheinen geeignet das Eintreten für das „Ideal der Gleichheit“ (Norberto Bobbio) sowie für sozialen Fortschritt und Wandel. Carlos Vilas gibt jedoch zu bedenken, dass selbst das Eintreten für mehr soziale Gleichheit keine Position mehr sei, die heute ausschließlich von linken Strömungen vertreten wird. Internationale Organisationen wie die Weltbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank treten mittlerweile für ein erhöhtes Maß an sozialem Ausgleich ein, weil sie sonst die Regierbarkeit und die Aufrechterhaltung des neoliberalen Modells auf globaler Ebene gefährdet sehen. (Nueva Sociedad 197, 2005). Carlos Vilas nennt deshalb als weitere Kennzeichen linker Politik die “Reform des politischen Systems, mit dem Ziel die Partizipation auf bis dahin ausgeschlossene Gruppen auszuweiten“, die „Infragestellung der Organisation der Produktion“, die Organisierung von Arbeitern und popularen Schichten, die Säkularisierung der Kultur und die Einbettung in das internationale Mächtesystem mit einem erhöhten Grad an Autonomie.
Die Debatte um die Linke Lateinamerikas ist nicht zuletzt deshalb voller Fußangeln, weil die historisch bedeutendsten Veränderungsprozesse in Richtung der oben genannten Parameter nicht von linken Arbeiterparteien verwirklicht wurden. Vielmehr waren es „nationalrevolutionäre Bewegungen“ oder „national-populare Regimes“, wie sie Carlos Vilas bezeichnet (Nueva Sociedad 197, 2005), die tiefgreifende sozioökonomische und politische Umgestaltungsprozesse vorangetrieben haben. Es ist hier in erster Linie an die mexikanische Revolution und ihre nachfolgende Institutionalisierung zu denken. Stellvertretend für andere Prozesse wären auch die bolivianische Revolution in den fünfziger Jahren, der Peronismus in Argentinien, populistische Phasen in Brasilien oder der Sandinismus zu nennen. Das Verhältnis zur Arbeiterlinken (klassenkämpferische Gewerkschaften, sozialistische und kommunistische Parteien) gestaltete sich je nach Land und historischer Phase sehr unterschiedlich. Es reichte von blutiger Verfolgung bis hin zu verschiedenen Formen der Kooperation. Wir betrachten die Parteien und Organisationen mit Wurzeln in Arbeiter- und Landarbeiterbewegungen sowie die politisch und sozial deutlich heterogeneren national-popularen Bewegungen als Kontinuum politischer Kräfte, die zueinander wie kommunizierende Röhren in Beziehung stehen. Dabei können sich diese Strömungen, die vielfach von antiemanzipatorischen Tendenzen wie Autoritarismus, Paternalismus und Klientelismus sowie einem ausgeprägten Personenkult gekennzeichnet waren, ergänzen wie auch gegenseitig blockieren.
Politische Spielräume v.s. ....
Zwischen den heutigen Reformregierungen und ihren populistischen Vorläufern liegen zwei historische Etappen: Die blutige Phase der Diktaturen in den 1960er und 70er Jahren sowie die daran anschließenden zwei Dekaden von Wirtschaftsliberalisierung und Demokratisierung unter der Ägide liberal-konservativer Parteien, ebenso enger Verbündete der USA wie die abgelösten Diktatoren. Die Erfahrungen mit Staatsterrorismus, Exil und der Zerschlagung linker Organisationen führten dazu, dass heute bürgerlich-demokratische Normen wie freie Wahlen, Organisations-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit u.s.w. von linken Parteien und, wenn auch mit Abschwächungen, von linkspopulistischen Bewegungen als unterstützenswerte Essentials verteidigt werden. Dies gilt ebenso für die ehemaligen Guerillabewegungen Mittelamerikas und, mit speziellen Akzenten, für die explizit antiparlamentarischen Zapatisten. Lediglich Kuba hält derzeit noch an seiner realsozialistischen Konzeption fest, in der staatsbürgerliche Freiheiten und soziale Gleichheit im Gegensatz zueinander stehen. Der zweite grundlegende Wandel in der Politik betrifft die veränderte Wahrnehmung in den USA. Unter Bedingungen der geopolitischen Rivalität mit dem Realsozialismus galten den USA Linke Lateinamerikas als “gefährlicher Akteur“, wie etwa Wilfredo Lozano (Nueva Sociedad 197, 2005) hervorhebt. Trotz ihrer eingeschränkten Fähigkeit zur sozialen Repräsentation wurden Revolutionäre unterschiedlichster Couleur und teils auch Reformer als wirkliche oder vermeintliche „fünfte Kolonne Moskaus“ eingestuft und jahrzehntelang mit aller Härte bekämpft. Seit dem Ende der Blockkonfrontation agieren die USA zurückhaltender, wenngleich dies im Einzelfall wie in Kolumbien mit dem „Plan Andino“ oder gegenüber Präsident Chávez militärisches Eingreifen oder politische Konfrontationen nicht ausschließt.
....sozio-ökonomische Grenzen
Größeren außenpolitischen Spielräumen stehen verringerte Spielräume in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gegenüber. Nachdem in der Phase der „importsubstituierenden Industrialisierung“ (1930 – 1980) in Lateinamerika Grundstoff- und Konsumgüterindustrien entstanden, der Staat Infrastrukturen und staatseigene Unternehmen ausbaute, mit Krediten und hohen Schutzzöllen die Produkte der einheimischen Industrien gegen ausländische Konkurrenz schützte und so seine Funktionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vervielfachte, hatte das Pendel Ende der 1970er Jahre ins Gegenteil ausgeschlagen. Unter dem Diktat der Auslandsverschuldung wurden in den 80er und vor allem in den 90er Jahren im sozialen Bereich Gegenreformen durchgeführt, welche die soziale Basis der Linken (Beschäftigte in formeller Ökonomie; Mittelklassen) hart trafen und ihre Möglichkeiten der Interessensartikulation verringerten. Parallel dazu wurde die Privatisierung der Staatsindustrien vollzogen. Dabei war Lateinamerika im Vergleich zu allen anderen Entwicklungsländern führend.1990-95 wurde aus dem Verkauf von 694 Unternehmen ein Privatisierungserlös von 59 Mrd US $ erzielt, mehr als die Hälfte der Gesamterlöse in Entwicklungsländern. 1998 waren es sogar 77% (Boris/Tittor/Schmalz 2005, 42). Zusammen mit Zollsenkungen und der Öffnung für Importe verloren die Staaten Lateinamerikas damit nach innen hin an wirtschaftspolitischer Steuerungsfähigkeit. Stellt man noch die hohe Auslandsverschuldung sowie den anhaltenden Bedarf an frischem Kapital in Rechnung, so ergibt sich ein Bild starker Krisenanfälligkeit. Externe Schocks, wie die Asienkrise 1997, Zinserhöhungen der US-Notenbank, erhöhte Zinsaufschläge wegen politischer Krisen, fallende Rohstoffpreise oder andere Veränderungen der außenwirtschaftlichen Variablen, die von Lateinamerika kaum beeinflussbar sind, können alle Ökonomien, eingeschlossen Brasilien und Mexiko, jederzeit in akute Krisen stürzen. Aus dieser außenwirtschaftlichen Verwundbarkeit ziehen die derzeitigen post-neoliberalen Regierungen den Schluss, dass wesentliche Elemente der neoliberalen Wirtschaftspolitik beibehalten werden müssen. Jene nämlich, die das makroökonomische Gleichgewicht und die Einordnung der jeweiligen Nationalökonomien in den Weltmarkt steuern, also Inflationsbekämpfung, Erzielung von Leistungsbilanzüberschüssen zur Schuldenbedienung, ausgeglichene Haushalte, niedrige Zölle, Freihandel etc.. Zwar gibt es graduelle Unterschiede in der Entschiedenheit, mit der diese Ziele umgesetzt werden, Brasiliens PT-Regierung unter Lula oder die chilenische Concertación, an der die sozialistische Partei seit Ende der Diktatur beteiligt ist, sind hier orthodoxer, als etwa Kirchner in Argentinien oder Chávez in Venezuela. Die Ökonomen der Weltbank und die Reformregierungen einschließlich Chávez sind sich jedoch einig, der makroökonomischen Stabilität Vorrang zu geben. Die sozialen Belange der Bevölkerung werden als anhängige Variable davon gesehen. Die Sozialprogramme sind so angelegt, dass sie die Pfeiler der Weltmarkteinordnung nicht in Frage stellen. Keine der aktuellen post-neoliberalen Regierungen zielt kurz- oder mittelfristig auf einen Wandel der Produktionsverhältnisse oder einen grundlegenden Strukturwandel der Gesellschaft ab. Anders als bei Linksregierungen in früheren historischen Phasen geht es nicht um Sozialismus. Es handelt sich vielmehr um gradualistische Strategien mit der Absicht, „den Kapitalismus ausgeglichener und deshalb verregelter“ zu gestalten. So fasst der bereits zitierte Carlos Vilas die aktuellen sozioökonomischen Strategien „national-popularer Regimes“ zusammen. Auch der „neue, frische, sehr unsrige, eingeborene bolivarianische Sozialismus“, den Chávez postuliert, „ist letztlich noch immer eine Variante des Kapitalismus“ analysiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.01.2006). Ein mit verschiedensten Maßnahmen wieder gestärkter Staat soll Sozialreformen vornehmen und eine vorteilhaftere Einordnung in die globale Wettbewerbsökonomie in die Wege leiten, obwohl dafür die Bedingungen „intern wie international abwesend sind“, so Boris/Schmalz/Tittor skeptisch. Der Kernbestand makroökonomischer und gesellschaftlicher Strukturreformen, welche in den letzten beiden Dekaden das neoliberale Modell auf den Weg gebracht hatte, bleibt unangetastet. Aus diesem Befund folgt, dass es zwischen den Reformregierungen Lateinamerikas und den sie tragenden Schichten zu einem Dauerkonflikt um die Sozialpolitik kommen muss. Einige große oppositionelle Basisbewegungen (Landlose in Brasilien, Piqueteros und Betriebsbesetzer in Argentinien, Cocaleros im Andenraum oder Bewegungen gegen Privatisierung in einigen Ländern) vertreten zudem sozioökonomische Forderungen mit teils antikapitalistischen Stoßrichtungen, die diesen engen sozio-ökonomischen Rahmen sprengen. Auf der anderen Seite sollte die Möglichkeit eines stärker national und regional zentrierten Entwicklungsmodus nicht a priori ausgeschlossen werden. Denn dies würde bedeuten, es gäbe in der Peripherie unter der Schwelle der Systemveränderung prinzipiell keine Alternative zum Neoliberalismus, so Boris/Schmalz/Tittor in ihren Reflexionen „zur neoliberalen Hegemonie in Lateinamerika“.
Drei Hauptströmungen
Teodoro Pettkoff konstatiert in Lateinamerika die Existenz zweier linker Hauptströmungen. Einer „pragmatischen, demokratischen Reformlinken“ stehe eine autoritäre, radikale „archaische Linke“ mit den Exponenten Castro und Chávez gegenüber (Nueva Sociedad 197, 2005). Aus Gründen der analytischen Trennschärfe scheint es zielführender, drei Hauptströmungen voneinander zu unterscheiden:1) sozialdemokratische und sozialistische Reformparteien 2) national-populare Strömungen und Regierungen und 3) anti-systemische Bewegungen. Es ist im Einzelfall wie etwa bei der bolivianischen „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) oder der brasilianischen Landlosenbewegung MST sicher nicht immer möglich, Organisationen trennscharf einer Kategorie zuzuordnen, weil in ihrem Inneren unterschiedlichste Flügel koexistieren. Außerdem wandeln sich die Akteure im Laufe ihrer Existenz z.T. erheblich, so wie etwa die Revolutionsbewegung El Salvadors zur Parlamentspartei oder sie fächern sich auf wie die Piqueteros in Argentinien. Da sich die soziale Basis, die innerorganisatorischen Strukturen und die inhärenten politischen Logiken signifikant unterscheiden, scheint die Einteilung in drei Grundströmungen dennoch nützlich. Steve Ellner hat „drei anti-neoliberale Strategien Lateinamerikas“ skizziert (Das Argument 262, 2005), die m.E. diesen Strömungen zugeordnet werden können. Ellner spricht von einer Mitte-Links-Stragie (Bündnis linker Reformer/Mittelschichten+Teile der nationalen Unternehmer), einer anti-neoliberalen Strategie sowie einem dritten Ansatz, bei dem der Ablehnung des Neoliberalismus, Antiimperialismus und Antikapitalismus das inhaltliche Gerüst explizit linker Bewegungen bilden.
Sozialdemokratische und sozialistische Reformparteien
Die brasilianische Arbeiterpartei (PT) und die Regierung von Luiz Inacio „Lula“ da Silva, die chilenische Concertación (v.a. Christdemokraten/Sozialisten) mit der 1/06 gewählten Sozialistin Michelle Bachelet als Präsidentin sowie die Regierung Uruguays unter Tabaré Vázquez sind die bedeutendsten Vertreter des Typus linker Reformregierung, die von linken Parlamentsparteien mit langjähriger Tradition, gefestigter Parteiorganisation und ausformulierter Programmatik getragen werden. Diese Parteien bzw. Bündnisse sind, so unterschiedlich ihre Geschichte und Zusammensetzung im Einzelnen auch sein mag, durch langjährige innerparteiliche Entwicklungsprozesse zu dem geworden, was sie heute sind. Sie haben Parlamentarismus und demokratische Werte als „conditio sine qua non“ internalisiert, fasst Teodoro Petkoff zusammen. Bevor sie die Regierungsverantwortung übernahmen, konnten sie in Großstädten und Regionen Amts- und Verwaltungserfahrungen sammeln. Diese Reformparteien sind insbesondere bei Beschäftigten der formellen Wirtschaft und in Mittelschichten stark verankert. Ihr Einfluss bei den Marginalisierten ist gering bzw. organisatorisch wenig untermauert. Auf Grund des überdurchschnittlich hohen Politisierungsgrades ihrer Anhängerschaft können diese Regierungen erfolgreich mit Erblast- und Sachzwangargumenten operieren. Nach Abflachen der Anfangseuphorie bzw. wenn wie im Falle der PT auch nach mehreren Jahren, bestenfalls geringe soziale Fortschritte zu verzeichnen sind und die Zustimmung sinkt, können das „Argument des kleineren Übels“, jenes der “gebundenen Hände“ oder „des nötigen „langen Atems““ ins Feld geführt werden, wie etwa bei Dawid Danilo Bartelt in seinem lesenswerten Übersichtsartikel „Die Regierung Lula und ihre linken Kritiker“ (Lateinamerika Jahrbuch 29, 2005). Derartige Diskurse können linken Parlamentsparteien mit solider Organisation und Verankerung unter Intellektuellen Zeit verschaffen. Dennoch sind Spannungen mit nahestehenden sozialen Bewegungen sowie Rückschläge bei Kommunal- und Zwischenwahlen wie im Falle der PT 2004 nahezu vorprogrammiert. An Einzelfragen kann es zur Konfrontationen zwischen Reformregierung und sozialen Bewegungen kommen. Auch Parteiaustritte, Abspaltungen oder die Gründung neuer Parteien wegen nicht eingehaltener sozialer Versprechen überraschen nicht. Solange jedoch nur eine Aufdifferenzierung und organisatorische Zersplitterung auf der linken Seite die Folge ist und keine Sammlung um eine neue, bessere Alternative rutscht die Linke insgesamt in die Bedeutungslosigkeit, während sich die Regierung bei den „einfachen Leuten, den am stärksten entpolitisierten Milieus“ eine neue Basis sucht (Emir Sader, Das Argument 262, 2005). Die PT wie auch andere sozialdemokratische/sozialistische Regierungen in Südamerika setzen auf eine Strategie der „Mitte-Links-Bündnisse“ wie sie vom einflussreichen mexikanischen Politikwissenschaftler Jorge Castaneda seit Mitte der 90er Jahre propagiert werden. Die Einbindung von Teilen der nationalen Bourgeoisie in Wahlallianzen führte zwar zu Stimmzuwächsen, jedoch gelang es nicht, die Mitte für „anti-neoliberale Positionen zu gewinnen“. Im Gegenteil wurde die „Linke auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik handzahm“, so Steve Ellner über den Schwachpunkt dieser Strategie (Das Argument 262, 2005).
National-populare Regierungen
Die „national-popularen Regimes“ unter Präsident Chávez in Venezuela, Kirchner in Argentinien und Morales in Bolivien sowie die Nicht-mehr bzw. Noch-nicht-Präsidenten Gutiérrez in Ecuador und Humala in Peru unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht von den Regierungen der parlamentarischen Linksparteien. Was ihre Rhetorik und politische Phraseologie anbelangt, ist sie radikaler anti-neoliberal. Die Symbolik ist vielfach betont national bzw. konfrontativ anti-amerikanisch. Dies schreckt Teile der Mittelschichten ab. Die Politikvermittlung durch Institutionen und Organisationen wird ersetzt durch symbolische Gesten, Medienpräsenz und Massenkommunikation von oben sowie Stassenmobilisierungen und variable Formen lokaler Zusammenschlüsse von unten, die jedoch ohne Einfluss auf die Gestaltung der Leitlinien bleiben. Die Anhängerschaft der linkspopulistischen Caudillos finden sich vorwiegend unter den Marginalisierten bzw. Schichten, die von den bisherigen Parteien politisch nicht repräsentiert waren (wie Indígenas, Cocaleros). Das Wahlverhalten dieser Schichten schwankt erheblich. Die heterogene Anhängerschaft ist organisatorisch wenig strukturiert und durch ein vorwiegend von Hoffnungen und Emotionen getragenes Gefolgschaftsverhältnis direkt an den charismatischen Lider gebunden. Die Beschäftigten der formellen Wirtschaftssektoren sowie ihre Interessensorganisationen wie Gewerkschaften und Gremien nehmen häufig eine abwartende Haltung ein. Die Bandbreite reicht von vorübergehenden Bündnissen mit Linkspopulisten bis hin zu erbitterter Opposition. Anders als in der klassischen Phase des Populismus im letzten Jahrhundert bilden Arbeiterschaft und Mittelschichten nicht die gesellschaftliche Hauptbasis der Linkspopulisten. Diese Rolle übernehmen die Marginalisierten. Ein weiterer Unterschied: linke Kritiker werden von Linkspopulisten heute nicht verfolgt oder gar gewaltsam bekämpft. Der fehlende organisatorische Unterbau national-popularer Regimes wird durch klientelistische Beziehungen ersetzt. Sofern die sozialen Hoffnungen der Anhängerschaft enttäuscht werden, können Linkspopulisten wie Gutiérrez in Ecuador schnell wieder in die Bedeutungslosigkeit absinken, da Rückschläge als Versagen des Liders verarbeitet werden und nicht als politische Probleme. Vermittlungsinstanzen und Puffer, wie sie Reformparteien in Gestalt ihrer Apparate zur Verfügung haben, welche enttäuschte Erwartungen verarbeiten und dadurch abmildern können, stehen Linkspopulisten nicht zur Verfügung. Hierin liegt ihre größte Schwäche. Das Zeitfenster, innerhalb dessen soziale Erfolge vorzuweisen sind, ist deshalb kürzer. Für die Stabilität des Regimes kommt der Trias von charismatischem Lider, emotionalisierender Rhetorik gegen (äußere) Feinde und ansteigenden Sozialtransfers entscheidende Bedeutung bei. Die phasenweise breite Massenunterstützung ist begründet im entschiedenen Anti-Neoliberalismus und dem Versuch der Re-Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten durch den Saat. Dies ist neben der Mitte-Links-Bündnis nach Steve Elllner der zweite strategische Ansatz der lateinamerikanischen Linken. Wenn neoliberale Logiken zurückgedrängt werden wie im Falle Venezuelas mit diversen regionalen Kooperationsprojekten bei Öl- und Ergas mit Staatskonzernen Südamerikas oder im Falle Argentiniens durch die kalkulierte Konfrontation mit internationalen Privatschuldnern, denen ein Forderungsverzicht von 62 Mrd US$ abgetrotzt wurde, so eröffnet dies zusätzliche Spielräume, die allen fortschrittlichen Varianten nutzen. Die Rückgewinnung der staatlichen Kontrolle über Naturressourcen wie Wasser und Gas, die in Bolivien auf der Tagesordnung steht, ginge in dieselbe Richtung.
Anti-systemische Bewegungen
Neben dem Sonderfall Kuba, der in diesem Rahmen nicht erörtert werden kann, gibt es unterhalb der Regierungsebene in einigen Ländern Lateinamerikas starke soziale Bewegungen, die sich nicht auf die Ablehnung des Neoliberalismus und graduelle Verschiebungen innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse beschränken, sondern auch antikapitalistische und antiimperialistische Elemente aufweisen. Dies ist laut Ellner die dritte Strategie derzeitiger Linkspolitik. Wegen ihres Charakters als Oppositionsbewegungen, die an den dringendsten sozialen Bedürfnissen ihrer Anhängerschaft ansetzen, stehen für sie wirkliche oder vermeintliche makroökonomische Sachzwänge nicht im Zentrum ihrer Politik. Die meisten Bewegungen formieren sich zur Abwehr weiterer Zumutungen. Sie sind gegen die Privatisierung von Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitsvorsorge etc.. Häufig regional verankert vereinen sie in breiten Bündnissen Marginalisierte, formell Beschäftigte und Mittelschichten bis hin zu örtlichen Kleinunternehmern alle wichtigen Kräfte, um den Ausverkauf bzw. die Verteuerung öffentlicher Dienstleitungen zu verhindern. Anne Tittor, die eine wertvolle Übersicht über „Soziale Kämpfe gegen die Privatisierung in Lateinamerika“ vorgelegt hat, betont „ihre Orientierung auf Partizipation (sozialer Bürgerschaft) und (sozialer) Demokratie“, die sich häufig in Mobilisierungen sowie über Referenden und Consultas manifestiert. Diese Bewegungen entstehen oft lokal, bieten Möglichkeiten sozialer Einigung und kollektiver Aktion, können sich radikalisieren und als Widerstandspotential gegen Privatisierung territorial und politisch ausweiten. Gewerkschaften und betroffene Bürgerschaft entwickelten den Protest vorbei an bestehenden Parteien und bauten ihn zu einer Vetomacht aus. In einigen Fällen wie in Uruguay, Bolivien, Peru oder El Salvador konnten konkrete Teilerfolge erzielt werden. Mehrfach bildeten diese Bewegungen das Rückgrat für den Sturz neoliberaler Präsidenten bzw. die Wählerinnenbasis für Oppositionskandidaten. In Bolivien entwickelte eine breite Anti-Privatisierungsbewegung eine offensive Stoßrichtung in Richtung Re-Nationalisierung der Gasvorkommen und trug mit Evo Morales einen Linkspopulisten ins Präsidentenamt. Andere wie die Landlosenbewegung Brasiliens (MST), der Indígena-Dachverband CONAIE in Ecuador und Campesino-Vereinigungen in Paraguay oder auch die Bewegung besetzter Betriebe in Argentinien setzen direkt an den Eigentumsverhältnissen an. Unabhängig von Parteien zielen massive Landbesetzungen, Betriebsbesetzungen oder Forderungen nach Agrarreformen auf die Umverteilung von Produktionsmitteln in die Hände der Produzenten. Zum Teil sprechen sich diese Bewegungen offen für ein System mit sozialistischem Charakter aus. Eine besondere Variante einer anti-systemischen ländlich-indianischen Basisbewegung stellen die Zapatisten dar. Ihre Orientierung auf Verweigerung an der Teilhabe institutioneller Macht, ihr Antiparlamentarismus und ihre Parteienfeindlichkeit, die vor dem korrupten Hintergrund mexikanischer Politik zu sehen sind, verleiht ihnen einen Nimbus von Prinzipientreue und moralischer Unangreifbarkeit, welche der internationalen Kritik an der neoliberalen Globalisierung Impulse verlieh. Antikapitalistische Organisationen gibt es in Lateinamerika derzeit vor allem in Form diverser trotzkistischer Strömungen und sozialistischer/kommunistischer Kleinparteien mit wenigen Prozent der Stimmen und geringem gesamtgesellschaftlichem Einfluss. Als antisystemische Guerillabewegung ist lediglich die ehemals prosowjetische FARC in Kolumbien bedeutend. Diese ist zwar militärisch stark, verfügt jedoch politisch nur über geringes Gewicht, da sie im Kampf Mittel einsetzt (z.B. Verbindungen mit Drogengeschäft; Entführungen und Ermordung von Zivilpersonen), die bei potentiellen Bündnispartnern auf Ablehnung stoßen.
Ausblick
Alles in allem dürften es vor allem die sozialen Bewegungen sein, welche die neoliberale Hegemonie erschütterten und mit ihren vielfältigen Aktivitäten den Raum für post-neoliberale Regierungskoalitionen öffneten. Eine Regierungsstrategie um der einfacheren Regierbarkeit willen diese Bewegungen zu kontrollieren, demobilisieren und zu spalten, würde momentane operative Vorteile bringen, auf mittlere Frist jedoch in die Sackgasse führen und alle Strömungen der Linken schwächen. Für die Zukunft der linken und linkspopulistischen Regierungen ist es entscheidend, wie sich diese Bewegungen weiter entwickeln und wie sich das Verhältnis Regierung/Bewegungen gestaltet. Eine an makroökonomischen Indikatoren orientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik steht in einem permanenten Spannungsfeld mit den Interessen, welche die Bewegungen vertreten. Auf der anderen Seite müssen die von breiten Mehrheiten gewünschten Kurskorrekturen auch in staatliche und überstaatliche Politik übersetzt werden. Ansonsten drohen oppositionelle Energien zu verpuffen. Eine qualitative Ausweitung der makroökonomischen Spielräume, das haben die Sorge des IWF vor weiteren Aufständen in Argentinien und die deshalb akzeptierte Schuldenstreichung ebenso gezeigt, wie die Verteidigung des weggeputschten Präsidenten Chávez auf der Straße und dessen nachfolgende Radikalisierung oder die Zugeständnisbereitschaft internationaler Energiemultis in Bolivien, ist nur in einer Wechselwirkung von Druck von der Straße und geschicktem Agieren reformbereiter Politiker zu erzielen. Fehlt ein Element, stehen im Hintergrund schon in mehreren Ländern starke Unternehmerpolitiker bereit, um Rückschläge der Linksregierungen auszunutzen.
Albert Sterr, Februar 2006
Dieser Artikel erschien in gekürzter Fassung in der Zeitschrift iz3w Nr. 292 - April/Mai 2006.
Literatur
Das Argument Nr. 262, Links-Regierungen unterm Neoliberalismus, Berlin, 2005
Dieter Boris/Stefan Schmalz/Anne Tittor (Hg), Lateinamerika: Verfall neoliberale Hegemonie?, Hamburg 2005
Jahrbuch Lateinamerika Nr. 29, Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster 2005
Nueva Sociedad Nr. 197, Caracas 2005
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